Erzählungen
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-423-43812-4
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Schriftsteller-Dissident flieht aus der Öffentlichkeit, um sein Leben zu retten. In der Installation ›Das Deutschlandgerät‹ findet er ein Muster, um die Gegenwart zu deuten.
'Immer wenn man etwas weiß, gibt es gleich wieder etwas, das man nicht weiß.' Mit dieser Behauptung verwickelt ein Schweizer Verleger unseren Erzähler vor Delacroix' ›Tasso im Irrenhaus‹ in ein ambivalentes Gespräch, das für einen Moment seltener Klarheit sorgt.
Und in einem Berliner Hospiz hält der Maler Grützke fröhlich Hof, womit er die ängstlichen Besucher überrascht und ihnen Stunden von glücklicher Intensität beschert.
Die Kunst und das Leben: tragisch und komisch, abgründig und heiter. Wirft uns das eine virtuos aus der Bahn, setzt uns die andere wieder aufs Gleis. Oder ist es umgekehrt?
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Das Deutschlandgerät
Brief an eine Museumsdirektorin
Für Thomas Fritz Liebe Frau ***, es tut mir leid, dass ich Sie in die unangenehme Situation gebracht habe, mich mahnen zu müssen. Unsere Abmachung habe ich keineswegs vergessen, im Gegenteil, sie beschäftigt mich mehr, als mir lieb ist. Ich muss Ihnen sogar gestehen, vorsätzlich gehandelt, also das Niederschreiben dieser Zeilen hinausgezögert zu haben. Es waren nicht nur andere Aufgaben (oder meine Faulheit oder meine Angst, der Sache nicht gewachsen zu sein), die die Einlösung meines Versprechens hinauszögerten. Als ich Ihren Brief das erste Mal las, also Ihre Einladung, etwas über Das Deutschlandgerät zu schreiben, war ich mir sicher, dass dies auf Anregung von B.C. geschehe. Mir fiel erst gar nicht auf, dass Sie ihn mit keinem Wort erwähnten. Als Sie mir dann am Telefon gestanden, ihn nicht persönlich, ja eigentlich nur dem Namen nach zu kennen, hegte ich sogar einen gewissen Groll gegen Sie, weil Sie nichts von Ihrem passioniertesten Museumsbesucher wussten (ein lächerlicher Vorwurf, ich weiß) und seine Bücher nicht gelesen hatten (auch das lässt sich ja niemandem vorwerfen). Anders gesagt, ich war enttäuscht, dass alles nur ein Zufall sein sollte. Natürlich kann man es auch ganz anders sehen: Zwei kunstsinnige Menschen wie Sie und B.C., die beide in Düsseldorf leben, lieben eben auch dasselbe dort ausgestellte Kunstwerk. Ich war Ihnen zutiefst dankbar, dass Sie meiner Bitte entsprachen, den Artikel über Das Deutschlandgerät B.C. anzutragen. Erst jetzt, nach seinem Tod, habe ich manches erfahren, von dem ich mir gewünscht hätte, es bereits vorher gewusst zu haben. Nun, da der Auftrag sozusagen an mich zurückgefallen ist, muss ich Ihnen sagen, dass ich über Das Deutschlandgerät nicht schreiben kann, ohne auch von B.C. zu berichten – und von Elzbieta Kühn (andersherum müsste ich, wollte ich von den beiden erzählen, auch von diesem Kunstwerk sprechen). Warum das so ist, will ich im Folgenden zu erklären versuchen. Sie müssen dann entscheiden, ob es für Ihre Zwecke tauglich ist oder nicht. Ich weiß nicht, ob Sie ermessen können, welchen Rang oder, besser gesagt, welchen Status B.C. besaß, als ich zum ersten Mal von ihm hörte. Ich war sechzehn, als ich Gezeiten in die Hand bekam, geborgt für ein paar Tage von einer Mitschülerin, eingeschlagen in Zeitungspapier der Dresdner Tageszeitung Die Union. Den 1975 bei Aufbau erschienenen Band lesen zu dürfen, der ja sein einziges Buch im Osten bleiben sollte, kam einer Initiation gleich. Ja allein