E-Book, Deutsch, 240 Seiten, Format (B × H): 115 mm x 190 mm
Schweikert / Bergkraut / Zingg Fallen Sie nicht. Fliegen Sie lieber
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-03855-294-9
Verlag: Limmat
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen und Essays
E-Book, Deutsch, 240 Seiten, Format (B × H): 115 mm x 190 mm
ISBN: 978-3-03855-294-9
Verlag: Limmat
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ruth Schweikert (1964-2023) wurde in Lörrach geboren und ist in Aarau aufgewachsen. Nach ihrem Debüt «Erdnüsse. Totschlagen» veröffentlichte sie die Romane «Augen zu», «Ohio» und «Wie wir älter werden» und zuletzt 2019 die literarische Recherche «Tage wie Hunde». Ruth Schweikert war Stadtschreiberin von Bergen-Enkheim, ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Preis der Schweizerischen Schillerstiftung oder dem Solothurner Literaturpreis.
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Die Fräuleins 2
Es handelt sich um die frühe Fassung der Erzählung, die später unter dem Titel Port Bou im Band Erdnüsse. Totschlagen erschienen ist.
Schicksal und Charakter werden gemeinhin als kausal verbunden angesehen und der Charakter wird als eine Ursache des Schicksals bezeichnet.
Irgendwie war sie wieder zum Fräulein geworden. Sie hatte doch im Kopf die richtige Vorstellung. Jetzt war sie bald siebenundzwanzig, bald wie ihre Mutter, eine Grenzgängerin aus dem Badischen 1957, angestellt in einer Basler Baufirma als Sekretärin. Natürlich ein Fräulein, auch sie. Die adoleszenten Pickel hatten sich bereits nach innen gewendet, sie war eben erwachsen, an Haut und Knochen aus dem Kinderbett gewachsen; des Nachts schlief sie im ehemaligen Eheschlafzimmer der Eltern, in Vaters Bett, an des toten Vaters Stätte, neben ihrer leise schnarchenden verwitweten Mutter, und ihr fahles aschblondes Haar zeigte Spuren von Grau. Die Herren im Büro, Familienväter alle, machten sich manchmal einen Spaß daraus, ihr biedermeierliches Wesen mit Seitensprunggeschichten zu erschüttern.
Der Gedanke, welcher dabei zugrunde liegt, ist folgender: wäre einerseits der Charakter eines Menschen, d. h. also auch seine Art und Weise zu reagieren, in allen Einzelheiten bekannt und wäre andererseits das Weltgeschehen bekannt in jenen Bezirken, in denen es an jenen Charakter heranträte …
Sie, die Tochter, die jetzt dann siebenundzwanzigjährig wurde, hatte irgendwann, mitten in einem dieser schwülen Hochsommertage, aufgehört, sich die Zähne zu putzen. Sie dachte sich dabei nichts; aber unablässig wippte ihr Körper zur Melodie eines Kinderliedes: die Zähne sind zum Küssen da, zum Küssen da, zum Küssen da; dazu fügten sich als eine zweite, schrille Stimme Penthesileas Worte: Küsse, Bisse, das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, kann schon das eine für das andre greifen.
Des Fräuleins Zähne waren in dieser Hinsicht arbeitslos, seit Längerem, seit fünfzehn Jahren schon, seit dem letzten Vaterkuss, der ihr als Tochter galt, und somit handelte sie unzweifelhaft ökonomisch in dieser Hochsommerhitze, verstaute die Zahnbürste zuoberst im Spiegelschrank und überließ ihr einziges riesigrotes Badetuch langsam dem Schimmel.
… so ließe sich genau sagen, was jenem Charakter sowohl widerfahren als von ihm vollzogen werden würde. Das heißt, sein Schicksal wäre bekannt. Soweit Walter Benjamin, den sie nie gelesen hatte, bis auf ein kurzes Zitat, das eines Morgens auf ihrem Kantonsschülerinnenpult gelegen hatte, das war vor acht Jahren gewesen. Benjamin war am selben Tag wie sie geboren, wenn auch über siebzig Jahre und zwei Weltkriege früher, und sie wählte sich für die Lösung ihres verknoteten Schicksals Benjamins letzten Lebens- und Todesort; oder vielleicht war eben dieses ihr Schicksal eine Täterin, eine handelnde Instanz, die sie dorthin verschlug, an diesen trostlosen spanischen Grenzort.
