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E-Book, Deutsch, 765 Seiten

Schulze Geschichte der Islamischen Welt

Von 1900 bis zur Gegenwart

E-Book, Deutsch, 765 Seiten

ISBN: 978-3-406-68856-0
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der Islam hält die Welt in Atem – die zerfallenden Staaten im Nahen und Mittleren Osten, die Flüchtlingsströme aus den Kriegsgebieten und der blutige Vormarsch des IS sorgen täglich für neue Schlagzeilen. Doch die Verkürzung des Islam auf Religion plus Terrorismus gehört zu den grundlegenden Irrtümern des Westens. Sie durch ein differenzierteres Bild der islamischen Welt und ihrer unterschiedlichen Gesellschaften zu überwinden, das ist die große Leistung dieses Buches. Reinhard Schulze schildert und erklärt die islamische Geschichte vom Beginn der Entkolonialisierung am Anfang des 20. Jahrhunderts bis zur dramatischen Situation in unseren Tagen. Er erörtert alle wichtigen politischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen und beschränkt sich dabei nicht nur auf den Nahen Osten, sondern geht auch auf die Regionen der islamischen Peripherie ein, wo Millionen von Muslimen leben. Seine glänzende Analyse der Geschehnisse seit dem 11. September 2001 macht vor allem eines deutlich – wir können die Ursachen der heutigen islamischen Mobilisierung nicht verstehen, wenn wir uns nicht mit den historischen Bedingungen vertraut machen, aus denen sie entstanden ist.
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Weitere Infos & Material


1;Cover;1
2;Titel;3
3;Impressum;4
4;Inhalt;7
5;Einleitung;13
6;Erstes Kapitel: Islamische Kultur und Koloniale Moderne 1900–1920;35
6.1;1. Die Vision von einer islamischen Souveränität;35
6.2;2. Der Umbruch 1905–1909: Die Durchsetzung des nationalstaatlichen Konstitutionalismus;46
6.2.1;Die islamische Welt um 1900;46
6.2.2;Die islamische Welt aus der Sicht eines muslimischen Intellektuellen;49
6.2.3;Die arabische Halbinsel zu Beginn des 20. Jahrhunderts;51
6.2.4;Hegemoniale Konflikte;53
6.2.5;Koloniale Krise und Konstitutionalismus;57
6.2.6;Politische Ideologien am Vorabend des Krieges;59
6.2.7;Konstitutionelle Forderungen;63
6.3;3. Die Kriegsjahre 1909–1919;66
6.3.1;Militarisierung und Kolonialismus;68
6.3.2;Italien in Libyen und der Aufstieg des türkischen Nationalismus;69
6.3.3;Das Osmanische Reich im Krieg;71
6.3.4;Der politische Stadt-Land-Konflikt;74
6.3.5;Islamischer Nationalismus und das Versprechen der Unabhängigkeit;76
6.3.6;Islam und politische Öfffentlichkeit;80
6.4;4. Die Zeit der Revolten 1919–1923;84
6.4.1;Das Ende des Osmanischen Reichs;84
6.4.2;Rebellionen in Ägypten;91
6.4.3;Der Arabische Aufstand 1916–1920;92
7;Zweites Kapitel: Bürgerlicher Nationalismus und Staatliche Unabhängigkeit 1920–1939;99
7.1;1. Das Kalifat zwischen Republikanismus und Royalismus;99
7.1.1;Die tripolitanische Republik;99
7.1.2;Die Rif-Republik;102
7.1.3;Die Abschafffung des Kalifenamts;105
7.1.4;Indische Reaktionen;110
7.1.5;Der Konflikt um den ?i??z 1924–1926;111
7.1.6;Die Suche nach einem neuen Kalifen;117
7.2;2. Islamische Nationalpolitik und die Deislamisierung der politischen Öfffentlichkeit;118
7.2.1;Turkestan unter sowjetischer Herrschaft;121
