Verfall und Wiederaufbau der Kultur. Kultur und Ethik
E-Book, Deutsch, Band 1150, 356 Seiten
Reihe: Beck'sche Reihe
ISBN: 978-3-406-70091-0
Verlag: C.H.Beck
Format: PDF
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Weitere Infos & Material
1;Cover;1
2;Titel;2
3;Zum Buch;3
4;Über den Autor;3
5;Über den Herausgeber;3
6;Impressum;4
7;Inhalt;5
8;Widmung;12
9;Vorbemerkung;13
10;Danksagung;13
11;Band I: Verfall und Wiederaufbau der Kultur;11
11.1;I. Die Schuld der Philosophie an dem Niedergang der Kultur;15
11.1.1;Der Zusammenbruch der die Kulturideale begründenden Weltanschauung;15
11.1.2;Das Unelementare des modernen Philosophierens;18
11.2;II. Kulturhemmende Umstände in unserem wirtschaftlichen und geistigen Leben;22
11.2.1;Das Überbeschäftigtsein und die Ungesammeltheit des modernen Menschen;22
11.2.2;Die Unvollständigkeit und Humanitätslosigkeit des modernen Menschen;25
11.2.3;Die geistige und ethische Unselbständigkeit des modernen Menschen;28
11.3;III. Der ethische Grundcharakter der Kultur;33
11.3.1;Begriff der Kultur;33
11.3.2;Die Entstehung der nichtethischen Auffassung der Kultur;35
11.3.3;Unser Wirklichkeitssinn;36
11.3.4;Unser geschichtlicher Sinn;38
11.3.5;Der Nationalismus als Ergebnis unseres Wirklichkeitssinns und unseres geschichtlichen Sinns;40
11.3.6;Kultur und nationale Kultur;43
11.3.7;Unser falsches Vertrauen auf die Tatsachen und die Organisationen;45
11.3.8;Der wahre Wirklichkeitssinn;47
11.4;IV. Der Weg zur Regeneration der Kultur;49
11.4.1;Von der Unkultur zur Kultur;49
11.4.2;Das Kraftloswerden von Kulturidealen. Das Auf und Nieder in der Geschichte der Kultur;52
11.4.3;Reform der Institutionen und Reform der Gesinnungen;53
11.4.4;Die Schwierigkeiten der Kulturerneuerung;55
11.5;V. Kultur und Weltanschauung;59
11.5.1;Erneuerung der Weltanschauung und Regeneration der Kultur;59
11.5.2;Denkende Weltanschauung. Rationalismus und Mystik;62
11.5.3;Die optimistisch-ethische Weltanschauung als Kulturweltanschauung;66
11.5.4;Die Erneuerung unserer Gedanken durch das Denken über den Sinn des Lebens;68
12;Band II: Kultur und Ethik;73
12.1;Widmung;74
12.2;Vorrede;75
12.3;I. Die Krise der Kultur und ihre geistige Ursache;89
12.3.1;Das Materielle und das Geistige der Kultur;89
12.3.2;Kultur und Weltanschauung;93
12.4;II. Das Problem der optimistischen Weltanschauung;98
12.4.1;Abendländische und indische Auffassung der Kultur;98
12.4.2;Der Kampf um die optimistische Weltanschauung;99
12.4.3;Optimismus und Pessimismus;101
12.4.4;Optimismus, Pessimismus und Ethik;103
12.5;III. Das ethische Problem;105
12.5.1;Die Schwierigkeiten der ethischen Erkenntnis;105
12.5.2;Die Bedeutung des Denkens über Ethik;106
12.5.3;Das Suchen nach dem Grundprinzip des Sittlichen;108
12.5.4;Religiöse und philosophische Ethik;110
12.6;IV. Religiöse und philosophische Weltanschauung;112
12.6.1;Die Weltanschauung der Weltreligionen;112
12.6.2;Die Weltanschauung der Weltreligionen und die des abendländischen Denkens;114
12.7;V. Ethik und Kultur in der griechisch-römischen Philosophie;116
12.7.1;Die Anfänge. Sokrates;116
12.7.2;Epikureismus und Stoizismus. Resignationsethik;119
12.7.3;Platos abstraktes Grundprinzip des Sittlichen. Weltverneinungsethik;123
12.7.4;Aristoteles. Tugendlehre statt Ethik;125
12.7.5;Das Ideal des Kulturstaates bei Plato und Aristoteles;129
12.7.6;Seneca, Epiktet, Marc Aurel;134
12.7.7;Ethische Aussprüche Senecas, Epiktets und Marc Aurels;136
12.7.8;Die optimistisch-ethische Weltanschauung des Spätstoizismus;139
12.8;VI. Optimistische Weltanschauung und Ethik in der Renaissance und der Nachrenaissance;143
