E-Book, Deutsch, 204 Seiten
Reihe: Märkische Lebensläufe
Schwarz Frieda Glücksmann
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-948052-74-4
Verlag: Ammian Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Von Lehnitz nach London
E-Book, Deutsch, 204 Seiten
Reihe: Märkische Lebensläufe
ISBN: 978-3-948052-74-4
Verlag: Ammian Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die Sozialpädagogin Frieda Glücksmann kam 1934 nach Lehnitz in Brandenburg. In einer Zeit, in der die kommende Verfolgung bereits ihre Schatten vorauswarf, baute sie das Erholungsheim zu einem einmaligen Zentrum jüdischen Lebens aus. Für sie und andere Bewohnerinnen und Bewohner war Lehnitz "die glücklichste Zeit ihres Lebens" und eine Heimat. Die freie Historikerin und Judaistin Kathrin Schwarz schreibt einfühlsam und unterhaltend über das Leben dieser ungewöhnlichen Frau, deren Weg von Breslau über Lehnitz nach London.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Breslau
Frieda Glücksmann ist der Nachwelt als eine Frau Brandenburgs bekannt. So erinnert etwa das Projekt „Frauenorte Brandenburg“2 an ihr Leben in Lehnitz. Doch bevor sie nach Lehnitz kam und dort ein Heim und ihre Heimat schaffte, hatte sie ein gänzlich anderes Leben, das bisher im Hintergrund geblieben ist. Lehnitz war für Frieda Glücksmann keine Notlösung, sondern eine Heimat vom ersten Moment, in dem sie das Wäldchen und den See sah, an dem sich das Haus befand. Als sie in Lehnitz ankam, war sie bereits über vierzig Jahre alt. Davor hatte sie über zehn Jahre in ihrer Geburtsstadt Breslau als Dezernentin in der Jugendfürsorge gearbeitet. Sie wurde von den Nationalsozialisten entlassen, weil sie Jüdin war, und musste allein mit ihren drei Kindern nach Berlin umziehen. Sie wurde am 25. Juli 1890 als Frida – Friederike – Lebrecht geboren. In den meisten offiziellen Dokumenten wird sie als Frieda oder seltener als Frida geführt, sie selbst verwendete in Briefen „Frida“, ebenso ihre engeren Freundinnen und Freunde. Es gibt zwei Akten, in denen sie als „Friederike“ geführt wird, aber das könnte eine Annahme der Behörden gewesen sein. Von amtlicher Seite wurde sie auch immer „Frieda“ geschrieben, obwohl ihr Anwalt konsequent die Schreibweise „Frida“ verwendete. In der vorhandenen Forschung und bei der nach ihr benannten Straße hat sich die Schreibweise „Frieda“ durchgesetzt. Frieda Glücksmann wuchs in der Agnesstraße 16 in Breslau auf; heute heißt die Straße Michala Baluckiego, nach dem Schriftsteller Michal Balucki. Ihre Mutter Jenny Lebrecht, am 18. Mai 1862 als Jenny Engel geboren, stammte aus einer alteingesessenen großen Breslauer Familie. Friedas Vater Louis Lebrecht war Kaufmann; vermutlich verließ er die Familie oder verstarb. Manchmal wird sein Todesdatum mit 1942 angegeben, doch, wie sich zeigen wird, lebte Friedas Mutter schon davor allein. Ein Jahr nach Frieda kam am 22. Juli 1891 ihre Schwester Therese Lebrecht auf die Welt, die ihr nach Berlin folgen würde. Über Friedas Kindheit ist wenig bekannt, abgesehen davon, dass sie im Alter von 13 Jahren die Höhere Töchterschule besuchte. Sicher ist nur, dass die Familie Teil der jüdischen Gemeinde Breslaus war. Für die deutschsprachige jüdische Gemeinschaft war diese Stadt eine der wichtigsten im Deutschen Reich und die fünftgrößte der Kaiserzeit, nach Berlin, Hamburg, Dresden, München und Leipzig. Breslau, die lebendige Metropole Schlesiens Wie viele Städte trug die niederschlesische Stadt an der Oder im Laufe der Zeit viele Namen: Wrotizla, Wretslaw, Presslaw, Bresslau, Breslau, Wroclaw. Als Frieda Lebrecht 1890 hier zur Welt kommt, ist Breslau ein wichtiges jüdisches Zentrum mit großer kultureller Vielfalt. Bei einer Volkszählung im Jahr 1910 ergab sich folgende Verteilung der Muttersprachen: 95,71 % der Einwohnerinnen und Einwohner gaben Deutsch als ihre Muttersprache an, 2,95 % Polnisch, 0,68 % Tschechisch, 0,67 % sprachen Deutsch und Polnisch. 