Ethik für Organisationen und Unternehmen
E-Book, Deutsch, 464 Seiten
ISBN: 978-3-451-83666-4
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Einführung
Über viele Jahre hinweg gab es in der Stadt Salzburg eine Initiative, die niederschwellige, unbürokratische und damit nicht-institutionalisierte finanzielle Unterstützung für Bedürftige anbieten wollte. Zuletzt hatte Initiator Max Luger einen »Fairshare«-Container im Zentrum der Stadt, in unmittelbarer Nähe zum Sitz des Bürgermeisters, betrieben. Alle, die Geld geben wollten, konnten ihn dort zu bestimmten Zeiten besuchen, alle, die in Geldnot waren, durften an seine Tür klopfen.1 Die Initiative enthält viele Lehrstücke über das Wirken und Walten von Institutionen. Max Luger ist bei der Errichtung seines Containers auch auf bürokratische Unterstützung angewiesen. Er erhält eine Bewilligung von Bürgermeister und zuständigem Stadtrat, er bekommt ein Grundstück zugewiesen, auf dem er den Container aufstellen kann. Damit er Strom in den Container legen kann, sind bestimmte Auflagen zu erfüllen. Dann beginnt er, an vier fixen Tagen zu fixen Zeiten, den Container zu öffnen. Diese stabilen Zeiten am stabilen Ort mit stabiler Funktion sind bereits Ausdruck einer gewissen elementaren Institutionalisierung. Luger will Lücken füllen, die das institutionalisierte Sozialsystem aufweist; bei Zwangsräumungen beispielsweise kann es zu dramatischen Situationen kommen, in denen Menschen durch alle Sicherungssysteme fallen und rasche Überbrückungshilfe brauchen. Ähnliches gilt für das Einklagen von nicht bezahlten Alimenten. Der Container bietet schnelle und unbürokratische Hilfe an, Geld wird über den Tisch verteilt, Menschen kommen ohne Termin, können jederzeit während der Öffnungszeiten auftauchen. Luger hat kein teures Büro (den Container hat er selbst bezahlt), keine Werbeausgaben, keine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Lugers Initiative reagiert damit auf die oft bittere Erfahrung, die Armutsbetroffene mit Institutionen machen müssen. Zum Beispiel: »Ich musste lange warten. Nach drei Stunden kam ich dran, da hatte ich schon sieben Zettel ausgefüllt, gefühlt hunderttausend Unterlagen. Und dann sagte mir die Mitarbeiterin ins Gesicht, dass ich nichts bekomme.«2 Luger ersetzt diese gesichtslose Hilfe von großen Institutionen (wie auch das roboterisierte Spenden durch Mausclicks) durch den persönlichen Kontakt. Die meisten Unterstützer sind Freunde und Bekannte, die Luger persönlich kennen, Vertrauen ist die Basis des Umverteilungsgeschäfts. Aber auch im Fall des Fairshare-Containers lässt sich Bürokratie nicht zur Gänze vermeiden. Luger macht sich Notizen, wenn er Gespräche mit Bedürftigen führt. »Der Verwaltungsaufwand ist minimal und doch schleicht sich Bürokratie in das Projekt ein … Die Namen der Spenderinnen und Spender und die gespendete Summe wird in eine ›Geberliste‹ eingetragen. Für jede Bittstellerin und jeden Bittsteller wird ein ›Stammdatenblatt‹ angelegt. Luger erfasst Basisinformationen wie Familienstand, Größe der Wohnung, Anzahl der Kinder oder Hintergrundinformationen zur Notlage.«3 Er arbeitet mit einem »gläsernen Konto«, sodass alle jederzeit sehen können, wie viel gespendet und wie viel ausgegeben worden ist. Er übernimmt auch alle Nebenkosten selbst, sodass er tatsächlich damit werben kann, dass jeder gespendete Euro direkt an Menschen in Geldnot weitergegeben wird. Und doch muss er, wie jede Institution, Regeln einführen und sich an Regeln halten: Luger muss ein Kategoriensystem einführen und Prioritäten klären; die ersten drei Kategorien sind: (1) Unfälle, schwere Krankheiten oder hohe Medikamentenkosten; (2) Alleinerziehende, die wegen unterlassener Unterhaltszahlungen klagen; (3) zerbrochene Familien, meist in Verbindung mit Drogensucht. Er muss sich also überlegen, wo die Wirkung des Geldes am größten ist.4 Luger unterstützt Wohnungslose nicht, da es in Salzburg eine Reihe von Organisationen gibt, die dies tun. Er will also »Unterstützungsnischen« bewohnen und auf nicht entsprechend abgedeckte Notlagen antworten. Und er tut dies mit Kategorien, die, zumindest implizit, zwischen »ordentlicher und würdiger Armut« und anderen Armutsformen unterscheiden lassen. Diese Regeln sind selbstredend Ansätze einer Institutionalisierung. Hier deutet sich auch eine Arbeitsteilung an ? Lugers Initiative kann Lücken schließen, die von staatlichen Einrichtungen oder großen Hilfsorganisationen nicht abgedeckt werden. Und gleichzeitig ist das Sozialnetz auf die großen Einrichtungen angewiesen. Lugers niederschwellige Initiative kann rasch an Grenzen kommen, etwa durch: Dauernotlagen, Betrug, Vernetzung, Gewalt. Luger will keine Stamm- und Dauergäste. Das Konzept zielt auf einmalige oder