die Existenz dieses Buches, das offenkundig die Hürden der Zensur passiert haben musste, erschien mir ungeheuerlich, so ungeheuerlich wie Brechts Buckower Elegien, die in der Vitrine zwischen den beiden Klassenräumen für den Literaturunterricht lagen. Aufgeschlagen war ausgerechnet jene Seite mit dem Gedicht zum 17. Juni »Die Lösung«. Damals musste man kein Leser sein, um zu wissen, wer B.C. war und dass er einige Monate im Gefängnis gesessen hatte und dass diese Haftstrafe dem, was man im Osten das »Ansehen der DDR« nannte, furchtbar geschadet hatte. Und nun durfte ich tatsächlich etwas von jenem B.C. lesen (und hätte, wäre ich in der Schule mit seinem Buch erwischt worden, nicht mal etwas Verbotenes getan, denn es war ja bei uns erschienen). Ich begriff gerade so viel davon – oder gerade so wenig –, dass die bewundernde Distanz zu seinem Namen und seinem Buch gewahrt blieb. Mache ich mich verständlich? Ich war überzeugt gewesen, die geheime Botschaft des Buches nicht entdeckt zu haben, für das Eigentliche noch nicht reif zu sein. Mir blieb vor allem sein Tonfall in Erinnerung. Ich war im Grunde sogar enttäuscht, weil von dem Staatssicherheitsmann so selbstverständlich gesprochen wurde wie von allen anderen Figuren, er war überhaupt nicht kritischer dargestellt. Das schob ich natürlich auf die Zensur. Trotzdem hatte in meinen Augen jemand, der ein Buch wie Gezeiten schreibt, sich nicht den Mund verbieten lässt, der ins Gefängnis geworfen wird, der sich weigert, die DDR zu verlassen, und gegen seinen Willen in den Westen abgeschoben wird, wo er nun endlich und verdientermaßen als Schriftstellerdissident gefeiert wird, alles richtig gemacht. Auch ich würde mich dereinst so aufrecht und untadelig verhalten, wenn ich nur erst mal ein Buch wie Gezeiten zu Wege gebracht haben würde. Im Juli 1996 begegnete ich B.C. zum ersten Mal persönlich. Wir sollten in der Akademie der Künste in Berlin die sogenannten »Sommerlesungen« eröffnen. Ich, der Debütant vom letzten Herbst, war als Lückenbüßer erst ein paar Tage zuvor eingeladen worden und saß nun plötzlich neben B.C. und einem dritten, dessen Name nichts zur Sache tut, an einem Tisch und vor demselben Publikum. B.C. hatte mich mit einem kurzen Nicken begrüßt, so wie man eben den Gruß eines Unbekannten erwidert. Ich weiß noch, dass er als Erster las, was mich befremdete, denn eigentlich beschließt ja der Prominenteste die Lesung. B.C. sagte »Guten Abend« und entschuldigte sich beim Publikum für die Begrüßung der Moderatorin – sie habe den »verehrten Damen und Herren« für deren »zahlreiches Erscheinen« gedankt. Man könne nur für das Erscheinen danken, das wolle er gern tun, darüber freue er sich, aber »zahlreich« könne nun mal niemand erscheinen, selbst bei größter Anstrengung nicht. Einige klatschten. Im nächsten Atemzug bedankte sich B.C. bei der Zerknirschung demonstrierenden Moderatorin für die schöne Einführung und kündigte an, nun aus einem Manuskript zu lesen, aus dem vielleicht einmal eine Art Autobiografie entstehen könnte. Er begann nach einer kurzen Pause, in der er dem Klang einer imaginären Stimmgabel zu lauschen schien, seinen Text vorzutragen. B.C. las langsam, übertrieben langsam, als fürchtete er, mit weniger Achtsamkeit die Wörter nicht auf den ihnen bestimmten Platz setzen zu können. Insbesondere fiel das bei den Dialogen auf, Wortwechsel, die oft nur aus zwei oder drei Einsilbern bestanden. Er beschrieb – seine Familie hatte in der Nachkriegszeit am Stadtrand von Chemnitz