E-Book, Deutsch, 0 Seiten
Sedaris Nackt
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-641-13567-6
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Verlag: Heyne
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David Sedaris, geboren 1956 in Johnson City, New York, aufgewachsen in Raleigh, North Carolina, lebt in England. Er schreibt u. a. für den New Yorker und BBC Radio 4. Mit seinen Büchern Naked, Fuselfieber, Ich ein Tag sprechen hübsch und Schöner wird's nicht wurde er zum Bestsellerautor. Zuletzt erschienen im Blessing Verlag Das Leben ist kein Streichelzoo. Fiese Fabeln (2011), Sprechen wir über Eulen - und Diabetes (2013), Calypso (2018) und Bitte lächeln! (2023) sowie seine vielbeachteten Tagebücher Wer's findet, dem gehört's (2017) und Kleine Happen (2023).
Autoren/Hrsg.
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Rauchfleisch (Chipped Beef)
Ich erwäge, die Dienstboten zu ersuchen, dass sie mein Kleingeld polieren, bevor sie es in das chinesische Aquarium tun, welches ich auf der Frisierkommode stehen habe. Es ist wichtig, sauberes Geld zu haben –, nicht neu, aber gepflegt. Das ist einer der Glaubenssätze meiner Kirche. Es handelt sich da nicht um meine persönliche Kirche, sondern um die Kirche, welche ich mit meiner Familie besuche: die Kathedrale der Funkelnden Natur. Sie ist jenes gewaltige Bauwerk mit den Türmen und Glocken und Statuen, welche gemeines Volk darstellen, die sich anschicken, von den Zinnen zu springen. Es werden auch Führungen veranstaltet und an jedem ersten Sonntag im Oktober ist Tag der offenen Tür. Kommen Sie doch auch mal! Aber lassen Sie Ihren Fotoapparat zu Hause, denn das Blitzlicht macht die Pferde scheu, und das stellt für mich und meine Eltern eine furchtbare Bedrohung dar, besteht der Pfarrer doch darauf, dass wir unsere Plätze in der ersten Bankreihe einnehmen. Unlängst rief er uns an, beschwipst – er ist ein kleiner Schluckspecht –, und sagte, unsere Gesichter führten ihn näher an Gott heran. Und es stimmt, wir sind schrecklich gutaussehende Menschen. Das Profil meiner Mutter ziert die neuen Schwebebahn-Wertmünzen, und was meinen Vater und mich betrifft, so planen die Leutchen bei der NASA eine Mondkapsel, die nach unserer Schädelform konstruiert werden soll. Unsere Wangenknochen sind äronautisch und unsere Kinngrübchen haben ein Fassungsvermögen von bis zu drei Dutzend Luftgewehrkugeln gleichzeitig. Auf Befragen antworten die meisten Menschen, meine Haut sei mein größter Aktivposten, weil sie – was sie tatsächlich tut! – strahle. Ich muss mir die Augen mit einer Socke verbinden, um nachts einschlafen zu können. Andere mögen meine Augen oder meine vollkommenen, schimmernden Zähne, mein volles Haar oder meine beeindruckende Gestalt, aber wenn Sie Wert auf meine Meinung legen, so finde ich meine hervorstechendste Eigenschaft die Fähigkeit, ein Kompliment zu ertragen.
Weil wir so schlau sind, können meine Eltern und ich durch Menschen hindurchgehen, als wären sie aus hartem, klarem Kunststoff. Wir wissen, wie sie nackt aussehen, und können das verzweifelte innere Getriebe ihrer Herzen, Seelen und Eingeweide sehen. Jemand quatscht mich mit »Na, wie läuft’s, Großer?«, an, und ich kann seinen Neid riechen, sein unbeholfen tastendes Verlangen, meine Zuwendung durch eine beiläufige und unangemessene Volkstümlichkeit zu erringen, bei der sich mir vor Mitleid der Magen umdreht. Wie läuft’s; wenn ich das schon höre. Sie wissen nichts über mich und meine Art zu leben und die Welt wimmelt von solchen Leuten.