7.2.2;Die Erhebung der Basma?i;124
7.2.3;Islamischer Nationalkommunismus in der UdSSR;126
7.2.4;Neue Ordnung in Afghanistan;129
7.2.5;Die Rettung der Monarchie in Persien;134
7.2.6;Islamische Politik in Algerien;136
7.2.7;Indonesische Formen islamischer Politik;139
7.3;3. Die Weltwirtschaftskrise und die neuen islamischen Bewegungen;143
7.3.1;Die Weltwirtschaftskrise in der islamischen Welt;145
7.3.2;Die Gründung der ägyptischen Muslimbruderschaft;149
7.3.3;Islamische Politik und Palästina;154
7.3.4;Die politische Transformation der islamischen Öfffentlichkeit;161
7.3.5;Faschismus in der islamischen Öfffentlichkeit;169
8;Drittes Kapitel: Die Zeit der Restauration 1939–1958;173
8.1;1. Die islamische Welt im Zweiten Weltkrieg;173
8.1.1;Kriegsfolgen;174
8.1.2;Wechselnde Bündnisse;177
8.1.3;Ein oder zwei Indien?;179
8.1.4;Islam im Rahmen einer Staatsideologie: Indonesien;183
8.1.5;Die politische Wende in Marokko und Algerien;187
8.2;2. Eine arabische, eine islamische Nation?;191
8.2.1;Der Beginn einer arabischen Politik;192
8.2.2;Eine grenzüberschreitende islamische Politik;195
8.2.3;Neue Staatsgründungen in der islamischen Welt;199
8.2.4;Pakistan 1947;200
8.2.5;Israel / Palästina 1948;202
8.2.6;Libyen 1951;207
8.2.7;Das Scheitern der Nationalisten im Jemen;209
8.3;3. Die «liberale Dekade» oder die Revolte gegen die alte Ordnung;212
8.3.1;Die ägyptische Republik;212
8.3.2;Die Islamische Befreiungspartei in Palästina;215
8.3.3;Nationalpolitik im Iran 1951–1953;216
8.3.4;Das Ende der «Liberalen Dekade»;220
8.3.5;Saudi-Arabien;222
9;Viertes Kapitel: Islamische Kultur und Republikanismus der Dritten Welt 1956–1973;227
9.1;1. Der Triumph der Dritten Welt;227
9.1.1;Suez 1956;228
9.1.2;Islam als Kultur der nationalen Befreiung;231
9.1.3;Der Niedergang des Royalismus;233
9.1.4;Libanon und Syrien 1958;234
9.1.5;Irak 1958;239
9.1.6;Republikanismus im Jemen;241
9.2;2. Die Kultur der Nationalen Befreiung;244
9.2.1;Algerien im Krieg;244
9.2.2;Islamische Nationalpolitik in Nordafrika;251
9.2.3;Regionalismus und Revolution in Indonesien;256
9.2.4;Algerien auf dem Weg in den Einparteienstaat;260
9.3;3. Der islamische Block und der Beginn der saudischen Hegemonie;262
9.3.1;Saudi-Arabien und die neue islamische Öfffentlichkeit;262
9.3.2;Islam als Ideologie der sozialen Befreiung;267
9.3.3;Islamische Dissidenten in Iran;270
9.3.4;Der Stellvertreterkrieg im Jemen;273
9.3.5;Der ba?? an der Macht;276
9.4;4. Der Niedergang des Republikanismus der Dritten Welt;281
9.4.1;Eine neue palästinensische Nationalpolitik und der Sechs-Tage-Krieg;285
9.4.2;Die saudische Hegemonie setzt sich durch;290
9.4.3;Der Rückzug aus dem Jemen;294
9.4.4;Die Durchsetzung der PLO und die islamische Öfffentlichkeit;296
9.4.5;Islamischer Republikanismus in Libyen;299
10;Fünftes Kapitel: Die Durchsetzung der Islamischen Ideologien 1973–1989;301
10.1;1. Die Krise der Jahre 1973 und 1974;301
10.1.1;Der Beginn der politischen Sezession;301
10.1.2;Die Sezession von Bangladesch;306
10.1.3;Die neuerliche Rekonstruktion der islamischen Öfffentlichkeit;309
10.1.4;Transnationale Verflechtungen;313
10.1.5;Staatliche Reaktionen, der Oktoberkrieg und der Ölboom;315