gewohnt –, wie er als Junge den Besuch eines fremden Mannes, der sein Vater sein sollte, erlebt hatte. Erst nach mehreren Wochen war er bereit gewesen, mit diesem Mann zu reden, obgleich er ihm nicht unsympathisch war, sich nicht aufdrängte, ihm und seinen Geschwistern Zeit ließ und vorsichtig um sie warb. Es wäre mit diesem Fremden alles in Ordnung gewesen, hätte er nicht den Anspruch gehabt, der Vater zu sein. Der Junge wollte keinen Vater mehr. Über Väter hatte er nicht viel Gutes gehört. Trotzdem gewinnt der Vater das Vertrauen seines Sohnes. Doch gerade als sich der Sohn entschieden hat, als letztes der Geschwister den Vater zu akzeptieren, verschwindet dieser spurlos. Und es bleibt offen, ob er sich einfach nur aus dem Staub gemacht hat, ob er dazu genötigt wurde oder ob man ihn »abgeholt« hat. Wenn ich meiner Erinnerung glauben darf, dann war das, was mich eigentlich an diesem Ausschnitt faszinierte, die Perspektive des Erzählers. Es gab keinen Ich-Erzähler, wie man ihn bei einer Autobiografie erwartet. Er sprach von sich, doch war er dabei distanziert, als beobachte er sich selbst mit den Augen dieses Fremden. Ich saß neben B.C. und applaudierte ihm, wie man so sagt, aus ganzem Herzen. Ich war ihm dankbar für diese Seiten, für diese klare und einfache Prosa, die so bildhaft und eingängig war. Man glaubte nicht, dass dieser Autor auch die Gezeiten geschrieben hatte, so anders klang er hier. Ich sollte nach ihm lesen. Die Moderatorin verwischte allein dadurch, dass sie mich vorstellte und lange darüber sinnierte, warum deutsche Literatur und Unterhaltsamkeit so lange nicht zusammengefunden hätten und erst eine Generation jüngerer Autoren auf den Plan habe treten müssen, um breite Leserkreise für die deutsche Literatur zurückzugewinnen, die Wirkung von B.C.s Vortrag. Im Grunde setzte ihr Gerede B.C. herab. Während sie sprach, ließ sie ihn allerdings kaum aus den Augen, als ginge es ihr allein um die Wirkung auf ihn. Ich las wohl noch schneller als sonst, vielleicht weil ich das Gefühl nicht loswurde, die falsche Geschichte ausgewählt und mehr an das Publikum als an meinen Nachbarn gedacht zu haben. Ich prüfte mich selbst mit den Augen von B.C. und bemerkte nun, wie geradezu simpel meine Geschichte gestrickt war, die sich als einfache Steigerung abspulte. Die Lacher aus dem Publikum, die mir normalerweise Sicherheit verliehen, bewirkten nun das Gegenteil. B.C., so fürchtete ich, könnte darin nur Anbiederung sehen. Und je mehr sich das Publikum amüsierte, desto härter würde sein Urteil ausfallen. Als ich dann neben mir ein Lachen, ein glucksendes, fast kindliches Lachen vernahm, wäre ich beinah der Versuchung erlegen, meine Lesung zu unterbrechen, um mir den Urheber dieses Lachens anzusehen. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich schließlich, wie sich der Oberkörper meines Nachbarn bewegte, ja wie er vom Lachen regelrecht geschüttelt wurde. B.C. lachte! Und es war kein höhnisches Lachen. Ich war wie befreit. Und zugleich enttäuscht. Sollte es so leicht sein, B.C. zum Lachen zu bringen? Die letzten Seiten trug ich halbwegs entspannt und wohl auch langsamer vor, was meinem Text guttat. Nachdem auch der Dritte im Bunde gelesen und die Moderatorin das Publikum gebeten hatte, noch einmal für uns drei zu applaudieren, reichte ich B.C. mein Exemplar von Gezeiten, dessen Schutzumschlag mehrfach mit Tesafilm geklebt war. »Sie haben schon begriffen, wie man es macht«, sagte er und nickte in Richtung derer, die mit meinem...