E-Book, Deutsch, Band 5, 143 Seiten
Reihe: Dr. Junkie
Band 5: Cannabis und Lachgas
E-Book, Deutsch, Band 5, 143 Seiten
Reihe: Dr. Junkie
ISBN: 978-3-911008-17-4
Verlag: mainbook Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stefan Schweizer studierte, promovierte und lehrte an der Universität Stuttgart. Er lebt im Speckgürtel der Bundeshauptstadt, bewegt sich gerne in fremden Kulturen, in exotischen subkulturellen Milieus und ist Grenzgänger zwischen den Scenes. Veröffentlichungen (Auswahl): 'Berliner Werwolf' (Krimi, mainbook 2024), 'Seitenwende' (Thriller gemeinsam mit Gerd Fischer, mainbook 2023), 'Schall & Rausch - Der Graskönig von Berlin' (gemeinsam mit Martin Müncheberg, Cannabis-Krimi 2022), Thriller-Trilogie 'Götterdämmerung', 'Siegfried' und 'WalhallaX' (mainbook 2021-2023) gemeinsam mit Autor Michael Seitz, 'Mörderklima' (Klimawandel-Krimi, mainbook, 2020), '50 Jahre RAF' (Südwestbuch, 2019), 'Goldener Schuss' (Gmeiner, 2015).
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
2.
Potsdam, 18. Dezember 2023
Auf dem weißen Lehrerpult, der beinahe so alt wie der Untergang der DDR ist, steht ein karger Adventskranz, aus dem in der Mitte eine rote Kerze herausragt. In der ehemaligen Grundschule für besonders anständige Sozialisten der Landeshauptstadt Potsdam, der Max-Dortu-Schule, pflegen sie die sozialistischen Traditionen der Deutschen Demokratischen Republik noch in den 2020er Jahren der bundesrepublikanischen Wirklichkeit. Aber an der fest im kapitalistischen System verankerten Weihnachtszeit kommt niemand vorbei, denn kein noch so gefestigter atheistischer Lehrer möchte sich den Unmut der aus dem Westen zugezogenen Eltern zuziehen. Frau Schindler baut sich vor dem Pult auf. Ihr Körper ist über einen Meter achtzig groß und sie wirkt hager. „Jetzt singen wir ein Weihnachtslied aus dem mitteldeutschen Kulturkreis“, sagt sie und schüttelt die kurzen, blond gefärbten Haare, die keinen gesunden Eindruck machen. „‚Guten Abend, schönen Abend, es weihnachtet sehr‘“, verkündet sie und der Widerwillen gegen ihre eigene Ansage ist spürbar und ihr Körper steht völlig unter Strom, das Ganze so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Die vier Jahrzehnte Schuldienst haben sichtbare Spuren hinterlassen. Die 6. Klasse, die als Vorzeigeklasse der Schule gilt, stimmt nach den ersten paar Takten ins Lied mit ein, aber Hippos Lippen kleben, wie mit Sekundenkleber behaftet, aufeinander und beben. In seinem Kopf herrscht ein Wirrwarr an Gedanken. An Klarheit oder Entschlusskraft ist nicht zu denken. Noch nie hat er sich so einsam und verloren gefühlt. Sein Leben ist dabei, ins Unscharfe zu verschwimmen und er fragt sich verzweifelt, wo er den dringend benötigten Halt finden kann. Er spürt die Abwesenheit seiner Mutter, und jeder Tag ohne sie macht es schlimmer. Seine Mutter war es, die dem Weihnachtsfest den nötigen Hauch an Leben, Liebe und Heiligkeit verlieh. Er denkt an die jedes Jahr mit Sorgfalt und fantastischem Ideenreichtum festlich geschmückte Wohnung. Dieses Jahr Fehlanzeige, denn Papa hat nicht einmal die Kisten mit dem Weihnachtsplunder aus dem Keller geholt. Und sobald er ihn darauf anspricht, möchte er nichts davon hören. Sein Vater und Hygieia erwähnen die Adventszeit mit keiner Silbe und leben, als ob nichts Besonderes sei. Dabei ist Weihnachten das Fest aller Feste. Überhaupt vermisst er die soziale