E-Book, Deutsch, 396 Seiten
Schuster Donaufeuer
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-96215-081-5
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 396 Seiten
ISBN: 978-3-96215-081-5
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2. Kapitel
Karim hatte das Gefühl, niemals an einer eigenartigeren Beerdigung teilgenommen zu haben. Niemand weinte, mit Ausnahme seiner Schwester. Von den näheren Angehörigen der Toten schien überhaupt niemand gekommen zu sein, sodass der Eindruck entstand, der Priester rede in ein höflich-abwartendes Vakuum. So viel Karim sich auch umblicken mochte, er entdeckte niemanden, den er als Mona Wahieds Freund hätte identifizieren können. Keinen zutiefst erschütterten Mann mit riesigem Blumenstrauß, nur zu gefasst wirkende Trauergäste, die, als schließlich unangenehm kalter Nieselregen einsetzte, je nach Naturell heimlich oder offen auf die Uhr schielten, ob die leidige Zeremonie nicht bald beendet sei.
Die Uhrzeit interessierte Karim wenig. Er beobachtete die Anwesenden. Wie auf so vielen Beerdigungen schienen die Frauen in der Überzahl, aber es ließ sich kaum feststellen, wer zu jenen Damen gehörte, die jede Trauerfeier in ihrem Bezirk besuchten, quasi aus Gewohnheit, morbider Neugier oder simpler Langeweile und wer wirklich in Beziehung zu der Toten stand. Und die Männer? Karim erinnerte sich, dass Mona als Sekretärin in einer Pharmafirma gearbeitet hatte. Vermutlich handelte es sich bei diesen Leuten hauptsächlich um Pflichtbesucher von ihrer Arbeitsstelle. Ein einziger hatte eine Blume dabei, eine langstielige, weiße Rose, für einen trauergebrochenen Lover entschieden zu wenig, fand Karim. Dennoch fasste er den Mann schärfer ins Auge, registrierte Einzelheiten: Ein Deutscher, etwa um die Vierzig. Dichtes, dunkles, sehr kurzes Haar. Das Gesicht schmal und kantig, eher finster. Der Mann ließ sich Zeit, ans Grab zu gehen, ließ die anderen vor, bis nur noch er und Karim mit Yasmina übrig blieben. Als er schließlich an den Sarg trat und die Rose niederlegte, verharrte er einen Moment mit gesenktem Kopf, ging dann schnell zum Ausgang.
Karim tippte Yasmina an, wies mit verstohlener Geste zu dem Fremden, aber sie schüttelte den Kopf, kannte ihn nicht. Ein wenig hatte Karim erwartet, dem seltsamen Kerl mit dem Hund auf dem Friedhof zu begegnen, ihn wie einen durstigen Neo-Vampir zwischen den Gräbern oder zumindest vor dem Tor herumstromern zu sehen, doch entweder war der Mann nicht schlechtwetterfest oder sein zweimaliges Auftreten in Yasminas Umfeld Zufall gewesen.
Reiner Zufall war es jedenfalls ganz sicher, dass Karim sich noch einmal umwandte, als die Trauergäste längst in ihre trockenen Autos geflohen und er und Yasmina bereits selbst fast am Tor angelangt waren. Und da endlich sah er, was er die gesamte Zeit erwartet hatte zu sehen: einen schwarzhaarigen, dünnen Mann mit einem Bouquet roter Rosen, der vor dem Grab niederkauerte, und obwohl er es bei dem stärker werdenden Regen nicht wirklich erkennen konnte, war Karim sicher, dass die Schultern des Mannes von heftigem Weinen bebten.
Er ließ Yasminas Arm los, drückte der Schwester den Wagenschlüssel in die Hand, sagte, dass er gleich nachkommen werde. Mit raschen Schritten, innerlich den Regen verfluchend, lief er den gekiesten Weg zurück. Der einsame Trauernde musste das Knirschen seiner Schritte gehört haben, oder irgendein merkwürdiger Instinkt warnte ihn; jedenfalls blickte er für einen Moment auf, bemerkte den Journalisten, ließ die Rosen fallen und rannte davon, hangabwärts, tiefer in den Friedhof hinein.
»Moment! Warten Sie! Ich will bloß mit Ihnen reden!«, schrie Karim ihm über die Stille der Gräber hinterher, doch der andere blieb nicht stehen, sprintete fort, als seien ihm der scheitern persönlich oder wenigstens ein Dutzend Killer auf den Fersen, und war im nächsten Augenblick zwischen Kreuzen, Büschen und Bäumen verschwunden.
Karim verspürte wenig Lust, den Mann zwischen den Grabsteinen zu suchen, erst recht nicht mit dem für seinen Geschmack viel zu nassen Aprilregen im Nacken. Ganz abgesehen davon, dass der andere mit Leichtigkeit durch das untere Tor entwischen konnte, auf die Friedensstraße hinaus. Unwillig zog der Ägypter die Schultern hoch, um sich vor dem böig auffrischenden Wind zu schützen, bückte sich nach den Rosen, die verloren auf dem Kies lagen, die Köpfe blutrote Tränen tiefster Trauer, las die goldene Schrift auf der weißen Schleife:
I know that I just need you like I’ve never done before Charlie.
Sein Gedächtnis brauchte nicht lange, um die Zeile dem richtigen Beatles-Song zuzuordnen: Help! … Help me if you can, I’m feeling down … Und für einen kurzen Moment spannte sich ein filigraner Regenbogen der Anteilnahme von ihm zu dem geflüchteten Fremden.
Etwas ist tatsächlich seltsam an dieser Geschichte!
