Schwabe / Göppel | Die Jugendlichen und ihr Verhältnis zu Ordnungen, Regeln und Grenzen | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 250 Seiten

Schwabe / Göppel Die Jugendlichen und ihr Verhältnis zu Ordnungen, Regeln und Grenzen


1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-17-030565-6
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

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ISBN: 978-3-17-030565-6
Verlag: Kohlhammer
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Jugendliche müssen im Übergang von Kindheit ins Erwachsenenalter ein eigenes Verhältnis zu Regeln, Grenzen und Ordnungen finden. Es reicht nicht mehr aus, diesen zu gehorchen; sie müssen von den Jugendlichen jetzt auch als sinnvoll und passend anerkannt werden. Dazu werden sie aber zunächst in Frage gestellt: Regelverstöße, Grenzüberschreitungen und Unordnungen aller Art gehören mit zum Prozess der Selbstpositionierung dazu. Und damit Konflikte aller Art mit Erwachsenen und Gleichaltrigen. Gleichzeitig erfinden Jugendliche in ihren Szenen und Cliquen eigene Regeln und Rituale und spielen mit Elementen alternativer Ordnungen, oft auch als Vorgriff, um sich etablierten Ordnungen wieder annähern zu können. Die Zusammenhänge von Konflikterfahrungen und Selbstbildung werden in diesem Band anhand von theoretischen Überlegungen, empirischen Studien und Fallgeschichten erörtert.