12.8.1;Fortschrittsglaube und Ethik;143
12.8.2;Christliches und Stoisches in der neuzeitlichen Ethik;146
12.9;VII. Begründung der Ethik im siebenzehnten und achtzehnten Jahrhundert;151
12.9.1;Hartley, Holbach. Hingabe als aufgeklärter Egoismus;151
12.9.2;Hobbes, Locke, Helvetius, Bentham;155
12.9.3;Altruismus als natürliche Anlage. Hume, Smith;159
12.9.4;Die englische Ethik der Selbstvervollkommnung;163
12.9.5;Shaftesbury. Optimistisch-ethische Naturphilosophie;165
12.10;VIII. Grundlegung der Kultur im Zeitalter des Rationalismus;168
12.10.1;Mentalität und Leistungen des ethischen Fortschrittsglaubens;168
12.10.2;Hemmungen der Reformbewegung. Die Französische Revolution;176
12.10.3;Das Wankendwerden der rationalistischen Weltanschauung;178
12.11;IX. Die optimistisch-ethische Weltanschauung bei Kant;182
12.11.1;Vertiefte, aber inhaltlose Ethik;182
12.11.2;Versuch einer ethischen Weltanschauung;186
12.12;X. Naturphilosophie und Weltanschauung bei Spinoza und Leibniz;191
12.12.1;Spinoza. Versuch einer optimistisch-ethischen Naturphilosophie;191
12.12.2;Leibniz. Optimistisch-ethische Weltanschauung neben Naturphilosophie;196
12.13;XI. J. G. Fichtes optimistisch-ethische Weltanschauung;199
12.13.1;Spekulative Philosophie und Gnostizismus;199
12.13.2;Fichtes spekulative Begründung der Ethik und des Optimismus;200
12.13.3;Die Undurchführbarkeit der Fichteschen Tätigkeitsmystik;205
12.14;XII. Schiller. Goethe. Schleiermacher;209
12.14.1;Schillers ethische und Goethes naturphilosophische Weltanschauung;209
12.14.2;Schleiermachers Versuch ethischer Naturphilosophie;211
12.15;XIII. Hegels überethische optimistische Weltanschauung;214
12.15.1;Die Ethik in Hegels Natur- und Geschichtsphilosophie;214
12.15.2;Hegels überethische Weltanschauung. Sein Fortschrittsglaube;217
12.16;XIV. Der spätere Utilitarismus. Biologische und sozialwissenschaftliche Ethik;222
12.16.1;Beneke. Feuerbach. Laas. Comte. Stuart Mill;222
12.16.2;Darwin und Spencer;225
12.16.3;Die Schwächen des biologischen und sozialwissenschaftlichen Utilitarismus;227
12.16.4;Sozialwissenschaftliche Ethik und Sozialismus. Mechanistischer Fortschrittsglaube;231
12.17;XV. Schopenhauer und Nietzsche;236
12.17.1;Schopenhauer. Ethik der Welt- und Lebensverneinung;236
12.17.2;Absorbierung der Ethik durch die Welt- und Lebensverneinung;241
12.17.3;Nietzsches Kritik der geltenden Ethik;244
12.17.4;Nietzsches Ethik der höheren Lebensbejahung;246
12.18;XVI. Der Ausgang des abendländischen Ringens um Weltanschauung;250
12.18.1;Akademische Ethiker. Sidgwick, Stephen, Alexander, Wundt, Paulsen, Höffding;250
12.18.2;Selbstvervollkommnungsethik. Kant-Epigonen. Cohen, Herrmann;252
12.18.3;Selbstvervollkommnungsethik. Martineau, Green, Bradley, Laurie, Seth, Royce;253
12.18.4;Naturphilosophie und Ethik. Fouillée, Guyau, Lange, Stern;255
12.18.5;Naturphilosophie und Ethik bei Eduard von Hartmann;261
12.18.6;Naturphilosophie und Ethik bei Bergson, Chamberlain, Keyserling, Haeckel;265
12.18.7;Die Agonie der optimistisch-ethischen Weltanschauung;268
12.19;XVII. Der neue Weg;271
12.19.1;Die Undurchführbarkeit der optimistisch-ethischen Weltanschauung;271
12.19.2;Die Unabhängigkeit der Lebensanschauung von der Weltanschauung;273
12.20;XVIII. Die Begründung des Optimismus aus dem Willen zum Leben;277
12.20.1;Das pessimistische Ergebnis des Erkennens;277
12.20.2;Die Weltund Lebensbejahung des Willens zum Leben;280
12.21;XIX. Das Problem der Ethik auf Grund der Geschichte der Ethik;285
12.21.1;Ethik der Hingebung oder Ethik der Selbstvervollkommnung?;285
