E-Book, Deutsch, 721 Seiten
Scianna Sonderzug nach Moskau
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-406-82211-7
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Geschichte der deutschen Russlandpolitik seit 1990
E-Book, Deutsch, 721 Seiten
ISBN: 978-3-406-82211-7
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Seit dem 24. Februar 2022 steht die deutsche Russlandpolitik vor einem Scherbenhaufen. Ihre Strategien sind gescheitert. Ihre Grundüberzeugungen erschüttert. In Deutschland und international wird heftig über sie gestritten. War sie von Anfang an verfehlt? Wie weit reichte der Einfluss Russlands und seiner Netzwerke? Befand sich die Bundesrepublik auf einem Sonderweg? Bastian Matteo Scianna hat bislang unzugängliche Archivbestände ausgewertet und legt die erste wissenschaftlich fundierte Aufarbeitung zu einem der umstrittensten Themen der deutschen Zeitgeschichte vor.
Bastian Matteo Scianna hatte Zugang zu unbekanntem Archivmaterial aus dem In- und Ausland, unter anderem zu den Akten des Kanzleramts unter Helmut Kohl, zu den Protokollen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion oder Gesprächsmitschriften aus britischen und amerikanischen Quellen. Seine grundlegende Analyse zeigt, dass die Geschichte viel komplexer ist als manchmal dargestellt. Die deutsch-russischen Beziehungen waren besonders und genossen einen hohen Stellenwert. Es fuhr daher ein Sonderzug nach Moskau. Doch stand die Bundesrepublik in Europa keineswegs allein und war nicht nur "blind und naiv", wie manche Kritiker behaupten. Andere Länder glaubten ebenfalls an «Wandel durch Handel» und wollten mit Russland zusammenarbeiten: Die "Utopie der Verflechtung" war keinesfalls ausschließlich Made in Germany. Auch andernorts folgte man internationalen Interessen und erkannte zugleich die Grenzen des eigenen Einflusses auf die Entscheidungen des Kremls. Dass Deutschland heute so stark in der Kritik steht, ist trotzdem teilweise gerechtfertigt: Denn man hatte keinen Plan B und keine Strategie für den Ernstfall. Die Bundeswehr verkümmerte. Die Ukraine wurde nicht aufgerüstet. Dialog, Entspannung und Einbindung waren noble Versuche, die aber ohne eine glaubwürdige Abschreckungspolitik in der Luft hingen und am Ende zusammen mit energiepolitischen Irrwegen die Sicherheit Europas gefährdeten.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Einleitung
Ein Eierlikör ging noch. Im Dezember 2004 saßen im Hamburger Hotel «Atlantic» zu später Stunde drei Männer in trauter Runde beisammen: der deutsche Bundeskanzler, ein bekannter Sänger und der russische Präsident. Gerhard Schröder, Udo Lindenberg und Wladimir Putin waren bestens gelaunt.[1] Sie tranken und lachten. Schröder und Putin – bis heute unzertrennlich. Lindenberg ist auch ein enger Freund Schröders, der bei Hochzeiten und Geburtstagen stets zugegen war.[2] Er wurde in die Kulturdiplomatie eingebunden, sollte beim Aufbau des deutsch-russischen Jugendwerkes mitwirken und verteidigte Putin nach der völkerrechtswidrigen Krim-Annexion 2014 gegen Kritik.[3] Lindenberg besang einst den Sonderzug nach Pankow, doch in der wechselvollen deutsch-russischen Geschichte fuhren häufig auch andere Sonderzüge. 1917 gelangte Lenin aus seinem schweizerischen Exil über das Gebiet des Deutschen Kaiserreiches nach St. Petersburg und trat dort die Russische Revolution los. 1945 kam Stalin mit dem Zug nach Potsdam, um über das Schicksal des im Zweiten Weltkrieg besiegten Deutschlands zu entscheiden. 