10.1.6;Die Politik der wirtschaftlichen Öfffnung;319
10.1.7;Islamische Avantgarden in Ägypten;321
10.2;2. Ethnizität und die Vollendung der islamischen Ideologien;324
10.2.1;Ethnizität und Befreiungsbewegungen in der islamischen Welt;327
10.2.2;Perspektivwechsel im politischen Feld;330
10.2.3;Der Krieg in Libanon;333
10.2.4;Der Islam als Instrument nationalstaatlicher Restauration: Malaysia und Sudan;335
10.2.5;Islamische Politik in Malaysia;335
10.2.6;Politischer Partikularismus im Sudan;337
10.2.7;Neue Fronten: der ägyptisch-israelische Friedensschluss;339
10.2.8;Die islamische Revolution in Iran;342
10.3;3. Anni horribiles in der islamischen Welt: 1979–1989;349
10.3.1;Die Krise von Mekka 1979;350
10.3.2;Der Krieg in Afghanistan und die Islamisierung Pakistans;354
10.3.3;Der iranisch-irakische Krieg;364
10.3.4;Die Aporie der islamischen Bewegungen;369
10.3.5;Die gescheiterte Islamisierung im Sudan;374
10.3.6;Brotunruhen in den achtziger Jahren;377
10.3.7;Eine erste Umwertung der islamischen Ideologien;380
11;Sechstes Kapitel: Die Erosion der Islamischen Öffentlichkeit;385
11.1;1. Eine mythische Erneuerung des Nationalismus?;385
11.1.1;Der Zusammenbruch der ideologischen Weltendie;385
11.1.2;Erhebung in Israel / Palästina;390
11.1.3;Kriegsende in Libanon;395
11.1.4;Der Krieg um die Hegemonie über Afghanistan (1987–1994);398
11.1.5;Ethnische und islamische Sezession in der UdSSR;400
11.1.6;Die Tschetschenien-Kriege;407
11.2;2. Die islamische Welt nach dem Ende des Ost-West-Konflikts;415
11.2.1;Ein neuer Systemkonflikt?;415
11.2.2;Verkehrte Fronten: der Krieg um Kuwait 1990 / 91;420
11.2.3;Das Plädoyer für eine «offfene islamische Gesellschaft»;424
11.2.4;Algerische Bemühungen um die Demokratie;425
11.2.5;Desintegration der Gesellschaft in Algerien;431
11.3;3. Vom Ende der Hofffnung auf eine islamische Souveränität;438
11.3.1;Kein neuer Royalismus;438
11.3.2;Ethnisierung des Islam: Der Krieg in Bosnien-Herzegowina;441
11.3.3;Gescheiterte Staaten – Gescheiterte Gesellschaften: Somalia;445
11.3.4;Islam, Ethnizität und Ultrareligiosität;450
11.4;4. Zwischen Zivilgesellschaft und Militanz;456
11.4.1;Religion und Gesellschaft als normative Ordnungen;456
11.4.2;Die verspätete Globalisierung und die Vorboten der Revolte;460
11.4.3;Islamische Demokratisierung in Iran;471
11.4.4;Der Umbruch in Indonesien;475
11.4.5;Die Modernisierung der islamischen Öfffentlichkeit in der Türkei;480
11.4.6;Der transnationale Terrorismus von al-Q??ida und die Bewegung der ??lib?n;487
11.4.7;Die palästinensische Autonomie;502
11.4.8;Der Zusammenbruch des Irak;510
11.4.9;Das Scheitern einer Einheit: Jemen 1993–2011;517
12;Siebtes Kapitel: Der Arabische Frühling und Danach;521
12.1;1. Das Verharren der republikanischen Ordnung;521
12.2;2. Der Beginn der arabischen Revolten;528
12.2.1;Der Sturz des Regimes in Tunesien;528
12.2.2;Der politische Umbruch in Ägypten und die Rückkehr der alten Ordnung;531
12.3;3. Revolte als Krieg;537
12.3.1;Ultraislamische Bünde und soziale Nischen;537
12.3.2;Syrien im Krieg;540
12.3.3;Libyen 2011–2015;544
12.4;4. Neue Fronten: Konfessionalisierung im Jemen und in Ba?rain;551
12.4.1;Der jemenitische Krieg 2012–2015;551