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Regeln, Strukturen und Ordnungen in Jugendkulturen
Häufig glauben Erwachsene, Jugendliche würden sich aus Prinzip gegen alle Formen von Ordnung zur Wehr setzen oder seien aus hormonellen oder hirnphysiologischen Gründen nicht in der Lage, sich an diesen zu orientieren (Meyer 2012, Sotiras u. a. 2017, Willenbrock 2005). Aber das kann nicht stimmen, denn im Rahmen von Jugendkulturen entwickeln sie ausgefeilte Ordnungssysteme mit zahlreichen Regeln und eindeutigen No-Gos, die sie auswendig kennen und akribisch befolgen (Bell 1967). Diese unterscheiden sich jedoch in zweierlei Hinsicht von den bisher kennengelernten Ordnungen. Im Unterschied zu Elternhaus, Schule oder Ausbildung erleben Jugendliche das Kennenlernen und Einhalten dieser Regeln als ein selbst initiiertes, sinnstiftendes Autonomieprojekt ( Kap. 1). Deshalb fällt es ihnen auch nicht schwer, sich diese Regeln anzueignen und an den vorgegebenen Ritualen teilzunehmen, um eine für sie attraktive Gemeinschaftsbildung zu erleben (Ferchhoff 2011). Zum anderen werden die neuen Regeln und Rituale in einer anderen Form vermittelt (Douglas 1980, Müller 1989), die Douglas als Stil bezeichnet hat. Stil meint ein komplexes Ordnungssystem, das Körperbewegungen, eine eigene Fachsprache (Slang), Kleidungsordnungen, Symbole, Rituale und die Kenntnis mythischer Heroen und Heroinen umfasst und alle diese Elemente zu einer einzigartigen Gestalt verdichtet. Ein Stil und seine Regeln werden primär nicht explizit, d. h. über verbale Ansagen oder in schriftlicher Form vermittelt (wie z. B. die Schulordnung oder die Ansagen von Eltern); sie bleiben weitgehend implizit. Man lernt sich in und mit dem neuen Stil auszudrücken, indem man andere Stilkundige beobachtet und sich die passenden Accessoires aneignet. In jeder Jugendkultur gibt es tonangebende Autoritäten, die über den Stil wachen und Stil-sicheres Auftreten bzw. Stilbrüche erkennen und sanktionieren. Auch das geschieht meist ohne viele Worte, subtil in Form einer hochgezogenen Augenbraue oder eines Zuckens um den Mund, aber unerbittlich, weil die Hose eines anderen zwei Zentimeter zu lang ist oder der von ihm angehimmelte Star schon wieder out ist. Das Rebellieren gegen die Ordnungsansprüche der einen (Eltern, Schule etc.) und das gleichzeitige, peinlich genaue Befolgen der Stilregeln der anderen (der Peers, der Jugendkultur) stellt für Jugendliche keinen Widerspruch dar. Im Gegenteil: Die Kombination beider Attitüden macht einen wesentlichen Teil ihrer Selbstdefinition und Selbststilisierung aus. Das bedeutet aber auch: keine Jugendkultur ohne Anpassungsdruck. Es gibt durchaus Szeneregeln, die man interpretieren und erweitern kann, aber ein Stil lässt sich nicht beliebig weit dehnen. Unsicherheiten, peinliche Momente und undurchschaubare Exklusionsprozesse gehören mit dazu, wenn man Mitglied einer Jugendkultur werden möchte. Immer wieder muss man dabei die Zähne zusammenbeißen und Korrekturen nachliefern oder so tun, als ob Kritik einen nicht trifft. Gleichzeitig gibt es viele Möglichkeiten, sich in der Community Anerkennung zu verschaffen und nach und nach in der Szenehierarchie aufzurücken (wie z. B. das Absolvieren eines Hip-Hop-Battles oder eines besonders schwierigen Tricks beim Skaten). Neben Bewunderung und Anerkennung sind damit durchaus Privilegien verbunden. Man wird gegrüßt, bekommt Platz gemacht oder erhält persönliche Einladungen zu Events. Jugendkulturen bilden demnach eine Art von Konformismus aus, der den Konformismus der Gesellschaft zugleich spiegelt und verzerrt. Jede Jugendkultur gerät in die Gefahr, an ihrer Form des Konformismus zu ersticken. Dies führt zu Rebellionen von Adepten gegen die als zu starr empfundene Ordnung der jeweiligen Jugendkultur und ihrer Repräsentanten (siehe Kap. 2.1.3). Entweder folgt darauf eine Erweiterung der bestehenden Kultur, die Abspaltung einer Gruppe, die innerhalb der Szene eine neue Spielart kreiert, oder der Wechsel in eine andere Jugendkultur. Absetzbewegungen vom Mainstream, Entfaltung, Ritualisierung und Pflege eines Stils, anfängliche Exklusivität, gefolgt von Kommerzialisierung bzw. Vermassung mit Dekadenz- und Auflösungserscheinungen sind die typischen Zyklen, die jede Jugendkultur durchläuft (Eckert 2006; Ferchhoff 2007, 181). Nichtsdestotrotz geben diese Kulturen Orientierungen, bieten Heimat und stabilisieren Identitäten, um irgendwann wieder verlassen zu werden. Insofern stellen sie so etwas wie zweite Elternhäuser dar (auch Familien können Stile ausbilden). Diese Beobachtung