Das Fräulein von 1957 nahm in jener Hochsommerzeit ihren ersten Kuss in Empfang. Sie hatte Jutta während der obligaten Jungmädchentortur im Welschland kennengelernt, an einem von zwei freien Wochenenden, die ihr von ihrer Madame während des ganzen Jahres gestattet wurden; mit ihrer Freundin Jutta also war sie nach Spanien gefahren, eine begleitete Carreise mit Kuoni, das leisteten sie sich, es waren ihre ersten eigenen Ferien, es war ihr erstes eigenes Meer, das sie zu spüren bekamen. Sie, Elisabeth, wohnte ja noch billig zu Hause, aß, wenn sie abends müde über die Grenze kam, Mutters aufgewärmtes Mittagessen auf, setzte sich mit einem Buch, das zumeist von treuer Frauenliebe handelte, ans Stubenfenster der Zweizimmerwohnung, und starrte zwischen den Worten nach draußen. Da waren alle beschäftigt mit Konjunktur; selten ging einer vorbei, noch seltener eine. Häufiger eine und einer, eine und eine, oder einer und einer, zwei und zwei und zwei. Im Bett legte sie sich ein Kissen unter die Füße, um ihre geschwollenen Beine zu entlasten. Die Beine waren kaputt von jahrelanger Arbeit im Hotel: stehen, stehen, am Buffet, in der Küche, zwölf Stunden am Tag, in der Hauptsaison vierzehn. Das kannst du mir glauben. Am Samstag heizten sie mit Holz und Kohle den Boiler auf und badeten. Zuerst sie, dann ihre Mutter. Nach dem Bad legten sie ihre rotgeschruppten Körper in frische weiße Nachthemden und träumten manchmal von elektrischen Heizöfen.
Über den Sonntag rede ich nicht. Der Sonntag setzte einem langen Wochensatz den göttlichen Schlusspunkt. Und dieser kreisrunde Ablauf, dachte Elisabeth, würde sich wieder und wiederholen in diesem zufriedenstellend langsamen Rhythmus, wenn nicht!, oder: bis eines Tages, am besten in Basel, sie lieben die Schweiz, ihre Mutter und sie; bis eines Tages eine Junggesellenbude darauf warten würde, von ihr in ein häusliches Heim verwandelt zu werden. Und diese Vorstellung leuchtete als Silberstreif am Horizont vom Fräuleinhirn …: lieber lebenslängliche Hausfrau als lebenslängliche Sekretärin.
Die Tochter stockt hier in der Erinnerung, etwas hat sie gepackt, sie ist ja jetzt so alt wie ihre Mutter damals, 1957. Und wo bitte, ist ihr Traum vom häuslichen Heim geblieben? Das häusliche Heim hat sie zwar zur Genüge, aber den Traum? Wenn sie die Zähne noch weiter nicht putzt, kann sie den Traum glatt in die Vergangenheit schmeißen, die sie nie gelebt hat.
Und ihr Leben steht noch immer als ein Brett vor ihrem Kopf, im Gegensatz zu Walter Benjamin, der sich dieses Brett vor dem Kopf wegnahm, der sich also das Leben nahm, der auf der Flucht vor den Häschern der Gestapo 1940 in Port Bou in den Freitod getrieben wurde …, was man von ihr nicht behaupten kann, glücklicherweise nicht; sie kann nur leise singen: all my life still ahead, pity me …
Sie, die Tochter, hatte aus ihren drei jeweils einmaligen Liebhabern drei Kinder gezogen. Da sie zu diesen Zeitpunkten nicht frigid war, lösten die alle drei Jahre stattfindenden Orgasmuskontraktionen zuverlässig den Eisprung aus. So wurde sie Mutter mit 19,22, und 25. Sie sieht schon das Schicksal sich bemühen, ihr den nächsten Liebhaber bereitzustellen, auf dass der Dreijahresrhythmus gewahrt werde. Weil kein Mensch ihr einen Ehemann zutraute, wurde sie kurz nach den Schwangerschaften wieder Fräulein genannt, trotz ihren schweren, vom Milchgewicht blaugeäderten Brüsten, aber die Adern sah ja auch keiner.