12.4.2;Revolte in einem Königreich: Ba?rain;556
12.5;5. Ultraislamische Bünde als neue territoriale Macht?;559
12.5.1;Der «Islamische Staat»;559
12.5.2;Boko Haram in Nigeria;567
12.5.3;Ethnizität und ultraislamische Bünde in Mali;569
12.6;Rückblick und Ausblick;573
13;Anhang;583
13.1;Anmerkungen;585
13.2;Literatur;675
13.3;Zeittafel;717
13.4;Kleines Glossar;725
13.5;Register;731
13.6;Karten;757
14;Zum Buch;765
15;Über den Autor;765


EINLEITUNG
Der Arabische Frühling (Januar 2011 bis Herbst 2012) war der erste Höhepunkt eines politischen und sozialen Umbruchs, der die moderne Ordnung in der islamischen Welt tiefgreifend veränderte. In diesem Zeitraum wurden Regime in Tunesien, Ägypten, Libyen und Jemen durch zivilen Protest und militanten Widerstand gestürzt, mörderische Kriege in Syrien, im Irak und Jemen entfesselt und Millionen Menschen zur Flucht gezwungen. Fast die Hälfte aller Menschen, die 2015 weltweit aus ihren Heimatländern flüchten mussten, stammte aus Syrien, Afghanistan, Somalia, Irak und Sudan. Ultraislamische Kampfbünde schufen neue regionale Herrschaftsgebilde, stellten alte Grenzen in Frage und setzten eine rigorose Normenordnung durch, in der Mord, Versklavung und Zerstörung von Kulturgütern zum Alltag gehörten. In unmittelbarer Nachbarschaft zu den Kriegsgebieten gediehen wie in Qa?ar, Dubai oder Abu ?aby Wohlstandsgesellschaften, die sich mit Einkaufszentren, Konzerthallen, Universitäten, Theatern und Museen schmückten. Zeitgleich reklamierte in vielen Metropolen der islamischen Welt eine Zivilgesellschaft Geltung für ihre Emanzipationsansprüche, griff die Korruption in der Herrschaftselite an und vernetzte sich weltweit mit Gleichgesinnten zu einer transnationalen Öffentlichkeit. Sie konkurrierte mit den alteingesessenen Staatseliten und mit einer wertkonservativen Mittelschicht, die mehr an Recht und Ordnung als an der Schaffung von neuen Möglichkeitsräumen für die Gesellschaft interessiert waren. Zudem bestimmten neue konfessionelle Bündnisse die zwischenstaatliche Ordnung, die zugleich in das Macht- und Interessengefüge einer neuen internationalen Blockbildung geriet. Der Arabische Frühling stellte nur einen relativ kurzen Moment dieses Umbruchsprozesses dar, der sich schon in den 1980er Jahren angedeutet hatte. Schon damals hatte es erste Hinweise darauf gegeben, dass die moderne Ordnung in der islamischen Welt brüchig geworden war und dass die Begriffe «Religion» und «Gesellschaft» bei der Gestaltung der sozialen, politischen und kulturellen Ordnung der Nationalstaaten in der islamischen Welt deutlich an Wirkungsmacht verloren hatten. Noch im frühen 20. Jahrhundert hatte unter muslimischen Denkern der Konsens bestanden, dass der Islam aus den Gelehrtenstuben, Moscheen und Schulen zu befreien sei und in einer neuen politischen Öffentlichkeit verankert werden sollte. In einer großen Bildungs-, Reform- oder Erweckungsbewegung sollte der Islam «erneuert» und zu einer Kraft werden, die die Integration der Menschen in den jungen, meist noch einer kolonialer Hoheit unterstehenden Nationalstaaten gewährleisten sollte. «Islam» und «Vaterland» waren ein rhetorisches Bündnis eingegangen, das sich in einer neuen