Nehmen Sie zum Beispiel den Pfarrer, mit seinen zitternden Händen und seiner wächsernen Hauthülle. Er ist nicht komplexer als eins dieser fünfteiligen Holz-Puzzles, die man Idioten und Schulkindern gibt. Er möchte, dass wir in der ersten Reihe sitzen, damit wir die anderen Kirchgänger nicht ablenken, die sich sonst ständig auf ihrer Bank umdrehen, sich den Hals verrenken würden, um unsere physische und spirituelle Schönheit zu bewundern. Unsere gute Erziehung verzaubert sie und sie wollen aus erster Hand sehen, wie wir mit unserer Tragödie fertigwerden. Wohin wir auch gehen, überall stehen meine Eltern und ich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. »Sie sind’s! Seht nur, dort ist der Sohn! Berührt ihn, grabscht nach seinem Schlips, nach einer Locke von seinem Haupthaar, nach irgendwas!«
Der Pfarrer hatte gehofft, er würde, wenn er seine Predigt zu Pferde hielt, ein wenig Aufmerksamkeit zurückerlangen, aber selbst mit Lasso und einem Gespann tänzelnder Clydesdale-Kaltblüter war sein Plan zum Scheitern verurteilt. Immerhin blickt jetzt, da wir in der ersten Reihe sitzen, die Gemeinde nach vorn und das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Wenn es dazu dient, die Menschen näher an Gott heranzuführen, kauern wir auch gern auf den Orgelpfeifen, oder wir schnallen uns an das original Cromargan-Kreuz, welches über dem Altar hängt. Wir würden so ziemlich alles tun, denn bei aller Unbill, die wir jüngst durchlitten, besteht unsere vornehmste Pflicht darin, anderen zu helfen. Die Innenstädtische Picknick-Stiftung, unsere jährliche Sternfahrt »Kampf dem Kopfweh!«, das der Nachsorge bei Polo-Verletzungen gewidmete Seitengebäude im hiesigen Allgemeinen Krankenhaus – : Unsummen stiften wir für wohltätige Zwecke, doch werden Sie uns nie darüber reden hören. Wir geben anonym, denn die Waschkörbe voller Dankschreiben, in unbeholfener Handschrift und hoffnungsloser phonetischer Orthographie abgefasst, brechen uns schier das Herz. Wenn sich herumspricht, dass wir großzügig und gutaussehend sind, wird der Platz vor unserem Portal hast-du-nicht-gesehen zum Zeltplatz für Moderedakteure und verkrüppelte Kinder, die mit ihren spitzen Krücken den Rasen ruinieren. Nein, man tut, was man kann, aber mit so wenig Fanfare wie möglich. Sie werden uns nie von Festwagen herunterwinken oder neben Seiner Exzellenz, dem Großen Brimborius, einhermarschieren sehen, denn damit würden wir nur die allgemeine Aufmerksamkeit auf uns lenken. Ja, man sieht die Schranzen, wie sie dies tagaus, tagein betreiben, aber so was ist billig und närrisch und eines Tages werden sie die Folgen ihrer Narretei zu büßen haben. Sie hungern nach etwas, wovon sie nichts wissen, wir dagegen, wir wissen nur zu gut, dass der Preis des Ruhms der Verlust des Privatlebens ist. Öffentliche Zurschaustellung von Glück ermuntert nur die vielen Entführer, welche die beraubten Grundstücke unserer besseren Wohngegenden durchstreifen.