1955 fuhren Teile der bundesdeutschen Delegation mit einem Sonderzug nach Moskau, um die Beziehungen zur UdSSR zu normalisieren und die letzten 10.000 Kriegsgefangenen aus sowjetischen Lagern freizubekommen.[4] 1970 fuhr die junge DDR-Schülerin Angela Kasner mit dem «Zug der Freundschaft» nach Moskau – 2005 wurde sie deutsche Bundeskanzlerin. 2011 eröffnete die neue Direktverbindung Paris-Berlin-Moskau, auf der fünfmal pro Woche ein Sonderzug verkehrte. Seit der Vollinvasion Russlands am 24. Februar 2022 müssen westliche Besucher mit Sonderzügen in das von Bomben und Raketen heimgesuchte Kyjiw fahren. Während des Kalten Krieges und nach 1991 waren die deutschen Beziehungen nach Moskau immer etwas Besonderes – wie ein Sonderzug der Definition nach eben auch. Das Land war zu wichtig, um es wie jedes andere zu behandeln. Ihm einfach den Rücken zudrehen? Undenkbar. Auf irgendeine Art und Weise musste man Russland besondere Aufmerksamkeit schenken, egal wie man die dortige innenpolitische Lage und das außenpolitische Verhalten des Kremls beurteilte. Doch spätestens seit dem 24. Februar 2022 steht die deutsche Russlandpolitik auf dem Prüfstand – war man auf einen Sonderweg abgeglitten? Der russische Angriff auf die Ukraine, der eine Fortsetzung des Krieges von 2014 ist, bricht erneut das Völkerrecht. Die europäische Sicherheitsarchitektur liegt ebenso in Trümmern wie die einst blühenden ukrainischen Städte. Die Hoffnung eines Wandels durch Annäherung und Verflechtung, die Erwartungen an die «Modernisierungspartnerschaft», der Glaube an ein friedliches und demokratisches Russland – nichts davon ist eingetreten. Das alte deutsche Mantra, wonach Frieden und Sicherheit in Europa nur mit und nicht gegen Russland möglich sei, musste ad acta gelegt werden. Im Zuge dieses Bewusstseinswandels sind immer wieder Forderungen nach einer «Aufarbeitung» vorgetragen worden – die oft wieder verpufften. Wo sind die Forschungscluster oder fächerübergreifenden Drittmittelprojekte, die die deutsche Russlandpolitik in all ihren Facetten untersuchen und europäisch vergleichen? Es gibt sie nicht. Eine systematische wissenschaftliche Erforschung deutscher Außenpolitik findet trotz Zeitenwende weiterhin nur in geringem Maße statt. Eine «Aufarbeitung» soll die folgende Darstellung nicht sein, denn sie ist keine Schuldsuche oder Verurteilung einzelner Politiker. Vielmehr soll der erste Versuch einer wissenschaftlichen Vermessung der deutschen Russlandpolitik seit 1990 unternommen werden. Sie ist überfällig. Bislang stechen drei Bücher aus der Feder von Journalisten hervor. Jörg Himmelreich betont in der Russland-Illusion die falschen Grundannahmen der deutschen Russlandpolitik und das Festhalten an eben jenen, trotz der Entwicklungen in Russland.[5] Thomas Urban hat vor allem die fehlende Beachtung der Ostmitteleuropäer kritisiert.[6] Die Moskau-Connection von Reinhard Bingener und Markus Wehner veranschaulichte auf eindrückliche Art und Weise den Einfluss informeller Netzwerke und die Verknüpfung zwischen Landes-, Partei-, Außen- und Wirtschaftspolitik.[7] Daraus ging deutlich hervor, dass es zumindest für diesen Kreis keine Illusion war, sondern eine bewusste Hinwendung zu Russland. Daneben traten zwar eine Vielzahl von Veröffentlichung über Russland, aber nur wenige, meist kürzere Aufsätze über die deutsche Russlandpolitik.