1933 lebten 625.198 Menschen hier, von denen 372.331 evangelisch, 197.215 katholisch und 20.201 jüdisch waren. Durch die Lage an der Oder war Breslau seit dem späten Mittelalter eine wichtige Handelsstadt. Eine jüdische Gemeinde wird bereits seit dem späten 12. Jahrhundert vermutet. Immer wieder gibt es Wellen von Akzeptanz im Wechsel mit gewaltvoller Vertreibung oder sogar Auslöschung der jüdischen Gemeinde. Das alte jüdische Viertel befand sich am linken Oderufer, in der Nähe der heutigen Universität. Von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis Mitte des 18. Jahrhunderts gab es durch das Gesetz der „Nichttolerierung der Juden“, erlassen 1455 unter Herrscher Ladislaus Postumus, keine jüdische Gemeinde in Breslau. Angestachelt wurde das unter anderem von einem Wanderprediger namens Johannes Capistranus, der gegen Hussiten, muslimische und jüdische Menschen hetzte, sie folterte und 41 Juden auf dem Scheiterhaufen verbrennen ließ. Lediglich Handel konnten die Juden in der Stadt treiben, wenn sie eine entsprechende Sondererlaubnis besaßen. Als Breslau 1742 Teil des Preußischen Reiches wurde, legalisierte und tolerierte der preußische König Friedrich II. die jüdischen Gemeinden. Daraufhin entstand das jüdische Wohnviertel um den Karlsplatz und darüber hinaus. Im weiteren Verlauf bildeten sich in der Odermetropole Breslau – neben Berlin und Königsberg – die „Grundlagen der Emanzipationsbewegung“ heraus. Jüdische Menschen hatten nicht die gleichen Rechte wie die Mehrheit der Gesellschaft Breslau, Ostseite des Stadtrings um 1900. (das betraf übrigens alle Menschen, die keinen christlichen Glauben hatten). Sie wurden geduldet und waren der Willkür ihrer Mitmenschen und der Behörden ausgeliefert. Einzelne Gesetze boten ihnen im Laufe der Jahrhunderte mal mehr, mal weniger Schutz, doch durch diese Ungleichbehandlung, die sich auf alle Lebensbereiche auswirkte, verblieben sie am Rande der Gesellschaft. Der Emanzipationsgedanke wurde zur Zeit der Aufklärung und in der Französischen Revolution proklamiert. Daraus und aus einer zunehmenden Toleranz gegenüber Religionsfreiheit erstarkte auch das Bewusstsein in Teilen der jüdischen Gemeinschaft nach gleichen Bürgerrechten. Diese Sehnsucht nach „Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit“ führte auch zu einer Diskussion darüber, wie Bürgerinnen und Bürger eines Staates sich verhalten müssten und was zu einer bürgerlichen Identität gehörte. Bereits zum Ende des 18. Jahrhunderts verkehrten Intellektuelle in den deutschsprachigen Städten in Salons und Zirkeln, die von jüdischen Frauen geführt wurden. Frauen und Juden beteiligten sich an diesen neuen Ideen. Innerhalb eines Teils der jüdischen Gemeinschaften wurden das humanistische Bildungsideal und die Anpassung an der Mehrheitsgesellschaft als erstrebenswert erachtet. Das bedeutete die deutsche Sprache zu sprechen, sich zu bilden, die gleiche Kleidung zu tragen und sich für andere Sitten und Gebräuche zu öffnen. In Berlin steht etwa Moses Mendelssohn maßgeblich für die