Sebald | Generalisierung und Sinn | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Sebald Generalisierung und Sinn

Überlegungen zur Formierung sozialer Gedächtnisse und des Sozialen
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7445-0887-2
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Überlegungen zur Formierung sozialer Gedächtnisse und des Sozialen

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-7445-0887-2
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



In modernen Gesellschaften zeigt sich empirisch ein komplexes Geflecht von unterschiedlichen und hochgradig differenzierten Formen sozialer Bezugnahmen auf Vergangenes. Diese Formen können als soziale Gedächtnisse konzipiert werden. Obwohl solche zeitlichen Referenzen elementarer Bestandteil aller Sinnvollzüge sind, bleibt der Begriff des Gedächtnisses in den Sozialwissenschaften theoretisch meist randständig oder nur auf explizite Erinnerungsvorgänge beschränkt. Das Ziel der Überlegungen ist zum einen die Verankerung des Gedächtnisbegriffes in den Grundbegriffen einer sozialwissenschaftlichen Beschreibung von Gesellschaft und zum anderen die Erarbeitung eines begrifflichen Instrumentariums, das die vielfachen wechselseitigen Bezüge zwischen Gedächtnisformen auf unterschiedlichen Ebenen des Sozialen zu beschreiben gestattet. Das geschieht durch die Integration von phänomenologischen, wissenssoziologischen und systemtheoretischen Theoriebeständen. Als Grundbegriffe fungieren Generalisierung und Sinn, die in ihren unterschiedlichen Formen, ihrer Genese, ihrem Gebrauch und ihren Wechselwirkungen auf den unterschiedlichen sozialen Ebenen der individuellen Akteure, der Situation und der transsituativen Ordnungen untersucht werden.

