Schulz Nilowsky
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-608-10430-1
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 285 Seiten
ISBN: 978-3-608-10430-1
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Markus Bäcker ist alles andere als begeistert, als er mit seinen Eltern an den Rand von Berlin zieht. Dort blickt er vom dritten Stock ihres Eckhauses auf ein stinkendes Chemiewerk und vorbeiratternde Züge, die alles zum Vibrieren bringen. Erst als er Nilowsky kennenlernt, wird ihm die Gegend um den Bahndamm zur Heimat. Eine Heimat voller Merkwürdigkeiten und intensiver Erfahrungen. Dazu gehören kuriose Anwendungen von Vodoo-Ritualen, um der Liebe auf die Sprünge zu helfen. Erotische Annäherungen einer Frau, die nicht älter als dreizehn sein will, sowie perfide Vertrauensforderungen von Seiten Nilowskys, die ihn fast das Leben kosten. Abgründe und Höhepunkte des Erwachsenwerdens, die Markus Bäcker ein Leben lang nicht loslassen werden. Mit großer Intensität und viel Humor schildert Torsten Schulz eine eigenartige Dreiecksbeziehung in den Wirren der Pubertät.
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7
Zwei Wochen später, an einem dunklen, verregneten Nachmittag Ende Oktober, sagte er, kaum dass er mich auf dem Nachhauseweg abgepasst hatte: »Muss zu Wally, muss ich. Soll ihr von Roberto was ausrichten. Willst du mitkommen?« Ich antwortete nicht, sondern blieb einfach an seiner Seite. Wir gingen durch eine fast zwei Kilometer entfernt liegende Bahndammunterführung. Nachdem wir eine ganze Weile schweigend nebeneinander hergelaufen waren, sagte Nilowsky: »Niemand soll sehen, dass wir zu Wally gehen. Deshalb der Umweg.« Ich fühlte mich, als sei ich an einer geheimen Mission beteiligt; von mir aus hätte der Umweg noch größer sein können. Schließlich standen wir vor einem vierstöckigen Haus, auf der anderen Seite des Chemiewerks. Nilowsky klopfte in einem bestimmten Rhythmus – zweimal lang, zweimal kurz – gegen eine heruntergelassene Jalousie im Erdgeschoss. Die Jalousie wurde hochgezogen und das Fenster geöffnet. Nilowsky stieg in die Wohnung, und ich folgte ihm. Wally war klein und kräftig und Anfang fünfzig. Wie viele Frauen in dieser Zeit trug sie eine Kittelschürze aus Dederon. Ihre braune Haarfärbung war fast herausgewachsen aus den glatt nach hinten gekämmten grauen Haaren, die ihr einen Ausdruck von Strenge gaben. »So ein Mistwetter aber ooch«, sagte sie. »Will man nischt von mitkriegen.« Sie ließ die Jalousie wieder herunter und fragte Nilowsky: »Wat willste? Und wen haste da mitjebracht?« »Das ist ein Freund von mir. Der ist absolut vertrauenswürdig, ist er.« Ich fühlte mich noch mehr als zuvor wie auf einer Geheimmission. Und dass mich Nilowsky als Freund bezeichnet hatte, trieb mir vor Freude die Tränen in die Augen. Zugleich ängstigte es mich, weil ich nicht wusste, was er mir als Freund alles zutrauen würde. »Wusste gar nich, dass du Freunde hast«, sagte Wally, doch dann musste sie gesehen haben, wie sehr sie ihn mit dieser Bemerkung getroffen hatte, und schickte schnell hinterher: »Ick freu mir, dass du mal wieder jekomm bist. Ick freu mir sehr.« Mit diesen Worten nahm sie Nilowsky in die Arme, der sich, damit das überhaupt möglich war, weit zu ihr hinabbeugte. »Ich soll dir was von Roberto ausrichten«, sagte er und löste sich aus ihrer Umarmung. »Wat will der mir denn ausrichten?