islamischen Bürgerlichkeit verfestigte. Dieser Islam hatte nur noch wenig mit dem Islam der Gelehrten zu tun, die bislang für sich das Auslegungsprimat reklamiert hatten. Natürlich bediente sich der Islam der Moderne auch der vielfältigen islamischen Traditionen, um den bürgerlichen Welten eine Bedeutung zuzuweisen. Zugleich pochten die muslimischen Modernisten darauf, dass der Islam eine autonome, selbstbegründete Ordnung darstelle, die der Gesellschaft komplementär gegenüberstehe. Der Islam galt als Religion, die die moralische Grundlage für die moderne Ordnung zu bilden habe. Manchen ging dies nicht weit genug. Sie forderten, dass auch die Normen und Regeln der Gesellschaft islamisch definiert werden müssten. Der Staat habe dafür Sorge zu tragen, dass solche Regeln auch durchgesetzt werden. Die islamische Bürgerlichkeit war somit politisch keineswegs einheitlich. Emanzipatorische Vorstellungswelten konkurrierten mit konservativen Einstellungen. Der Islam wurde im engeren Sinne des Wortes «politisch» gedacht. Er sollte seinen Platz in der Öffentlichkeit haben, die zu einer der tragenden Säulen moderner Gesellschaftsordnungen geworden war. Es war ein Islam der Zeitungen und der politischen Debatten, der Parteien, Clubs und Vereinigungen, der Ansprachen und Demonstrationen. Es war ein Islam, der in einem Netzwerk von zum Publikum versammelten Privatleuten (Jürgen Habermas) angesprochen wurde, um den dort verhandelten Meinungen Gehör und Geltung zu verschaffen. Innerhalb der politischen Öffentlichkeit der Nationalstaaten war ein distinktes islamisches Feld entstanden, dem ein neuer islamischer Ausdruck des bürgerlichen Habitus entsprach. Lebensstil, Sprache, Moden, Kleidung, Einstellungen, Konsum und Geschmack waren formal nicht vom Habitus säkularer Akteure zu unterscheiden. Islamisch wurde die Bürgerlichkeit allein durch die Rechtfertigung von Bildung, Werten und Normen im Rückverweis auf islamische Traditionen. Dies aber konditionierte nicht die Inhalte politischer, das heißt öffentlicher Geltungsansprüche. Vielmehr waren es stets die im frühen 20. Jahrhundert allgemein üblichen Denkmuster, die eine partielle Islamisierung erfuhren. Im Kern wurde der Islam in der politischen Öffentlichkeit als «Nation» neugedeutet. «Nation» konnte sich auf die Bevölkerung eines existierenden kolonialen Nationalstaats beziehen oder als Ideal der Gesamtheit aller Muslime ausgelegt werden. Da aber die politische Öffentlichkeit fast immer durch die bestehenden Nationalstaaten definiert und begrenzt war, überwog die Ausdeutung des Islam als eine Vielzahl von «Nationen». Diese konstituierten nun eine «islamische Welt» (al-?alam al-islami), von der in der arabischen und osmanischen Presse seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gesprochen wurde.[1] Eher konservative Kreise der islamischen Öffentlichkeit zogen es vor, von einer «islamischen Umma» zu reden. Dabei trugen sie der Tatsache Rechnung, dass das alte arabische Wort umma sinngleich mit dem europäischen Begriff «Nation» geworden war.[2] Daher war es nun auch möglich, von «islamischen Nationen» (umam islamiya) im Plural zu sprechen.