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2 Grundbegriffe I: Generalisierung
Ein erster Zugang zu dem Phänomen soziales Gedächtnis erfolgt über den Begriff der Erfahrung und das aus drei Gründen: erstens übergreift er den Erlebnisbegriff (§ 11), zweitens kann über die zeitliche Struktur des erfahrenden Weltzugangs von sozialen Einheiten eine Verbindung zu Gedächtnissen hergestellt werden, drittens schließlich bietet er Anschlussmöglichkeiten für den Sinnbegriff (Kap. 3). Es geht im Folgenden nicht um eine vollständige Rekonstruktion des Erfahrungsbegriffes, sondern darum, bestimmte Elemente dieses Begriffes herauszuarbeiten, die für eine Theorie von sozialen Gedächtnissen wichtig sind. § 10 Begriffe: Gedächtnis und Formierung Gedächtnis fasse ich als die basale Operation, die gegenwärtig ablaufenden Prozessen, Sinnvollzügen, verarbeitetes Vergangenes zur Verfügung stellt. Soziale Gedächtnisse stellen entsprechend sozial verarbeitetes Vergangenes oder verarbeitetes vergangenes Soziales zur Verfügung. Das heißt, auch genuin individuelle Gedächtnisse können als soziale Gedächtnisse fungieren und tun das auch. Als umfassenden Begriff für die Gedächtnisinhalte schlage ich Wissen vor. Der gegenwärtige Sinnvollzug muss keineswegs eine Rekonstruktion von Vergangenem beinhalten (das wäre explizite Erinnerung als evokativer und expliziter Vergangenheitsbezug, vgl. Ricœur 2004: 55 ff.). Es genügt die Integration von verarbeitetem, generalisiertem Vergangenen in den aktuellen Sinnvollzug. Erinnerung ist dagegen der selektive und rekonstruktive Zugriff auf das verarbeitete Vergangene, der Versuch, ein vergangenes Ereignis zu rekonstruieren. Die Vergangenheit selbst, das erfahrungs- und strukturbildende Ereignis bleibt unzugänglich.13 Aus der Selektivität von Gedächtnissen folgt, dass Gedächtnisse als Einheit von Wissen und Erinnerung mehr Wissen »auf Lager« haben als gerade aktualisiert wird. Sie lassen sich entsprechend differenzieren in einen fungierenden und einen latenten Bestandteil, wobei diese Trennung insofern dynamisch ist, als sie sich mit jeder neuen Operation verschiebt. Die unterschiedlichen Formen von Gedächtnissen auf individueller wie auf sozialer Ebene unterscheiden sich hinsichtlich der Formen der Generalisierung des Vergangenen und hinsichtlich der sozialen Ebene, auf der sie sich formieren. Formierung meint sowohl den Prozess des in-Form-Setzens, der Evolution und der Stabilisierung von Ordnung als auch die aktive, formierende Wirkung, die sich in jeder Aktualisierung vollzieht. Formierung unterscheide ich von Konstitution, die Vorgänge auf der Ebene des Bewusstseins bezeichnet,14 einerseits und der Konstruktion andererseits, die auf der sozialen Ebene eine aktiv Herstellung bezeichnet, etwa in Form von wissenschaftlichen Konstruktionen. 2.1 Erfahrung und Typus
§ 11 Erfahrung und Erlebnis Um die Weisen des vorwissenschaftlichen (und wissenschaftlichen) Weltzugangs zu beschreiben, stehen aus phänomenologischer Perspektive vor allem zwei Begriffe zur Verfügung: Erfahrung und Erlebnis. Beide sollen kurz auf eine Eignung für eine theoretische Fassung von Gedächtnisphänomenen geprüft werden. »Erfahrung« verweist im üblichen Alltagsgebrauch auf in praktischer Tätigkeit oder in Wiederholung gewonnenes Wissen, auf Routine. Ähnlich verwendet bereits Aristoteles den Begriff ?µpe???a: »Aus der Erinnerung entsteht nämlich für die Menschen Erfahrung; denn viele Erinnerungen an denselben Gegenstand bewirken das Vermögen einer Erfahrung, und es scheint die Erfahrung der Wissenschaft und Kunst fast ähnlich zu sein.« (Aristoteles 1995: 980 b) Erfahrung ist die Vertrautheit mit einer Sache, die im wiederholten Umgang in unterschiedlichen Situationen gewonnen wird. Der Erfahrungsbegriff betont damit einerseits die Zeitlichkeit des von ihm benannten Prozesses und zum anderen den Verarbeitungscharakter des Erfahrenen. Mit der Entwicklung der neuzeitlichen Naturwissenschaft verschiebt sich die Bedeutung des Erfahrungsbegriffes auf den Prozess und die Methoden der Gewinnung von sicherem Wissen. Verstärkt durch den logischen Empirismus wirkt diese Begriffsverwendung bis in die heutigen Sozialwissenschaften fort: Erfahrung oder Empirie stehen in der positivistischen Tradition ganz allgemein nur noch für die Ergebnisse von Erhebungen (vgl. zum Vorstehenden Kambartel 1972). In Absetzung von diesem Erfahrungsbegriff der Naturwissenschaften entwickelte sich im 19. Jahrhundert der Begriff des Erlebnisses und setzte sich im Anschluss an Dilthey auch in der phänomenologischen Tradition durch.15 Damit wurde zum einen die Unmittelbarkeit des Weltzugangs betont, zum anderen die Verbindung zum emphatisch gebrauchten Begriff des Lebens und zum dritten aufgrund der präsentistischen Struktur der Ereignischarakter des so bezeichneten Weltzugangs betont. »Das Erlebnis hat eine betonte Unmittelbarkeit, die sich allem Meinen und Bedeuten entzieht. Alles Erlebte ist Selbsterlebtes, und das macht seine Bedeutung mit aus, daß es der Einheit dieses Selbst angehört und somit einen unverwechselbaren und unersetzlichen Bezug auf das Ganze dieses einen Lebens enthält. Insofern geht es wesensmäßig in dem nicht auf, was sich von ihm vermitteln und als seine Bedeutung festhalten läßt.