Ideen. Führende Breslauer Familien beteiligten sich ebenso an diesem Prozess der Assimilierung und Akkulturation der jüdischen Menschen, der sogenannten Haskala, in fast allen Lebensbereichen. Das führte zu regen Diskussionen darüber, wo die jüdische Religion noch ihren Platz darin finden und wie sie fortan ausgelebt werden könnte. Als 1812 das Preußische Emanzipationsedikt erlassen wurde, setzte man noch mehr auf Reform und Assimilation. Das Emanzipationsedikt sorgte dafür, dass jüdische Menschen eine immer wichtigere Rolle im gesellschaftlichen Leben spielten und rechtlich als preußische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger anerkannt wurden: Sie waren sowohl kulturell, politisch als auch wirtschaftlich im Alltag vertreten und sichtbar. Das war ein sehr wichtiger Schritt hin zur Gleichberechtigung, obwohl es immer noch Einschränkungen und Rückschritte gab; unter anderem blieben die Karrieremöglichkeiten für jüdische Menschen weiterhin beschränkt. Bis 1850 blieben die preußischen Berufsverbote in Kraft, sodass sie nur Berufe wie Trödelhandel, Hausieren, Pfandleihe, Vieh- oder Kornhandel ausüben durften und über Handel und Bankwesen wirtschaftliche Aufstiegschancen hatten. Der Zugang zu Posten in der Verwaltung oder politische Ämter blieb ihnen lange verwehrt. Im Jahr 1906, als Frieda Glücksmann die Höhere Töchterschule besuchte und das Lehrerinnenseminar mit dem Kindergärtnerindiplom abschloss, waren die prächtigen boulevardartigen Straßen Breslaus von historischen Bauten und beeindruckenden Architekturdenkmälern gesäumt. Gotische Kirchen standen neben barocken Palästen und prächtigen Jugendstilbauten. Breslau war bekannt als das „Venedig des Nordens“. 1913 wurde die Breslauer Jahrhunderthalle (heute Hala Stulecia) eingeweiht – ein architektonisches Wunder, das die Zeit bis heute überdauert. Ihr Stahlbetongerüst ist das Werk des begabten Architekten und Stadtbaurats Max Berg, der sich für den Entwurf der Halle vom antiken Pantheon in Rom inspirieren ließ. Sie bietet Platz für Tausende von Besucherinnen und Besuchern und wurde bereits für Messen, Sport- und Kulturveranstaltungen genutzt. Die Jahrhunderthalle bildet das Herzstück des Breslauer Messegeländes, das in den frühen 1910er-Jahren entstand und auch den Vier-Kuppel-Pavillon und eine Pergola von Hans Poelzig3 umfasst. Diese architektonische Pracht wurde in den Scheitniger Park (heute Park Szczytnicki) integriert, gestaltet von Hugo Richter, der dafür den Titel eines königlichen Gartenbaudirektors erhielt. Gebaut wurde die Halle für die Jahrhundertausstellung. Jubiläen kamen damals in Mode, zum Beispiel zur Erinnerung an die preußischen Befreiungskriege gegen Napoleon im Jahr 1813. Doch ein Hauch von Enttäuschung hing in der Luft, denn der deutsche Kaiser Wilhelm II. glänzte bei der feierlichen Einweihung durch Abwesenheit. Sein Sohn, Prinz Friedrich Wilhelm von Preußen, vertrat ihn. Die Eröffnung der Jahrhundertausstellung im Jahr 1913 war auch ein Zeichen des Aufbruchs. Das 20. Jahrhundert mit seinen rasanten technischen und wissenschaftlichen Entwicklungen hatte begonnen. Die Schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität, heute Universität Wroclaw, war eine der führenden Hochschulen im Deutschen Reich und zog Studierende und Gelehrte aus ganz Europa an. Das akademische Umfeld förderte intellektuellen Austausch und Innovation und auch die Wirtschaft boomte. Als Handelszentrum für Schlesien war die Stadt ein Motor des Fortschritts....