[3] Die Idee einer «islamischen Umma» gehörte so durch und durch zur modernen Vorstellungswelt islamischer Bürgerlichkeit. Die Modernität der islamischen Öffentlichkeit kreierte einen Islam, der frei von Geschichte zu sein schien. Er fand sein Abbild allein in der idealisierten islamischen Frühzeit, die nun als «klassische Zeit» galt und zur wichtigsten Ressource für die Gewinnung von Aussagen wurde, um die Teilhabe an der Moderne zu rechtfertigen. Damit aber die islamische Frühzeit diese Funktion zeitenunabhängiger Autorität übernehmen konnte, musste sie selbst so historisiert werden, dass sie als «wirkliches» und «wahres» Geschehen gelten konnte. Diese Historisierung betraf auch den Propheten Mu?ammad, der nun weniger als spiritueller Bezugspunkt einer Frömmigkeit, sondern mehr und mehr als eine reale historische Persönlichkeit porträtiert und heroisiert wurde. Dies führte zu einer gewissen Konvergenz der Vorstellungen islamischer Bürgerlichkeit mit denen islamischer puritanischer Gemeinschaften. Umgekehrt bedingte die hegemoniale Stellung der islamischen Öffentlichkeit im Geflecht islamischer Diskurse, dass auch Vertreter des islamischen Gelehrtentums, die sich bislang als die eigentlichen «Erben der Propheten» wähnten, zu öffentlichen Akteuren wurden. Dies gelang natürlich nur unter der Bedingung, dass sie ihren Islam an den akzeptierten diskursiven Rahmen der Öffentlichkeit anpassten. Manche Gelehrten propagierten so zum Beispiel ihre sufische Tradition als Ethik, andere ihre Rechtstradition als Ausgestaltung moderner Rechtsordnung. Die islamische Öffentlichkeit bildete so seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts einen der wichtigsten sozialen Orte des Islam. Dieser «öffentliche Islam» unterstand selbst der Hegemonie moderner Wissens- und Ideenwelten. Er arbeitete mit Themen wie Staat, Politik, Gesellschaft, Wissenschaft, Kunst, Kultur, Geschichte, erörterte Fragen des Rechts in Nationalstaaten, der zeitgenössischen Philosophie und Ethik und behandelte die Komplexe sozialistischer, liberaler und konservativer Weltvorstellungen. Die Grundierung bildete zum einen die sozialmoralische Selbstverortung im Geflecht moderner Weltvorstellungen, zum anderen die In-Wert-Setzung islamischer Traditionen zur Rechtfertigung von Geltungsansprüchen. Dieses Gefüge konstituierte eine «islamische Rede», dessen lexikalisches Repertoire aus einer Mischung moderner und islamischer Begriffe, Traditionen und Symbole bestand. In dieser Sprache konnten alle Ideenwelten der Moderne an- und ausgesprochen werden. Die islamische Rede diente so vornehmlich dazu, Geltung dadurch zu beanspruchen, dass der Islam explizit in Wert gesetzt wurde. Damit grenzten sich die Akteure der islamischen Öffentlichkeit deutlich von jenen ab, die im Islam keine geeignete Ressource sahen, um die Ideenwelten der Moderne zum...


Reinhard Schulze, geb. 1953, ist Professor für Islamwissenschaft und Neuere Orientalische Philologie an der Universität Bern und lehrte als Gastprofessor an der New York University und der Harvard University. Er ist Herausgeber der Reihe „Social, Economic and Political Studies of the Middle East and Asia“.


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