« (Gadamer 1990: 72) Ein Erlebnis enthält immer einen Überschuß über jedwede Form seiner reflexiven Erfassung. Das gilt insbesondere für die begriffliche Erfassung eines Erlebnisses, aber cum grano salis auch für die begriffliche Erfassung einer nicht-sprachlichen Erfahrung. Im Falle des Erlebnisses wird mit dieser Irreduzibilität das zweite Begriffselement deutlich: der emphatische Bezug auf das Leben, auf das unerreichbare Ganze des Daseins. Leben in diesem Sinne lässt sich nicht auf die Natur reduzieren, so stellen Dilthey und Bergson fest. Dilthey begründet damit die historisch-hermeneutische Methode, die letztlich auf die Erlebniseinheiten im Bewusstsein zurückgeht. Mit der Unmittelbarkeit wird das dritte Begriffselement von »Erlebnis« angesprochen: die präsentistische Komponente und der einmalige Ereignischarakter. Trotz des Horizontbezugs auf die Ganzheit des Lebens sind Erlebnisse nicht temporal differenziert wie Erfahrungen, sondern je spezifisch in ihrer ereignishaften Besonderheit – als Erlebnis – herausgehoben. Diese drei Elemente, Unmittelbarkeit, Emphase und Ereignischarakter und die damit verbundene zumindest teilweise Unzugänglichkeit des Erlebnisses, sprechen gegen eine Verwendung des Erlebnisbegriffs in den Überlegungen zu sozialen Gedächtnissen und legen stattdessen den Erfahrungsbegriff nahe. Erfahrung kann dann in einem ersten Schritt gefasst werden als das wiederholende, die einzelnen Ereignisse des Weltzugangs übergreifend verarbeitende und in diesem Sinne sedimentierte Ergebnis dieser Ereignisse, als Vorrat an Wissen, der aktuell für die Prozessierung von weiteren Erfahrungen zur Verfügung steht. Das verweist auf die zeitliche Struktur der Erfahrung, die für die Explikation des Gedächtnisbegriffs zentral ist. Für eine eingehendere Diskussion dieses Sachverhalts erfolgt der Rückgang auf Husserl. § 12 Die zeitliche Struktur der Erfahrung Husserl hat aus der Kritik am positivistischen Erfahrungsbegriff der Naturwissenschaften den Erfahrungsbegriff neu bestimmt: »Erfahrung [ist] das Bewußtsein bei den Sachen selbst zu sein, sie ganz direkt zu erfassen und sie zu haben. […] Erfahrung ist die Leistung, in der für mich als Erfahrenden erfahrenes Sein da ist, und als was es da ist, mit dem ganzen Gehalt und dem Seinsmodus, den ihm eben die Erfahrung selbst durch die in ihrer Intentionalität sich vollziehende Leistung zumeint« (Husserl 1992b: 94). Wahrnehmung, der »Urmodus der Anschauung« (Husserl 1992b: 166; Husserl 1962: 107), wird für Husserl zum paradigmatischen Modus der Erfahrung, die sich zwar gegenwärtig vollzieht, aber innerhalb der zeitlichen Strukturen des Bewußtseins verarbeitet wird: »Die kontinuierliche Abwandlung der Retention geht bis an einen wesensmäßigen Limes fort. Das sagt, mit dieser intentionalen Abwandlung geht auch eine Gradualität der Abgehobenheit Hand in Hand, und eben diese hat ihre Grenze, in der das vordem Abgehobene in den allgemeinen Untergrund verfließt in das sogenannte Unbewußte, das also nichts weniger als ein phänomenologisches Nichts ist, sondern selbst ein Grenzmodus des Bewußtseins. Auf diesen Hintergrund der sedimentierten Abgehobenheiten, der als Horizont alle lebendige Gegenwart begleitet und seinen kontinuierlich wechselnden Sinn in der Weckung zeigt, bezieht sich die ganze intentionale Genesis zurück« (Husserl 1992b: Beilage II, 318 f.). Für Husserl hat die Erfahrung demnach zwei zeitliche Flanken, zum einen die Verarbeitung des Anwesenden, die intentionale Konstitution und Abwandlung im Absinken, und zum anderen die horizonthafte Anwesenheit des Abwesenden, der sedimentierten Abgehobenheiten, die geweckt werden können. Erinnerung als der dazu komplementäre Vorgang ist der aktuelle, passive und/oder aktive Akt der Weckung aus diesem Horizont heraus. Die zweite zeitliche Flanke wäre das Vergessen, das Verschwinden von Besonderheiten in den Sedimentierungen. Zeitlichkeit ist...


Dr. Gerd Sebald lehrt und forscht am Institut für Soziologie der FAU Erlangen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Soziale Gedächtnisse, soziologische Theorie, Wissenssoziologie (nicht zuletzt die Alfred Schütz-Werkausgabe) und Mediensoziologie.



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