12.21.2;Ethik und Erkenntnistheorie. Ethik und Naturgeschehen. Das Enthusiastische der Ethik;288
12.21.3;Ethik der ethischen Persönlichkeit und Ethik der Gesellschaft;291
12.21.4;Das Problem der vollständigen Ethik;293
12.22;XX. Ethik der Hingebung und Ethik der Selbstvervollkommnung;295
12.22.1;Die Erweiterung der Hingebungsethik ins Kosmische;295
12.22.2;Ethik der Selbstvervollkommnung und Mystik;298
12.22.3;Abstrakte Mystik und Mystik der Wirklichkeit. Überethische und ethische Mystik;303
12.23;XXI. Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben;306
12.23.1;Das Grundprinzip des Sittlichen;306
12.23.2;Resignationsethik. Ethik der Wahrhaftigkeit gegen sich selbst und tätige Ethik;312
12.23.3;Ethik und Gedankenlosigkeit. Ethik und Selbstbehauptung;314
12.23.4;Mensch und Kreatur;317
12.23.5;Die Ethik des Verhaltens von Mensch zu Mensch;318
12.23.6;Persönliche und überpersönliche Verantwortung. Ethik und Humanität;322
12.24;XXII. Die Kulturenergien der Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben;329
12.24.1;Die Kultur als Leistung der Ehrfurcht vor dem Leben;329
12.24.2;Die vier Ideale der Kultur. Der Kampf um den Kulturmenschen im Maschinenzeitalter;331
12.24.3;Kirche und Staat als historische Größen und als Kulturideale;337
12.24.4;Die Versittlichung der religiösen und politischen Gemeinschaft;339
13;Nachwort. Von Claus Günzler;345
14;Register;353
I. DIE SCHULD DER PHILOSOPHIE AN DEM NIEDERGANG DER KULTUR
Wir stehen im Zeichen des Niedergangs der Kultur. Der Krieg hat diese Situation nicht geschaffen. Er selber ist nur eine Erscheinung davon. Was geistig gegeben war, hat sich in Tatsachen umgesetzt, die nun ihrerseits wieder in jeder Hinsicht verschlechternd auf das Geistige zurückwirken. Die Wechselwirkung zwischen dem Materiellen und dem Geistigen hat einen unheilvollen Charakter angenommen. Unterhalb gewaltiger Katarakte treiben wir in einer Strömung mit unheimlichen Strudeln dahin. Nur mit der ungeheuersten Anstrengung werden wir, wenn überhaupt noch Hoffnung vorhanden ist, das Fahrzeug unseres Geschickes aus dem gefährlichen Nebenarm, in den wir es abtreiben ließen, in den Hauptstrom zurückbringen. Wir kamen von der Kultur ab, weil kein Nachdenken über Kultur unter uns vorhanden war. An der Jahrhundertwende erschienen, unter den mannigfachsten Titeln, eine Reihe von Werken über unsere Kultur. Als gehorchten sie einer geheimen Parole, gingen sie nicht darauf ein, den Stand unseres Geisteslebens festzustellen, sondern interessierten sich ausschließlich dafür, wie es geschichtlich geworden sei. Auf einer Reliefkarte der Kultur zeichnete man uns beobachtete und erfundene Wege ein, die in Berg und Tal des geschichtlichen Geländes aus der Renaissance zum zwanzigsten Jahrhundert führten. Der historische Sinn der Verfasser feierte Triumphe. Die von ihnen belehrte Menge empfand Befriedigung, ihre Kultur als das organische Produkt so vieler, durch Jahrhunderte hindurch wirkender geistiger und sozialer Kräfte begriffen zu haben. Niemand aber nahm das Inventar unseres Geisteslebens auf. Niemand prüfte es auf Adel der Gesinnung und auf Energie zum wahren Fortschritt. So überschritten wir die Schwelle des Jahrhunderts mit unerschütterten Einbildungen über uns selbst. Was in jener Zeit über unsere Kultur geschrieben wurde, bestärkte uns in dem unbefangenen Glauben an ihren Wert. Wer Bedenken äußerte, wurde erstaunt angesehen. Manche, die auf dem Wege zum Irrewerden waren, hielten inne und lenkten wieder auf die große Straße zurück, weil sie vor dem abseits führenden Pfade