wenigstens seltene Hilfe im Ausnahmefall ab. So muss Max Luger einer Frau erklären, dass er ihr nicht regelmäßig helfen kann. Sie ist Alleinerzieherin mit einem behinderten Kind, der Mann ist gewalttätig, das Pflegegeld reicht nicht.5 Da tun sich strukturelle Defizite auf, die Lugers private Initiative nicht abfangen kann. Hier bringen ihn Menschen, die sich in verfestigten Armutslagen befinden, an Grenzen. Betrug: Luger bekommt auch Lügen aufgetischt: die verlorene Geldtasche, der verlorene Mantel mit Reisegeld; eine Betrügerin aus Deutschland erzählt, dass sie von ihrem Freund auf die Straße gesetzt worden sei.6 Ein drogenabhängiger Mann täuscht eine Krebserkrankung vor.7 Die Initiative, die auf Vertrauen beruht, will nicht in den Abgrund von dauerhaftem Misstrauen gedrängt werden. Es fehlt aber an Kontrollmechanismen. Vernetzung: Menschen in Not sind gut vernetzt. Es spricht sich herum, was Luger anbietet und welche Geschichten erfolgversprechend sind. Armutsbetroffene Menschen sind gezwungen, Lebenskünstler zu sein und sich nach dem Angebot zu strecken. Das kann rasch zur Überforderung der doch überschaubaren Mittel kommen. Luger kann nur verteilen, was er hat. Schließlich, tragischerweise, zeigt sich auch Gewalt als eine Grenze. Jeder und jede kann zu den Öffnungszeiten den Container betreten. Hier gibt es keine Pforte, kein Sicherheitspersonal, Geld ist zugänglich. Max Luger wird von einem jungen drogensüchtigen Mann überfallen und niedergeschlagen.8 Durch das Trauma des Überfalls kommt die Initiative an ein Ende. Auch dieses Ende ist eine Lektion in Institutionenforschung. Institutionen können sich besser auf die »worst case«-Szenarien vorbereiten als eine private Initiative. Ein höherer Grad an Institutionalisierung kann die Aktivitäten, um die es geht, besser schützen und verfestigen. Die Frage, der sich Max Luger gestellt hat, bleibt: Gutes tun ohne Bürokratie ? wie geht das? Diese simple Frage führt in den Kern der Ethik von Institutionen. Wie unterstützen Institutionen das gelebte Gute? Wo werden Institutionen zum Hindernis und Stolperstein auf dem Weg zu Menschlichkeit und Solidarität? Gehen wir von Salzburg nach Toronto: Die New York Times berichtet in ihrer Ausgabe vom 16. April 2021 von Khaleel Seivwright, der in Toronto mit der Hilfe von 40 ehrenamtlich Tätigen und beträchtlichen Spendengeldern mehr als hundert einfache Holzunterkünfte für Wohnungslose errichtete. Der Anfang war ein Moment der Menschlichkeit: Khaleel sah die Zelte am Rand der Straße und wollte angesichts der sinkendenden Temperaturen zum Anfang des Winters etwas tun, um menschenwürdigen Lebensbedingungen eine Chance zu geben. So errichtete er eine einfache Holzbox mit einem Fenster, installierte einen Rauchmelder und klebte einen Zettel an die Außenwand: Jede:r ist hier willkommen.9 Die kleinen »Häuser« wurden auf öffentlichen Flächen, etwa in Parks, aufgestellt. Khaleel Seivwright hatte selbst die Erfahrung von Wohnungslosigkeit gemacht, als er auf einer großen Baustelle in der Nähe von Vancouver arbeitete und während eines Zeitraums von fünf Monaten in einem Zelt in einem großen Park nahe dem Burnabysee hauste. Die Einsicht, dass ein Zelt kein angemessenes »Dach über dem Kopf« ist, war im Falle von Herrn Seivwright erlittenes Erfahrungswissen. Die Stadtverwaltung in Toronto war nicht amüsiert, erklärte die Unterkünfte für illegal und nicht den Sicherheitsstandards angemessen und verfügte Delogierungen. Khaleel Seivwright wurde aufgefordert, das Errichten von derartigen Notunterkünften zu unterlassen. Camping in Parks sei gesetzeswidrig. Gegen diese Entscheidung und dieses Vorgehen regte sich wiederum der Widerstand der Zivilgesellschaft. Gutes tun trotz der Bürokratie: geht das? Das Hauptargument der Stadtverwaltung Torontos ist das Argument der Ordnung. Menschliches Zusammenleben muss Regeln unterworfen sein, also einer bestimmten Ordnung folgen, um langfristig reibungsarm funktionieren zu können. Phänomene wie »Wildwuchs im öffentlichen Raum« und »dauerhafte Übernahme von öffentlichen Räumen für private Zwecke« erodieren die Ordnung. Und hier gilt immer auch das Argument von den »gefährlichen Anfängen« ? wenn einmal eine Tatsache geschaffen wird (eine Behausung in einem Park), werden weitere Tatsachen im Sinne des Vorbildeffekts folgen ? und wo führt diese Entwicklung hin? Gleichzeitig ist die Frage nach den Alternativen zu stellen ? über 80 000 Menschen sind auf einer Warteliste für geförderte Wohnungen in Toronto erfasst. Sollen sie in Zelten leben? Die Kapazität der städtischen Obdachlosenheime reicht nicht aus, zudem sind sie (wiederum im Sinne der notwendigen Ordnung) klaren Regeln unterworfen. Welche Rolle sollen Institutionen im Zusammenleben von Menschen...