Interaktion, denn er hat den Eindruck, seine Schwester und sein Vater ziehen ihr Ding durch, und er ist ihnen reichlich egal. Nur bei seiner Mutter fühlt er sich nicht als fünftes Rad am Wagen. Die Stimmen seiner Klassenkameraden und die schiefen Töne schwellen an und verursachen Kopfschmerzen. „Nicht alle scheinen wegen des bevorstehenden Winterfests Freude zu empfinden“, sagt die Lehrerin mit gerunzelter Stirn. „Was ist los, Hippo? Du bist doch sonst immer Feuer und Flamme, wenn es um die Feierstunde vor dem christlichen Fest ging.“ Die Klasse dreht sich zu ihm um und starrt ihn wie ein Alien an. „Entschuldigung“, sagt er und die Klasse bricht in Gelächter aus. Frau Schindler nickt und kann sich ein höhnisches Grinsen nicht ganz verkneifen. „Schon gut“, meint sie, „du erhältst eine neue Chance. Wir singen zum Abschluss ‚Macht hoch die Tür‘.“ Es fehlt nicht viel, um das Maß vollzumachen, denn bei diesem Lied erinnert er sich voller Wehmut daran, dass Christine in der Kirche fest seine Hand umklammert und innig drückt. Dann fühlt er sich seiner Mutter sehr nah und er glaubt, die Anwesenheit Gottes, Jesus und des Heiligen Geists zu spüren. Er möchte in den Chor miteinstimmen, aber der Kloß im Hals geht nicht weg. Tatsächlich kommt ein heiseres Krächzen aus dem Hals. Malte, sein Nebensitzer, beginnt fies zu lachen. „Was ist denn mit dir los?“, flüstert er. Obwohl er sich Mühe gibt, gelingt ihm nur ein weinerliches Flüstern: „Nichts.“ Keine Schwäche zeigen. Keinen Einblick ins Seelenleben gewähren, das so verwüstet ist, wie ein Atoll nach einer Wasserstoffbombendetonation. „Jetzt weißt du, wie es ist, wenn sich Eltern scheiden lassen“, stichelt Malte. Malte gehört zu den 75 % der Klasse, deren Eltern mindestens einmal geschieden sind und sich mit anderen geschiedenen Eltern und deren Kindern zusammengewürfelt haben. „Halt die Klappe!“, zischt Hippo. Malte sieht das anders und flüstert in sein linkes Ohr. „Das hast du Arsch von deiner hochnäsigen Art und Angeberei, mit deinem ach-so-großartigen Papa, dem Arzt mit der eigenen Hausarztpraxis, deiner heiligen Mutter, die so blöd ist an Gott zu glauben und nichts Besseres zu tun hat, als ständig in die Kirche zu rennen. Deine Alte flippt bei jedem Elternabend aus, weil es an der Schule keinen Religionsunterricht gibt, hihihi.“ Damit ihm die Hand nicht ausrutscht, steckt Hippo die geballten Hände in die Hosentasche. „Halt die Fresse, meine Familie ist die beste und alles ist in Ordnung“, behauptet er trotzig. „Kümmere dich um deinen eigenen …“ „Haha“, lacht Malte. „Du Opfer. Willkommen im Club. Wieso sollte es dir besser als anderen ergehen?“ „Halt die Schnauze!“, befiehlt Hippo. „Großartig, große Klasse“, sagt die Lehrerin zum Abschluss und spendet ihren Schülern Applaus. „Ich finde es vorbildlich, dass auch unsere nicht christlichen Schüler mitsingen, denn Weihnachten ist ein Fest wie jedes andere auch. Und Feste bedeuten Gemeinschaft, Nähe und Liebe. Und Toleranz.“ Die Sätze der alten Schachtel brennen sich in sein Gedächtnis ein. Die Aussage mit dem „normalen“ Fest ist grundfalsch, denn Weihnachten ist das Fest aller Feste, so hat es ihm seine Mutter beigebracht. Von Gemeinschaft, Nähe und Liebe fühlt er sich so weit entfernt wie ein Eisbär vom Surferstrand. Vor Verzweiflung nimmt er einen auf dem Tisch liegenden Filzstift und kaut darauf herum, bis das Plastik zersplittert. Dann dreht er den Stift herum und malt sich die Zunge mit der blauen Seite an. „Hippo“, hört er Frau Schindler, musst du deine Stifte verspeisen?