Angst hatten. Andere wandelten ihn, aber schweigend. Die Einsicht, die an ihnen arbeitete, weihte sie der Vereinsamung. Nun ist für alle offenbar, daß die Selbstvernichtung der Kultur im Gange ist. Auch was von ihr noch steht, ist nicht mehr sicher. Es hält noch aufrecht, weil es nicht dem zerstörenden Drucke ausgesetzt war, dem das andere zum Opfer fiel. Aber es ist ebenfalls auf Geröll gebaut. Der nächste Bergrutsch kann es mitnehmen. Welches aber war der Vorgang bei dem Kraftloswerden der Kulturenergien? Die Aufklärungszeit und der Rationalismus hatten ethische Vernunftideale über die Entwicklung des Einzelnen zum wahren Menschentum, über seine Stellung in der Gesellschaft, über deren materielle und geistige Aufgaben, über das Verhalten der Völker zueinander und ihr Aufgehen in einer durch die höchsten, geistigen Ziele geeinten Menschheit aufgestellt. Diese ethischen Vernunftideale hatten angefangen, sich in der Philosophie und in der öffentlichen Meinung mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen und die Verhältnisse umzugestalten. Im Laufe von drei oder vier Generationen waren Fortschritte sowohl an Kulturgesinnung wie an Kulturzuständen in einem Maße verwirklicht worden, daß die Zeit der Kultur definitiv angebrochen und in unaufhaltbarem Weitergehen begriffen schien. Aber um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts fing diese Auseinandersetzung ethischer Vernunftideale mit der Wirklichkeit an abzunehmen. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte kam sie mehr und mehr zum Stillstand. Kampflos und lautlos vollzog sich die Abdankung der Kultur. Ihre Gedanken blieben hinter der Zeit zurück, als wären sie zu erschöpft, mit ihr Schritt zu halten. Wie ging dies zu? Das Entscheidende war das Versagen der Philosophie. Im achtzehnten und im beginnenden neunzehnten Jahrhundert war die Philosophie die Anführerin der öffentlichen Meinung gewesen. Sie hatte sich mit den Fragen, die sich den Menschen und der Zeit stellten, beschäftigt und ein Nachdenken darüber im Sinne der Kultur lebendig erhalten. In der Philosophie gab es damals ein elementares Philosophieren über Mensch, Gesellschaft, Volk, Menschheit und Kultur, das in natürlicher Weise eine lebendige, die öffentliche Meinung beherrschende und Kulturenthusiasmus unterhaltende Popularphilosophie hervorbrachte. Aber die optimistisch-ethische Totalweltanschauung, in der die Aufklärung und der Rationalismus diese starke Popularphilosophie begründeten, konnte auf die Dauer der Kritik des konsequenten Denkens nicht genügen. Ihr naiver Dogmatismus erregte mehr und mehr Anstoß. Unter den wankenden Bau versuchte Kant ein neues Fundament zu legen, indem er es unternahm, die Weltanschauung des Rationalismus, ohne an ihrem geistigen Wesen etwas zu ändern, den Anforderungen einer tieferen Theorie des Erkennens gemäß umzugestalten. Schiller, Goethe und andere Geistesheroen der Zeit zeigten in guter und böser Kritik, daß der Rationalismus mehr Popularphilosophie als Philosophie sei. Aber sie waren nicht in der Lage, an Stelle dessen, was sie zerstörten, etwas Neues aufzurichten, das mit gleicher Kraft Kulturideen in der öffentlichen Meinung unterhielte. Fichte, Hegel und andere Philosophen, die sich, wie Kant, bei aller Kritik des Rationalismus zu seinen ethischen Vernunftidealen bekannten, versuchten eine entsprechende optimistisch-ethische Totalweltanschauung auf spekulativem Wege, d.h. durch logische und erkenntnistheoretische Erwägungen über das Sein und seine Entfaltung zur Welt zu begründen. Drei oder vier Jahrzehnte