Essays – Studien – Miszellen. Mit einem Geleitwort von Peter Wollny
E-Book, Deutsch, 824 Seiten, Format (B × H): 155 mm x 230 mm
ISBN: 978-3-374-04838-0
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Musikwissenschaft Musikgattungen Geistliche Musik, Religiöse Musik
- Geisteswissenschaften Musikwissenschaft Musikgattungen Vokalmusik, Chormusik
- Geisteswissenschaften Musikwissenschaft Geschichte der Musik Geschichte der Musik: Barock (ca. 1600-1750)
- Geisteswissenschaften Musikwissenschaft Musikwissenschaft Allgemein Einzelne Komponisten und Musiker
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JOHANN CHRISTOPH BACH (1671–1721), »ORGANIST UND SCHUL COLLEGA IN OHRDRUF«
Johann Sebastian Bachs erster Lehrer* Merkwürdig unterbelichtet und ambivalent erscheint das Bild, das die Musikgeschichtsschreibung von dem ältesten Sohn des Eisenacher Stadtpfeifers Johann Ambrosius Bach entworfen hat.1 Im Prinzip stützt es sich lediglich auf die wenigen Mitteilungen, die Carl Philipp Emanuel Bach und Johann Friedrich Agricola in den Ende 1750 in Berlin »zusammengestoppelten« Nekrolog auf Johann Sebastian Bach aufgenommen haben2: »Johann Sebastian war noch nicht zehen Jahr alt, als er sich, seiner Eltern durch den Tod beraubet sahe. Er begab sich nach Ohrdruff zu seinem ältesten Bruder Johann Christoph, Organisten daselbst, und legte unter desselben Anführung den Grund zum Clavierspielen. Die Lust unsers kleinen Johann Sebastians zur Musik, war schon in diesem zarten Alter ungemein. In kurtzer Zeit hatte er alle Stücke, die ihm sein Bruder freywillig zum Lernen aufgegeben hatte, völlig in die Faust gebracht. Ein Buch voll Clavierstücke, von den damaligen berühmtesten Meistern, Frobergern, Kerlen, Pachelbeln aber, welches sein Bruder besaß, wurde ihm, alles Bittens ohngeachtet, wer weis aus was für Ursachen, versaget. Sein Eifer immer weiter zu kommen, gab ihm also folgenden unschuldigen Betrug ein. Das Buch lag in einem blos mit Gitterthüren verschlossenen Schrancke. Er holte es also, weil er mit seinen kleinen Händen durch das Gitter langen, und das nur in Pappier geheftete Buch im Schrancke zusammen rollen konnte, auf diese Art, des Nachts, wenn iedermann zu Bette war, heraus, und schrieb es, weil er auch nicht einmal eines Lichtes mächtig war, bey Mondenscheine, ab. Nach sechs Monaten, war diese musicalische Beute glücklich in seinen Händen. Er suchte sie sich, insgeheim mit ausnehmender Begierde, zu Nutzen zu machen, als, zu seinem größten Herzeleide, sein Bruder dessen inne wurde, und ihm seine mit so vieler Mühe verfertigte Abschrift, ohne Barmherzigkeit, wegnahm. Ein Geiziger dem ein Schiff, auf dem Wege nach Peru, mit hundert tausend Thalern untergegangen ist, mag uns einen lebhaften Begriff, von unsers kleinen Johann Sebastians Betrübniß, über diesen seinen Verlust, geben. Er bekam das Buch nicht eher als nach seines Bruders Absterben, wieder. Aber hat nicht eben diese Begierde in der Musik weiter zu kommen, und eben der, an das gedachte Buch, gewandte Fleiß, zufälliger Weise vielleicht den ersten Grund zu der Ursache seines eigenen Todes geben müssen? wie wir unten hören werden. Johann Sebastian begab sich, nachdem sein Bruder gestorben war, in Gesellschaft eines seiner Schulcameraden, Namens Erdman, […] nach Lüneburg, auf das dasige Michaels-Gymnasium.« Diese Anekdote, der die zeitübliche teleologische Komponente3 nicht fehlt – der augenschädigende Eifer im Studieren und Abschreiben legte schon in früher Kindheit den Keim für die Krankheit, die zum vorzeitigen Tode des Thomaskantors führen sollte –, zeichnet bildkräftig die Höhen und Tiefen, die der junge Johann Sebastian durchleben mußte: Seinen Unmut über das Vorenthalten der heißersehnten Handschrift, Furcht und Vorsicht bei der »unschuldigen« Entwendung und illegalen Abschriftnahme, den Schmerz über den Verlust der unter so großen Mühen hergestellten Kopie, die Langzeitwirkung der unterlassenen Rückgabe. Andererseits leidet die Glaubwürdigkeit des keineswegs nebensächlichen Berichts unter der Fehlerhaftigkeit der andeutungsweise einbezogenen Lebensdaten des älteren Bruders, zumal die Vermutung naheliegt, die Erzählung gehe in der vorliegenden Form auf Johann Sebastian Bach zurück – einschließlich dieser chronologischen Hinweise. »Wir sollten vor allem erzogen werden, überall das Bestehende als das Vollkommene zu respektieren, die Meinung des Lehrers als unfehlbar, das Wort des Vaters als unwidersprechlich, die Einrichtungen des Staates als die absolut und in alle Ewigkeit gültigen. Ein zweiter kardinaler Grundsatz jener Pädagogik, den man auch innerhalb der Familie handhabte, ging dahin, daß junge Leute es nicht zu bequem haben sollten. Ehe man ihnen irgendwelche Rechte zubilligte, sollten sie lernen, daß sie Pflichten hatten und vor allem die Pflicht vollkommener Fügsamkeit. Von Anfang an sollte uns