«, fragte Wally, obwohl sie sich das, wie es den Anschein hatte, schon denken konnte. »Er will, dass du wieder kommst. Das will er. Dass du wieder dabei bist, will er.« »Kann ick mir vorstellen, dass er dit will«, rief Wally aus und ließ sich auf ihr Sofa plumpsen. »Aber denn soll er mir nich mit Elli eifersüchtig machen. Dit kannste ihm mal erklären.« »Elli ist sechsundsechzig«, sagte Nilowsky. »Das ist viel zu alt fürs Eifersüchtigmachen.« »Hast du ’ne Ahnung«, konterte Wally. »Zu Elli sag ick nur: Umso oller, umso doller. Außerdem bringt die ja immer die schönsten Sachen aus ’m Westen mit. Ick denk nur an die janzen Jewürze, so ’ne Jewürze kriegen die Afrikaner noch nich mal in Afrika. Nich mal in Maputo oder wie sich die ihre Hauptstadt schimpft. Wegen die Jewürze sind alle so scharf uff Elli, da macht dit ooch nischt, dass sie schon Rentnerin is. Aber jut, dit is nich allet. Dit is, für mir jedenfalls, nich der Hauptgrund.« Wally machte eine Pause, um kräftig auszuatmen. Nilowsky wusste wohl, worauf sie hinauswollte. Er erwartete es geradezu gespannt, ja lustvoll. »Wollt ihr wat trinken?«, fragte Wally. »Danke«, entgegnete Nilowsky. »Und du?« Wally blickte mich an. »Danke«, sagte ich. »Also ick brauch erstmal ’n Eierlikörchen«, stellte Wally fest, und Nilowsky sagte: »Ich trink keinen Alkohol, nie im Leben werde ich Alkohol trinken, außer mal nach dem Essen, aber das muss schon ein Festmahl sein, das muss es schon sein, damit ich ausnahmsweise mal, einen guten Weinbrand zum Beispiel.« »Hast ja recht«, bemerkte Wally einsichtig. »Nich dass ick noch so ’ne Suffdrossel werde wie dein Vater, nee, so ’ne Suffdrossel, die will ick ja nich werden, bloß nich, bloß dit nich.« Nilowsky lächelte zufrieden. »Dit is er nämlich, der Hauptgrund«, fuhr Wally fort. »Dass ick nämlich Angst hab vor dein’ Vater. Der lauert mir uff, wenn ick zu die Afrikaner geh, und deshalb geh ick nich mehr da hin. Der bringt mir noch um, wenn dit so weitergeht. Aber wat soll ick denn machen? Wenn ick zur Polizei geh, sagen die nur, ick soll nich so viel mit die Neger. Wenn ick nich so viel mit die Neger, wird er sich ooch wieder beruhigen, dein Vater, sagen die.« »Brauchst nicht zur Polizei«, erwiderte Nilowsky. »Da hast du nichts verloren.« Wieder Wallys verblüffter Blick, der diesmal auch zu mir ging. Als wäre ich möglicherweise der Grund dafür, dass sie es überhaupt nicht nötig hätte, zur Polizei zu gehen. »Warum könntest du, warum könntest du niemals mit ihm?«, fragte Nilowsky. Es klang wie in einem Verhör, und Wally prompt: »Na, hör mal! Dit kannste dir wohl selber denken.« »Vielleicht hab ich es vergessen«, antwortete Nilowsky. Wally schüttelte verwundert den Kopf. Dann sagte sie in einem Hochdeutsch, das ich ihr nicht zugetraut hätte: »Du machst mir Spaß. Er hat … Deine Mutter hat er auf dem Gewissen. Wie er sie behandelt hat, der furchtbare Kerl. Deine arme Mutter …« »Das reicht!«, unterbrach Nilowsky. Und Wally: »Hastet wohl doch nich vergessen.« »Ich wollte es noch einmal hören. Deshalb!« Seine Stimme war hart, dennoch meinte ich ein Zittern in ihr wahrgenommen zu haben. »Außerdem, wir müssen weiter, müssen wir.« »Jetzt wollt’ ick mir«, sagte Wally, »vor lauter Ärger aber trotzdem noch schnell ’n Eierlikörchen jenehmigen, da haut ihr uff eenmal ab.« Nilowsky ging zur Wohnungstür, ich folgte ihm. »Entschuldige bitte, Reiner, ick wollt dir nich zu nahe treten, aber du hast mir jefragt …« »Ist gut!