[8] Darstellungen, die auch die deutsche Politik gegenüber Polen, dem Baltikum oder der Ukraine detailliert nachzeichnen, liegen fast gar nicht vor. Der erhobene Vorwurf einer «Russlandfixiertheit der deutschen Außenpolitik»[9] scheint auch Folgen für die Wissenschaft gezeitigt zu haben. Die bisherige Debatte wurde als «ahistorisch und lückenhaft»[10] bezeichnet. Sie gleicht vor allem im öffentlichen Raum in Teilen einer nachträglichen «Abrechnung» mit Angela Merkel oder einer beinahe boulevardhaften Befassung mit Gerhard Schröder. Der Politologe Andreas Heinemann-Grüder hat bereits festgestellt, dass die ersten Versuche einer Deutung nicht als wohlfeile Kritik aus der Gegenwart daherkommen, sondern Leerstellen identifizieren und Lehren ziehen sollten.[11] Oder wie Wolfgang Schäuble es in seinen Erinnerungen eher undiplomatisch ausdrückte: «Im Nachhinein unbedingt besser zu wissen, wie politisch hätte gehandelt werden können, gehört zu der Form von Klugscheißerei, die schon im Privaten nur schwer erträglich ist. Dass in der Vergangenheit nicht alles richtig gemacht wurde, ist offensichtlich. Ein anklagender Moralismus bleibt jedoch im Ausblenden aller Zeitumstände unhistorisch und ist dadurch oft selbstgerecht.»[12] Trotz der Empörung und Wut über Putin, trotz der russischen Verbrechen und trotz aller Sympathie für die Ukraine, muss ein objektiver Blick auf die deutsche Russlandpolitik geworfen werden. Eine wissenschaftliche Analyse muss ohne konstruierte Pfadabhängigkeiten, ohne Aktivismus und ohne teleologische Argumentationsmuster durch einen (Rück-)Blick durch das Prisma des 24. Februar 2022 auskommen. Es muss kontextualisiert und verglichen werden. Das Ziel ist, politische Entscheidungen auf Basis des damaligen Kenntnisstandes zu erklären und zu verstehen, nicht pauschal zu verurteilen. Schon vor der russischen Vollinvasion in der Ukraine plädierte der Historiker Stefan Creuzberger dafür, sich auf die «Frage des Verstehens» einzulassen und bemängelte, wie «sehr in dieser öffentlichen Kontroverse die maßgeblichen historischen Bezugspunkte abhandengekommen sind».[13] Russlandpolitik fand nie in einem luftleeren Raum statt, sondern muss im Gesamtkontext der deutschen Außen- und Innenpolitik betrachtet werden. Wie beeinflusste etwa der Kampf gegen den internationalen Terrorismus oder die Finanzkrise den Umgang mit Russland? Welche Rolle spielten innenpolitische Determinanten, wie etwa die Haltung der Bevölkerung oder die Koalitionsarithmetik? Zudem greift ein Blick nur auf die deutsche Russlandpolitik zu kurz: Die Beziehungen zu Russland fanden über den bilateralen Rahmen hinaus in einem europäischen und transatlantischen Kontext statt. Wie gingen die Europäische Union (EU), die USA, Frankreich, Großbritannien, Polen oder Italien mit dem Kreml um? War die deutsche Russlandpolitik eher die Norm oder eine Ausnahme? Wann beschritt man einen Sonderweg? Die Europäisierung der deutschen Russlandpolitik und das Wechselspiel der bilateralen mit der europäischen und transatlantischen Ebene ist der Schlüssel zum Verständnis der Entwicklungen der letzten 30 Jahre. Jeder Vergleich schärft den Blick auf den deutschen Fall, ohne dadurch unkritisch zu sein. Eine Betrachtung der «Ostpolitik» bedingt ebenso eine Analyse der «Westpolitik». Wie wirkten sich die verschiedenen Formen des Anti-Amerikanismus und der NATO-Skepsis auf die Beziehungen nach Moskau aus? Es muss daher, wie der Politikwissenschaftler Joachim Krause bereits festgestellt hat, die «Bündnispolitik» einbezogen werden, also wie die Russlandpolitik das deutsche Verhalten im Verbund der EU und der NATO beeinflusst und übergeordnete bündnispolitische Interessen ausbalanciert oder gar geschadet haben...