Eigentlich hatte er Nachtvogel nicht davon erzählen wollen, doch wem sonst sollte er seine Gedanken mitteilen? Yasmina war ohnedies mit den Nerven fertig und Joe würde sofort eine Story für die Zeitung wittern, alles ungehemmt an die Öffentlichkeit zerren. Eine junge Frau springt vom Dach einer Lagerhalle, anscheinend, ohne vorher irgendwelche Anzeichen von Depression zu verraten. Dann taucht dieser komische Skin in der Teestube meiner Schwester auf. Und auf der Beerdigung rennt der Geliebte der Toten davon, als seien sämtliche Hunde der Hölle hinter ihm her …
Er blieb vor dem Computer sitzen, die Tasse Kaffee und die Schale Knabber-Sonnenblumenkerne neben sich auf dem Schreibtisch, wartete auf ihre Antwort, froh, dass sie überhaupt daheim war, denn allzu oft schien sie nicht Zeit zum gemütlichen Plauschen zu finden.
Verstehe ich recht, dass du glaubst, da stimmt irgendwas nicht an der Selbstmordversion?, hakte Nachtvogel nach, aber Karim hatte nicht sofort eine Antwort parat.
Weiß selbst nicht, was ich glaube. Er überlegte, fügte schließlich eine Zeile hinzu, ehe er auf Senden klickte: Wahrscheinlich habe ich einfach eine unausgelastete Fantasie …
Zwei Tage später, zum Maianfang, schaltete das Wetter, dem Kalender zum Trotz, vehement auf Sommer. Gärten und Parks dankten die unverhoffte Wärme mit einer allgegenwärtigen Blütenpracht von Rhododendren und Jasmin; vor Karims Haus schoben hoffnungsvolle Lilien dicke, knospende Blütenstängel der Sonne entgegen. Yasmina stellte eine Schale fröhlich-bunter Knollenbegonien links vor dem Tea Shop auf und platzierte ihren noch winterschwachen, leicht angestaubten Oleander rechts von der Tür. Joe marschierte im T-Shirt in die Redaktion, statt von Frühjahrsmüdigkeit von penetranter Munterkeit geplagt.
»Schreib über das Frühjahr, Karim, die Leute lieben das! Es macht den Frühling wirklicher, wenn sie in der Zeitung darüber lesen!«
Karim hörte nicht, griff nach dem klingelnden Telefon. »Redaktion Donau zweitausend, Sie sprechen mit … Oh, ya uchti, was gibt’s?«
»Deine Schwester?«, fragte Joe überflüssigerweise. »Was Wichtiges? Sag bloß nicht, dass du einen freien Tag brauchst!«
»Nein … Es war wegen Mona Wahied. Die Polizei hat die Ermittlungen eingestellt – beziehungsweise beschlossen, sich gar nicht erst richtig mit Ermittlungen abzuquälen.«
»Wer ist Mona Was-auch-immer?«
»Mona Wahied. Die Tote vom Osthafen.«
»Ach, der Selbstmord.«
»Meine Schwester glaubt nicht an Selbstmord.« Erst als er es aussprach, fiel Karim ein, dass er das genau Joe nicht hatte verraten wollen. Zu spät! Der Redaktionschef fing schneller Feuer als ein benzingefüllter Tankwagen; Karim blieb nichts anderes übrig als zu berichten.
»Dieser Scheißpolizist!« Wieder etwas, das Joe nichts anging, doch Karim war mittlerweile zu aufgebracht, um groß darüber nachzudenken, was er preisgab und was nicht. »Eine versoffene Araberin, das sei kein Fall, hat er zu Yasmina gesagt! Abschaum, das ist Mona für den, dabei hat er sie nicht mal gekannt! Und überhaupt hat er keine Zeit für Selbstmörder, weil er seine Leute für dieses bayernweite Neonazi-Treffen vorbereiten muss, das – vielleicht – demnächst in Regensburg stattfinden soll. Dabei …«
»Warte, Karim! Eine Story! Das könnte eine Story werden, für so was hab ich einen Riecher!« Joe setzte sich auf Karims Schreibtischkante, sprang gleich wieder auf. »Häng dich dran, Mann, an diesen ominösen Selbstmord! Find die Hintergründe raus, irgendwie, aber ohne Aufsehen! Damit können wir endlich mal die Mittelbayrische ausbooten, wetten?!«
Die Mittelbayrische, Regensburgs altgediente und altverdiente Tageszeitung. Nur jemand mit Joes pathologischem Optimismus konnte glauben, dass ein läppisches, niveauloses Sensationsblatt wie ihres den Rivalen Nummer Eins in irgendeiner Hinsicht übertrumpfen könne. Wo immer Karim auftauchte, die Kollegen von der Mittelbayrischen waren längst vor ihm da …
»Ein mysteriöser Todesfall, ein geheimnisumwitterter Lover, der inkognito bleiben will … Mann, Karim, das ist der Stoff, aus dem man Träume strickt! Stories, meine ich!« Joe stand da, die Arme ausgebreitet, das selige Lächeln eines Verkündigungsengels um die Lippen. »Das hat alles, was die Leute lieben, Tragik und Romantik zugleich, was unsere Leser eben so anspricht! Den berühmten human interest, du verstehst? Glaub’s mir, Kumpel, verlass dich auf mich und meinen Instinkt!«
So blöd müsst’ ich sein, dachte Karim, was er jedoch nicht laut auszusprechen wagte; schließlich befand er sich in der Probezeit. Und so stand er zehn Minuten später in dem herrlichen Frühlingstag und fragte sich, wo er mit der ihm wortreich aufgenötigten Recherche anfangen sollte. Vielleicht hatte die Angelegenheit ja sogar irgendwo ihr Gutes? Zumindest Yasmina würde glücklich sein, dass...




