E-Book, Deutsch, Band 580, 201 Seiten
Schweitzer Die Musik der Sprache
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8233-0343-5
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Französische Prosodie im Spiegel der musikalischen Entwicklungen vom 16. bis 21. Jahrhundert
E-Book, Deutsch, Band 580, 201 Seiten
Reihe: Tübinger Beiträge zur Linguistik (TBL)
ISBN: 978-3-8233-0343-5
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dr. Dr. Claudia Schweitzer ist Forscherin am Institut Praxiling (UMR 5267 CNRS) an der Universität Paul-Valéry, Montpellier 3.
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1.1 Prosodie und stimmlicher Ausdruck
Wer von Prosodie spricht, denkt an Melodie, an Rhythmus, an Tempo, Intonation, Akzentuierung und/oder an Intensität. Diese Parameter sind untrennbar von (praktisch jeder) menschlichen vokalen Äußerung. „Betrachtet man die alltägliche Konversation, ist doch die Art und Weise wie eine Person etwas sagt – die Prosodie – oft ein scheinbar besserer Spiegel ihres Inneren, ihrer Einstellungen, Absichten und Emotionen, als der eigentliche Wortlaut selbst“, so Daniela Sammler (2014). Eine Stimme, der es an Variationen eines oder mehrerer der genannten Parameter mangelt, wird als ausdruckslos empfunden. Der Diskurs wirkt statisch und der Sprecher oder die Sprecherin machen einen unbeteiligten Eindruck, denn die Prosodie übermittelt „nicht nur wesentliche sprachliche Informationen, sondern ist auch Ausdruck der emotionalen und sozialen Befindlichkeit des Sprechers oder der Sprecherin“ (Sammler, 2014). Heute existiert eine reiche Literaturauswahl mit Erläuterungen und Übungen um zu lernen, ausdrucksvoll (und überzeugend) zu sprechen, das heißt, seine Stimme, und damit die prosodische Gestaltung des Gesagten, zu beherrschen und so den Eindruck, den der Hörer oder die Hörerin haben wird, zu beeinflussen.
Diese Bemerkungen gelten für jegliche Art stimmlicher Äußerung wie freies Sprechen, Vorlesen, Rezitieren, Deklamieren oder Singen gleichermaßen. Damit ist die Prosodie ein von Grund auf interdisziplinäres Phänomen. Diese Tatsache spiegelt sich deutlich in der Definition wider, die der zu diesem Terminus gibt und in der drei Disziplinen angesprochen werden: Metrik oder Poesie (verstanden als die Regeln der Verskunst, das heißt, Vokallängen, Akzentuierung und Intonation), Linguistik (in der französischen Schule verstanden als Studie der prosodischen Parameter wie Melodie, Intonation und Dauer) und Musik (im Rahmen der Wort- Tonbeziehung).
In allen Bereichen dient die Prosodie zum Ausdruck von linguistischen wie von extralinguistischen Elementen. Zur ersten Kategorie zählen Variationen, die typisch für eine bestimmte Sprache sind (wie der Wortakzent oder die Sprachmelodie im Allgemeinen, Versmuster, oder auch musikalische Floskeln, die für einen ganz bestimmten Stil typisch sind). Die zweite Kategorie umfasst all die Stimmvariationen, die zum faktischen Inhalt der Äußerung einen affektiven oder emotionalen Gehalt hinzufügen, wie zum Beispiel der Sprachduktus oder das spontan – bewusst oder unbewusst – gewählte Tempo eines deklamatorischen oder musikalischen Vortrags. Der französische Grammatiker Jean-Baptiste Montmignon (1785) erwähnt im 18. Jahrhundert bereits diese beiden Dimensionen, wenn er Prosodie mit der Ordnung und Struktur des Diskurses ebenso in Verbindung setzt wie mit seinem Ausdrucksgehalt. Daniela Sammler (2014) weist der Prosodie sogar drei sprachliche Funktionen zu: Die erste ist linguistisch und betrifft die semantische, syntaktische und lexikalische Struktur der Aussage. Die zweite ist „selbstexpressiv“ und von den Emotionen und Einstellungen der Person sowie von der Sprechsituation bestimmt. Die dritte schließlich ist pragmatisch und an bestimmte Sprechakte in einer Kommunikationssituation gebunden (Kritik, Vorschlag, …).
All die Parameter, die unter dem Oberbegriff zusammengefasst werden, machen eine Information zu dem, was wir wahrnehmen: Die Prosodie erlaubt es uns, anhand des melodischen, intonatorischen, rhythmischen und akzentuellen Verlaufs eine mit der menschlichen Stimme zum Ausdruck gebrachte Nachricht zu interpretieren, und dies aus inhaltlicher wie auch aus emotionaler Sicht. Damit kann die Prosodie als das musikalische Element der (gesprochenen) Sprache bezeichnet werden, als die Musikalität, die einer jeden Sprache, einem jeden Sprecher und einer jeden Sprecherin eigen ist.