Als es meine Schwestern erwischte, zerknüllte mein Vater die Lösegeldforderung und warf sie in die ewige Flamme, welche neben dem mumifizierten Pilgervater brennt, den wir im Speisesaal unseres Sommerhauses in Olfactory aufbewahren. Wir verhandeln nicht mit Kriminellen; das ist in unserem Charakter nicht angelegt. Hin und wieder denken wir an meine Schwestern und hoffen, dass es ihnen gut geht, aber wir halten uns nicht länger damit auf, da dies nur den Entführern nützt. Fürs erste sind meine Schwestern zwar weg, aber, wer weiß, vielleicht kehren sie eines Tages zurück, vielleicht wenn sie älter sind und selbst Familie haben. Bis dahin lebe ich als Einzelkind und einziger Erbe des nicht unbedeutenden elterlichen Vermögens. Einsam? Manchmal. Mir bleiben immer noch Mutter und Vater, sowie, natürlich, die Dienstboten, von denen einige außerordentlich schlau sind, wenn man einmal von ihren schiefen Zähnen und mangelhaften Manieren absieht. Erst neulich war ich mit Duncan im Stall, als …
»Lass doch endlich um des lieben Himmels willen«, sagte meine Mutter und tunkte wild ihren Holzlöffel in einen Kessel mit Rinderbrühe aus geschnittenem Rauchfleisch, »diese verdammte Katze zufrieden, bevor ich dich auch noch kratze. Es ist schon schlimm genug, dass du sie aufgerüscht hast wie eine Zweidollarhure. Zieh ihr das Kostüm aus und lass sie los, bevor sie auch noch abhaut wie die Katze davor.«
Mit der freien Hand rückte ich meine Brille zurecht und erinnerte sie daran, dass die Katze davor von einem Auto überfahren worden war.
»Sie hat sich absichtlich überfahren lassen«, sagte meine Mutter. »Es war ihr einziger Ausweg und du hast sie mit deinem Scheißdreck über die Kennedys und dass du mit ihnen Hochrippe gespeist hättest oder worüber du an dem Tag gerade gejammert hast, in den Tod getrieben. Jetzt lass sie endlich los. Danach möchte ich, dass du in den Hintergarten rennst und deine Schwestern aus dem Graben holst. Bei der Gelegenheit kannst du auch deinen Vater suchen. Wenn er nicht unter seinem Auto liegt, arbeitet er wahrscheinlich an der Klärgrube. Sag ihnen, sie sollen ihren Arsch zu Tisch bewegen, oder sie kriegen meine gottverdammte Faust zum Abendessen.«
Es war nicht so, dass wir arm gewesen wären. Meinen Eltern zufolge waren wir weit davon entfernt, nur nicht weit genug, um meine Bedürfnisse zu befriedigen. Ich wollte eben lieber ein Haus mit einem Burggraben statt mit einem Zaun. Um nachts einigermaßen schlafen zu können, brauchte ich einen nach uns benannten Flughafen.
»Du bist ein Snob«, sagte meiner Mutter immer. »Da hast du dein Problem, schön handlich verpackt. Ich bin unter Menschen wie dir aufgewachsen und weißt du was? Ich konnte sie nicht ausstehen. Niemand konnte sie ausstehen.«
Egal was wir hatten – das Haus, die Autos, die Ferien –, es war nie genug. Irgendwo war ein schrecklicher Fehler gemacht worden. Das Leben, das ich führen musste, war eine einzige Zumutung, aber nie gab ich die Hoffnung auf, dass eines Tages meine echte Familie auftaucht und mit weißbehandschuhtem Finger auf den Klingelknopf drückt. Dann schreien alle: »Ach, Graf Meißelkinn« und schmeißen zur Feier des Tages ihre Zylinderhüte hoch in die Luft, »Gott sei Dank, dass wir Sie endlich gefunden haben.«
»Das wird nie geschehen«, sagte meine Mutter. »Glaub mir, wenn ich hätte ein Baby stehlen wollen, hätte ich eins genommen, das mich nicht jedesmal zusammenscheißt, wenn ich meine Jacke auf dem Sofa liegenlasse. Ich weiß auch nicht, wie es passiert ist, aber du bist mein Sohn. Wenn das für dich so eine Enttäuschung ist, stell dir einfach mal vor, wie es mir geht.«
Wenn meine Mutter einkaufen ging, lungerte ich oft vor dem Laden herum. Ich hoffte, wohlhabende Eheleute würden mich in ihren Kofferraum stopfen. Zunächst würden sie mich eine bis zwei Stunden lang foltern, aber sobald sie erführen, dass ich mit Golfschlägern umzugehen verstand, würden sie meine Fesseln lösen und mich als Fleisch von ihrem Fleische...