gilt allerdings nicht nur für Jugendliche, sondern auch für Jüngere (10- bis 12-Jährige), die erste Kontakte in die Szene suchen, wie auch für Ältere, d. h. 20- bis 50-Jährige, die ihrer Szene verbunden bleiben. In diesem Zusammenhang problematisiert Schröer mit Blick auf Hip-Hop die Bezeichnung »Jugendkultur« und charakterisiert sie als »juvenilen Lebensstil« (Schröer 2013, 224 ff.). Er verweist in diesem Zusammenhang auf Jazz und Rock, die ebenfalls als Jugendkulturen begonnen haben, aber inzwischen längst zu Stilen geworden sind, die einen ein Leben lang begleiten können. Nur ein Teil aller Jugendlichen bindet sich über längere Zeit (zwei Jahre plus) an eine bestimmte Jugendkultur und tritt damit als aktiver Szenegänger in Erscheinung. Offensichtlich hat die Anzahl der »eindeutig Selbstverorteten« unter den 13- bis 18-Jährigen von 29,7 % zwischen 2001 und 2012 um 10 % abgenommen bzw. sind die Szene-Hopper*innen von 36,6 % auf 51,2 % angestiegen (Eulenbach/Fraij 2018, 34 ff.). Dabei wird ein geschlechtsspezifischer Unterschied deutlich: Männliche Jugendliche bevorzugen eine eindeutige Szeneverortung, weibliche dagegen stärker eine situativ wechselnde Zuordnung (ebd. 33). Für unser Thema bedeutet dies, dass man in Bezug auf Jugendkulturen von zwei unterschiedlichen Formen der Selbstpositionierung ausgehen kann. Die erste besteht darin, verschiedene Kulturen und deren Stile kennenzulernen, phasenweise in diese einzutauchen, sich dort passend zu bewegen zu lernen, Vereinbarkeitsstrategien zu testen, aber gleichzeitig eine gewisse Distanz zu ihnen aufrechtzuerhalten (Eulenbach & Fraij, 2018, 38). Hier wird vor allem der Nähe-Distanz-Grad autonom geregelt, und es scheint einen Wert darzustellen, sich noch nicht festlegen lassen zu müssen. Die zweite Gruppe strebt eine eindeutige Identifikation mit den Inhalten und Werten einer bestimmten Szene an, was die gekonnte Ausführung zentraler Praxen impliziert. Hier bedeutet Autonomie vor allem das Auswählen einer Szene, das Sich-Abgrenzen von anderen Kulturen und die Arbeit an Autonomieprojekten in Form von Tanz, Gesang, Musik, Graffiti, Sport etc. Diese Form steht im Mittelpunkt dieses Kapitels. Wir beschränken uns in diesem Kapitel auf die Darstellung der Ordnungssysteme in zwei juvenilen Lifestylekulturen. Ich habe dafür Hip-Hop ( Kap. 2.1) und Skating ( Kap. 2.2) ausgewählt, da sie nach der größten Gruppe der Fußballfans die beiden am stärksten frequentierten Jugendkulturen bilden. Als eindeutig in der Skaterszene Verortete bezeichneten sich 2012 10,9 % aller Jugendlichen zwischen 13 und 18 Jahren, als an dieser Szene interessierte Szenehopper*innen 11,1 %. Das sind zusammen 22 % aller Jugendlichen, die eine Bindung an diese Bewegungskultur aufweisen. Bei den Hip-Hopper*innen bezeichneten sich 2012 6,6 % aller Jugendlichen als eindeutig Verortete und als Szenehopper*innen 9,6 %, d. h. immerhin 16,2 % aller Jugendlichen (ebd.). Man kann davon ausgehen, dass die Identifikation mit der jeweiligen Kultur und ihren Regeln im Szenekern besonders hoch ist und wir es hier eher mit dem Autonomieprojekt »Auswahl und Bindung/Abgrenzung« zu tun haben, während sie zur Peripherie hin schwächer wird und es dort eher um eine »autonome Nähe-Distanz-Regulierung« geht (Hitzler/Niederbacher 2010). Das Ordnungssystem Hip-Hop präsentiere ich im Rahmen einer Feldstudie, die sich am Modell »dichter Beschreibung« (Geertz 1994) orientiert ( Kap. 2.1), während das zweite Teilkapitel einen eher knappen, überwiegend auf Literatur und YouTube-Filme gestützten Einblick in die Skaterszene bietet ( Kap. 2.2). Am Ende werde ich Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Jugendkulturen herausarbeiten ( Kap. 2.3). 2.1       Regeln, Rituale und Grenzsetzungen in der Hip-Hop-Kultur
Die Hip-Hop-Kultur umfasst neben dem aktiven Hören der gleichnamigen Musik mit Rappen, Breakdancen und Graffiti/Writing drei zentrale Aktivitäten (Schröer 2013, 11 ff.), die jeweils für sich ausgeübt werden können und bei den meisten Adepten nur in losem Zusammenhang miteinander stehen. Zur Einführung in das Thema Battle empfehle ich den Kinofilm »8 Mile« (2002), der Protagonisten und Atmosphäre in der Szene auf dichte Weise darstellt. Im Folgenden schildere ich einen Rap(per)-Battle, den man sich auf YouTube anschauen kann (https://www.youtube.com/watch?v=Oq8hdUvPv6Q) (letzter Aufruf 21.1.2020). Von Szenekennern wurde...


Dr. Mathias Schwabe hat eine Professur für Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Berlin.



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