eingeprägt werden, daß wir, die wir im Leben noch nichts geleistet hatten und keinerlei Erfahrung besaßen, einzig dankbar zu sein hatten für alles, was man uns gewährte, und keinen Anspruch, etwas zu fragen oder zu fordern. […] Ob wir uns in der Schule wohl fühlten oder nicht, war ohne Belang. Ihre wahre Mission im Sinne der Zeit war nicht so sehr, uns vorwärtszubringen, als uns zurückzuhalten, nicht, uns innerlich auszuformen, sondern dem geordneten Gefüge möglichst widerstandslos einzupassen, nicht, unsere Energie zu steigern, sondern sie zu disziplinieren und zu nivellieren. Ein solcher psychologischer oder vielmehr unpsychologischer Druck auf eine Jugend kann nur zweierlei Wirkung haben: er kann lähmend wirken oder stimulierend […] Ich persönlich danke diesem Druck eine schon früh manifestierte Leidenschaft, frei zu sein, […] und dazu einen Haß gegen alles Autoritäre, gegen alles ›Von oben herab‹-Sprechen, der mich mein ganzes Leben lang begleitet hat.« So gesehen, ist es durchaus denkbar, daß Johann Sebastian Bach die unrechtmäßig angefertigte Abschrift propter consequentiam tatsächlich erst nach dem Tode seines Bruders zurückbekommen hat, also nach 1721. Für manchen Forscher hat diese – zumindest unbewußt eingeräumte – Möglichkeit sozusagen den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Johann Sebastian Bach und seinem unerbittlichen Erzieher suggeriert. Eine solche Deutung entspricht auch durchaus Johann Sebastian Bachs kritischer und eigenständiger Haltung gegenüber jedweder Autorität und Obrigkeit – aber sie deckt sich nicht mit den familiären Tatsachen. Allein die gegenseitige Übernahme von Patenschaften (1708 und 1713) sowie die Entsendung von zwei Söhnen Johann Christoph Bachs in die Ausbildung durch Johann Sebastian (1715 und 1724) sind Umstände,10 die gegen die Annahme eines gespannten Verhältnisses sprechen. Biographisches DIE SELBSTBIOGRAPHIE VON 1700 Als wichtigstes lebensgeschichtliches Dokument zu Johann Christoph Bach muß nach wie vor die Autobiographie gelten, die der Ohrdrufer Personalchronik für Pfarrer, Kantoren, Lehrer einverleibt worden ist, deren Original aber schon bald nach seiner Auffindung (1872) auf unerklärliche Weise verschwand.24 Die nach erhaltenen Abschriften veröffentlichten Neudrucke sind nicht fehlerfrei, korrigieren sich aber gegenseitig.25 Hier der Wortlaut des bedeutsamen Schriftstücks: »Ich am Ende benannter bin ehrlichermaßen gebohren zu Erffurth ao 1671 den 16.Junij. Mein Vater Joh. Ambrosius Bach ist damals gewesen Stadt Musicus daselbst, die Mutter Elisabetha, gebohrene Lemmerhirtin, beyde nun Seelig; diese meine liebe Eltern haben mich bald zur heil. Tauffe befördern lassen. Mein Taufpathe ist gewesen Herr Christoph Herthumb, Hochgräffl. Schwartzb. Küchenschreiber, auch Hoff- und Stadt Organist in Arnstadt. Alß nun mein Seel. Vatter in Obenbemeldeten Jahr nachen Eisenach von E. E. wohlw. Rath daselbst vociret worden, so bin ich alda zur Schule und Christenthumb erzogen. Nachdem mich nun biß in daß 15te Jahr meines Alters in der Schule aufgehalten, hat mich mein Vater, weiln zur Music eine bessere beliebunge alß zum Studirn getragen, nachen Erffurth zu dem damaligen Organisten bey d. Prediger Gemeinde, Herrn Johann Pachelbeln verschickt, umb daß Clavier bey Ihm zu fassen, bey welchem mich auch in die 3 Jahre aufgehalten, in dem letzten Jahre meiner Lehre, aber bin ich zum Organisten St. Thomae beruffen worden, weiln aber eine Schlechte Besoldung und Orgelwerk, an welchem letzteren mir am meisten gelegen war, alda gehabt, habe mich zu gefallen meines Vetters, des alten Organisten, nachen Arnstadt begeben und weiln Er Alters halber seine Dienste nicht wohl verrichten konte, solche so lange versehen, biß mich Gott hierher geführet, welches geschehen ao 1690. Da ich nach abgelegter Probe vom Hochgräfl. Consistorio alhier angenomen, und weiln damals keine lust zur Schularbeit gehabt, so ist auf hohe Verordnung dieselbe arbeit Herrn Joh. Günther Schneidern anvertraut worden. Ich aber bin bey dem Orgelwerck alleine blieben. ao 1696 ist von E. E. und Hochlöbl. Magistrat von Gotha Vocation zugeschicket worden, zu der vacanten Organistenstelle, weiln aber die Zeit bey meinem Hierseyn allezeit gute Gewogenheit, So wohl von hohen alß niedrigen verspühret, habe mich nach anruffung Gottes resolviret lieber hier zu bleiben und mit der wenigen besoldung, nebst der addition, vorlieb zu nehmen. Alß nun ao 1700 der collega sextae classis Kirchner worden, habe mich an dessen Stelle wiederumb angemeldet, weiln nun mein antecessor solche gleichfalls neben dem Organisten Dienst gehabt, alß ist mir vom Hochgräfl. Consistorio solche auch gegeben worden. Nachdem nun ein 4tel Jahr in Sexta classe laboriret, ist der Quintus Hr. Joh. Günther Schneider seelig verschieden, worauff auf hohe Verordnung des Hochgräfl. Consistorij ich in...