«, unterbrach Nilowsky sie erneut. Kaum dass wir das Haus verlassen hatten, eroberte er sich wieder diese Haltung von optimistischem Trotz und sagte: »Das war Wally. Wie sie leibt und lebt. Und jetzt schauen wir mal bei Elli vorbei. Du solltest auch Elli kennenlernen. Hast ja gehört: umso oller, umso doller. Da werden wir jetzt hingehen.« Elli wohnte ebenfalls in einer Erdgeschosswohnung, ein paar Straßen weiter, auf dem dritten Hinterhof. Sie war eine dralle Frau, mit Kugelbauch und Kugelkopf und blondierten Haaren. »Wat denn, schickt dir Wally?« Das waren, statt einer Begrüßung, ihre ersten Worte, und Nilowsky erwiderte: »Nein, das war schon meine eigene Idee, war das. Das ist mein Freund, Markus Bäcker.« Es war das erste Mal, dass er in meinem Beisein meinen Namen sagte. Es klang feierlich und zugleich vertraut. Elli musterte mich kurz, und mit einem knappen Kopfnicken gab sie zu verstehen, dass sie gegen mich nichts einzuwenden hatte. Wir folgten ihr in die Küche. Der Geruch von verschiedenen Gewürzen, der uns schon im Hausflur empfangen hatte, drang nun mit einer Stärke auf uns ein, dass ich nur noch sehr vorsichtig zu atmen wagte, aber mit jedem Atemzug meinte, etwas Neues zu riechen, das mich belebte, ja meine Sinne anstachelte. »Ick hab vorhin jekocht«, sagte Elli stolz. »Und wenn ick koche, sind alle meine Jewürze dabei.« Auf einem Regal über dem Kochherd war eine ganze Reihe von Fläschchen, ordentlich nebeneinander aufgestellt, und auf diesen Fläschchen standen Namen, die ich noch nie gelesen hatte: Kardamom, Safran, Sesam, Chili, Piment, Muskat, Ingwer, Kurkuma, Koriander, Soumbala, Oregano. Das war etwas anderes als Salz und Pfeffer, das war nicht weniger als die große weite Welt auf einem kleinen klapprigen Küchenregal. »Staunste, wa?«, sagte Elli zu mir. »Meinste etwa, die hab ick jekooft? Nee, jekooft hab ick die nich. Die hab ick jeklaut, im KaDeWe hab ick die jeklaut. Wat dit große Kaufhaus is, drüben, inne Nähe vom Bahnhof Zoo. Und weeßte, warum ick die jeklaut hab? Janz einfach: Weil ick den Klassenfeind schädigen wollte, wenne verstehst, wat ick meine. Bin eben janz uff der Linie von unserm Staat.« Sie lachte und stampfte mit dem Fuß auf beim Lachen, sodass die Gewürzfläschchen auf dem Regal wackelten. »Ich dachte«, sagte Nilowsky in ihr Lachen hinein, »du willst, dachte ich, Roberto mit den Gewürzen imponieren.« »Ach, Roberto.« Elli winkte lässig ab, obwohl sie verärgert war über Nilowskys Behauptung. »Hör mir bloß uff mit Roberto und seine Truppe. Von mir lassen sie sich bekochen, aber scharf sind sie uff die jungen Weiber. Jeht nich jung genug. Oder wie alt is die Carola, die is doch keene achtzehn …« »Hör auf!«, rief Nilowsky laut, aber Elli sagte mit einem leicht hämischen Grinsen: »Ach, kiek mal an, die Carola. Na ja, ick hab mir sowieso schon jedacht, dass du ’n Auge uff sie jeworfen hast.« »Hab ich überhaupt nicht, hab ich das«, entgegnete Nilowsky. »Aber du musst ja immer alles ganz genau wissen. Wahrscheinlich weil du dich so toll fühlst, weil du Gewürze aus ’m Westen klaust, deshalb fühlst du dich wahrscheinlich so toll, wie ’ne Hellseherin, die alles weiß, fühlst du dich.« Nilowsky war fast ins Stottern geraten, so aufgeregt war er und so bemüht, diese Aufgeregtheit nicht zuzulassen oder wenigstens zu überspielen. »Wir müssen weiter«, sagte er und verließ schnurstracks Ellis Wohnung. Mir blieb wieder nichts anderes übrig, als ihm...