“ Die Klasse wiehert los und manche klopfen sich auf die Schenkel. „Wir haben doch ein Weihnachtsbuffet aufgebaut, da kannst du dich gleich sattessen.“ Tatsächlich stehen auf den vordersten zwei Bänken Kuchen, Teller mit Plätzchen, belegte Brötchen und weihnachtsspezifische Süßigkeiten wie Dominosteine, Christstollen und so weiter. Daneben gibt es Orangensaft, Apfelsaft, sogar eine Flasche Vita-Cola, nur Energy-Drinks sind strikt verboten. „Wir stellen uns von zwei Richtungen an und ich möchte kein Gedrängel“, erklärt die Lehrerin im nörgeligen Tonfall. „Links von mir ist die Getränkeschlange und rechts die fürs Essen. Bitte holt euch das eine, geht zum Platz zurück, stellt es ab und dann holt ihr euch das andere. Bitte passt auf und macht keine Sauerei!“ Trotz der Anweisungen entsteht Chaos, jeder will der erste sein und die besten Happen abgreifen. Nur Hippo bleibt wie festgeklebt auf dem Platz sitzen. Seine Fäuste sind geballt und er ist fest entschlossen, dem nächsten, der ihm blöd kommt, eine zu scheuern. Der Lärm, den die Mitschüler verursachen, ist zu viel, das hält er nicht aus, er muss raus. Raus! Aus den Augenwinkeln nimmt er wahr, dass Frau Schindler auf ihn zukommt. Sein Herz verkrampft sich. „Hippo“, flüstert Frau Schindler unnötigerweise, denn die Schlacht ums Kuchenbuffet ist dermaßen intensiv, dass ohnehin niemand die Situation wahrnimmt. „Ist alles okay bei dir?“ Er hält den Blick gesenkt – unmöglich der Frau in die Augen zu schauen. „Hippo, ich rede mit dir. Gib mir eine Antwort.“ Er möchte losheulen und der Frau sein Herz ausschütten. Der Druck im Kopf nimmt zu, die Fäuste sind fest geballt und er hat das Gefühl, zu explodieren. „Hippo, bist du da? Hallo!“ Sie rüttelt an den Schultern, was Brechreiz verursacht. „Lassen Sie mich los!“, kriegt er schließlich heraus und hebt den Blick. Erschrocken tritt Frau Schindler einen Schritt zurück. „Wie du möchtest“, antwortet sie, „ich wollte dich nicht erschrecken. Du kannst immer zu mir kommen, wenn du etwas bereden möchtest.“ Hippo nickt, während Frau Schindler zum Pult zurückgeht und feststellt, dass alle Schüler außer Hippo sich mit Trinken und Essen eingedeckt haben. Sie blickt auf die Uhr und stellt voller Verdruss fest, dass die Stunde noch nicht aus ist. „Jetzt reden wir darüber, was wir in den Weihnachtsferien vorhaben“, sagt sie und reibt sich die Hände. „Also, ich werde mich aufs Sofa zurückziehen und endlich mal wieder in Ruhe ein Buch lesen. Da freue ich mich drauf. Wer von euch möchte beginnen? Ah, Ayshe, bitte …“ „Meine Familie und ich fliegen heim in die Türkei“, erzählt die Mitschülerin. „Da feiern wir ein großes Fest, aber nicht Weihnachten.“ Die Lehrerin nickt und lächelt. „Wir schmücken den Weihnachtsbaum, meine Mama backt viele Plätzchensorten, kocht leckere Sachen und dann sind wir alle so satt, dass wir uns nicht einmal vom Sofa bewegen können“ – Arndt, ein Rich-Kid, das beliebt ist, wie die wohlwollenden Lacher der Klassenkameraden bezeugen. „Soso, hm, interessant. Geht jemand Ski-Fahren?“ Julika meldet sich und manche in der Klasse murren, weil das ökopolitisch nicht korrekt ist und Edelsozialisten an der Schule nicht hoch im Kurs stehen. „Hippo, was macht ihr in den Ferien?“ – Frau Schindler bemerkt den Fehler erst zu...