lang gelang es ihnen, für sich und die anderen die kraftspendende Illusion aufrechtzuerhalten und die Wirklichkeit im Sinne ihrer Weltanschauung zu vergewaltigen. Zuletzt aber empörten sich die unterdes erstarkten Naturwissenschaften und schlugen mit plebejischer Begeisterung für die Wahrheit der Wirklichkeit die von der Phantasie geschaffenen Prachtbauten in Trümmer. Obdachlos und arm irren seither die ethischen Vernunftideen, auf denen die Kultur beruht, in der Welt umher. Eine sie begründende Totalweltanschauung ist nicht mehr aufgestellt worden. Überhaupt entstand keine Totalweltanschauung mehr, die innere Geschlossenheit und Festigkeit aufwies. Das Zeitalter des philosophischen Dogmatismus war vorüber. Als Wahrheit galt nur die die Wirklichkeit beschreibende Wissenschaft. Totalweltanschauungen traten nicht mehr als feste Sonnen, sondern nur noch als Kometennebel von Hypothesen auf. Mit dem Dogmatismus des Wissens über die Welt war zugleich der Dogmatismus der geistigen Ideen getroffen. Der unbefangene Rationalismus, der kritische Rationalismus Kants und der spekulative Rationalismus der großen Philosophen des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts hatten die Wirklichkeit in doppeltem Sinne vergewaltigt. Sie hatten im Denken gewonnene Anschauungen höher als die Tatsachen der Naturwissenschaft gestellt und zugleich ethische Vernunftideale proklamiert, die die tatsächlichen Verhältnisse in den Gesinnungen und Zuständen der Menschheit durch andere ersetzen wollten. Als die erste Vergewaltigung sich als sinnlos erwies, wurde auch fraglich, ob der andern die bisher zugestandene Berechtigung zukäme. An Stelle des ethischen Doktrinarismus, für den die Gegenwart nur Material zur Gestaltung einer theoretisch entworfenen besseren Zukunft war, trat das liebevolle geschichtliche Verständnis der gegebenen Zustände, dem schon Hegels Philosophie vorgearbeitet hatte. Bei dieser Mentalität war eine elementare Auseinandersetzung der ethischen Vernunftideale mit der Wirklichkeit wie vordem nicht mehr möglich. Es fehlte die dazu nötige Unbefangenheit. Dementsprechend ging die Energie der Kulturgesinnung zurück. So kam die berechtigte Vergewaltigung der menschlichen Gesinnungen und Zustände, ohne welche das Reformwerk der Kultur nicht vor sich gehen kann, zu Fall, weil sie mit der unberechtigten Vergewaltigung der Weltwirklichkeit verbunden war. Dies ist das Tragische des psychologischen Vorgangs, der sich von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts an in unserm geistigen Leben abspielte. Der Rationalismus war abgetan … mit ihm aber auch die von ihm hervorgebrachte optimistische und ethische Grundüberzeugung von der Bestimmung der Welt, der Menschheit, der Gesellschaft und des Menschen. Weil diese aber noch nachwirkte, gab man sich keine Rechenschaft von der Katastrophe, die eingeleitet war. Der Philosophie ward nicht klar, daß die Energie der ihr anvertrauten Kulturideen anfing fraglich zu werden. Am Schlusse eines der hervorragendsten, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts erschienenen Werkes über Geschichte der Philosophie wird diese als der Prozeß definiert, in dem sich «Schritt für Schritt, mit immer klarerem und sichererem Bewußtsein, die Besinnung auf die Kulturwerte vollzogen hat, deren Allgemeingültigkeit der Gegenstand der Philosophie selbst ist». Dabei vergaß der Verfasser das Wesentliche: daß nämlich früher die Philosophie sich nicht nur auf die Kulturwerte besann, sondern sie auch als wirkende Ideen in die öffentliche Meinung ausgehen ließ,...