Gemeinsamkeiten von Sprache und Gesang
Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts taucht das Wort in französischen Grammatiken nur selten auf. Es sind vielmehr die Poeten und besonders die Rhetoriker, die sich für die ästhetische und affektvolle vokale Realisierung der Sprache interessieren. Dabei handelt es sich zunächst einmal nicht um freies Sprechen, sondern um die vorbereitete – und damit in einem gewissen Sinne wiederholbare – Realisierung vorformulierter Sätze und Texte. Claire Blanche-Benveniste (2010) bezeichnet das hier gemeinte Sprechniveau als eine sorgfältig kontrollierte und zivilisierte, für das öffentliche Reden bestimmte Sprache. Lange Zeit bleibt die Prosodie in Frankreich eng mit der verbunden.
Pierre de Ramée, genannt Ramus, ist der erste französische Grammatiker, der 1572 in seiner das Wort verwendet. Dies geschieht in Gegenüberstellung zur Orthographie: Die Prosodie betrifft die Kunst des Sprechens und die Orthographie diejenige des Schreibens. Beide zusammen bilden die Grammatik. Rhythmus und Akzent sind lange Zeit die hauptsächlichen, die Theoretiker der verschiedenen Disziplinen interessierenden Themen. Dabei ist der Begriff , Rhythmus zunächst einmal gleichbedeutend mit , Quantität, das heißt der Silbenlänge, wohingegen der Akzent eine hauptsächlich melodische Interpretation erfährt. Grammatiker wie Rhetoriker stehen hier in der antiken Tradition: Ein mit einem gekennzeichneter Vokallaut wird in Analogie mit der in der griechischen Sprache üblichen melodischen Aufwärtsbewegung als (hoch) bezeichnet, ein Vokal mit einem markiert infolge seiner melodischen Abwärtsbewegung im Griechischen einen Vokal, dessen Klang (tief) ist, und der entspricht melodisch einer Kombination der beiden vorhergehenden Akzente und benötigt dazu eine Silbe mit einer gewissen Grundlänge oder . Doch gegen Ende des 17. Jahrhunderts ist eine Umdeutung des Adjektivs , hoch, spürbar, und der konkrete musikalische Anklang des Begriffspaares hoch–tief wird allmählich von einem Transfer in den Bereich des Vokaltimbres überlagert. Ein Vokal mit einem (und besonders der Vokal ) wird nunmehr auch als (geschlossen) und/oder (männlich) bezeichnet und derjenige, der einen trägt, als (offen). Diese Tendenz, die sich bei den Autoren der (Arnauld & Lancelot, 1660) anbahnt, ist bei François-Séraphin Régnier-Desmarais (1706) und Claude Buffier (1709) deutlich spürbar. Abbé Boulliette erklärt schließlich 1760 unmissverständlich, dass der französische Akzent nur in Namen und Schriftbild Ähnlichkeiten mit dem griechischen aufweise, keinesfalls aber in der Ausführung. Doch melodisch oder klanglich, der Akzent ist in jedem Fall als ein linguistisches, sprachtypisches Element betrachtet.
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts bestätigt Jean-Léonor Le Gallois Grimarest die Verbindung von sprachlichem und musikalischem Ausdruck in seinem (1707). Der Terminus ist hier nicht mit der Gesangsgattung des Rezitativs zu verwechseln: Er ist direkt von dem Verb (rezitieren) abgeleitet. Laut Grimarest bilden die Konversationssprache, das laute Lesen im privaten Kreis, das Sprechen in der Öffentlichkeit (Redner, Anwalt …), die Theaterdeklamation und der Gesang eine Art von Kontinuum. Stufenweise werden die ausdrucksstarken und expressiven Elemente wie das Volumen, die Betonung oder die Akzentuierung gesteigert, so dass der Gesang als letzte Stufe alle vorherigen Sprecharten enthält, aber durch die ihm eigenen zusätzlichen Ausdrucksfähigkeiten in besonderer Weise Gefühle übermittelt und hervorruft. Vokalmusik ist damit laut Grimarest „eine Art von Sprache“. Der Komponist kann als ein , ein Übersetzer angesehen werden, der Gedanken und Gefühle mittels seiner Kunst auszudrücken versteht.
Dass diese Bemerkung durchaus wörtlich zu nehmen ist, zeigt der bekannte Bericht, nach dem der Komponist Jean-Baptiste Lully seine Melodien genau nach der Sprechart der berühmten Schauspielerin Marie Desmares (1642-1698), genannt La Champmeslé, formte. Noch am Ende des 18. Jahrhunderts bestätigt André-Ernest-Modeste Grétry (1789) die Effizienz eines derartigen Kompositionsverfahrens: Für ihn gehört das Studium der Deklamation zum unabdingbaren Handwerkszeug des Komponisten.
Knapp achtzig Jahre nach Grimarest und etwa zur selben Zeit wie Grétry...