Auf dem schwarz-weißen Foto von Spanien schimmerten schon die Krampfadern. Ihr Vater also hatte solche Krampfadern genommen, sie geheiratet, und er hatte sich auf sie draufgelegt, er, mit seinen perfekten braunglänzenden Beinen, ebenbürtig denjenigen von griechischen Götterstatuen. Diesen Vater konnte sie nur verachten. Warum hast du bloß diese grässliche Frau geheiratet, die meine Mutter ist, dieses reine Dienstleistungsgeschöpf, hatte sie ihn gefragt, als sie schon über zwanzig war, so ernsthaft, als sei sie noch ein Kind. Er hatte etwas gemurmelt, das sich anhörte wie eine Entschuldigung: Verpflichtung zur Familie als Keimzelle des Staates. Und er hatte hinzugefügt, diesmal mit leisem Vorwurf über die ungebührliche Frage: deine Mutter ist wirklich eine gute Mutter.
Wie sie daherkam! Sie ging wie auf Stelzen über den hochglanzpolierten Aarauer Stadtboden; den Mund öffnete sie immer weniger, je heißer es wurde. Abends um zehn, allein mit ihrem Mund, beginnt sie sich herzurichten, schmiert sich den Mund voll mit Lippenstift, Farbe classic red, Marilyn, du hast ’nen Mund wie Marilyn, singt sie, und sprayt sich natürliches Pfefferminzaroma gegen den Mundgeruch in den Rachen. Dann setzt sie sich vor den Fernseher, ganz dicht, mit diesem arbeitslosen Saugnapf von Mund, zieht die Männerzungen sämtlicher Kultursendungsköpfe tief in sich hinein, und tut so, als gäbe es daran etwas zu kauen, am Staub, den sie vom Bildschirm leckt. Am Morgen putzt sie den verschmierten Bildschirm mit Ajax glasklar.
Ein Schuhhändler verpasste ihr den ersten Kuss. Kurz nach dem Foto, gut hatte er das hingekriegt, die beiden Frauen im Wettstreit um Fotogenität, um des Fotografen Gunst, der aus ihnen Kunst machen würde. Elisabeths fahles aschblondes Haar fiel einfach göttlich, man muss den richtigen Moment erwischen, dachte er, und küsste Fräulein Elisabeth Hauser mitten auf den Mund. Der erschrak ob dem Feuchtwarmen, und Elisabeth drehte sich samt ihrem nassen Mund entschieden weg. Und sie hatte drei Kinder und war noch nie geküsst worden, wenn sie von den Vaterküssen absah. Die Ruhe an den Abenden nach neun Uhr sprengt ihr den Kopf, wenn die Kinder schlafen. Sie denkt an den Kuss, der kommen wird, noch dieses Jahr, das steht ihr fest; schon in der Kussvorstellung klappen ihr die Augendeckel runter, wie sie es im Film gesehen hat; ihre Lippen öffnen sich, sie atmet heftiger, bis sie ihre Mundhöhle riecht, nein, die kann keiner küssen, die erträgt nur sie allein. Die Kinder sind anstelle ihres Stolzes getreten; die Kinder sind ihr ganzer Stolz.
Das musste man sich bieten lassen auf einer begleiteten Carreise mit Kuoni 1957, als es noch keine Pille gab: dass man geküsst wurde ohne die vorbereitende Konversation. Der Schuhhändler Walther brauchte eine Frau fürs Geschäft, das wusste sie, das interessierte sie, wir haben den Krieg überlebt, sagt sie oft zu mir, die ich ihre Tochter bin, das schärft den Sinn für Realitäten, für Fleisch und Brot. Walther hatte zu Beginn der Reise seine Absicht bekanntgegeben, er sei sicher, die Geeignete befinde sich unter den mitreisenden Damen, schließlich fahre er nicht nur zum bloßen Vergnügen im spanischen Himmelblau umher,...