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E-Book, Deutsch, 624 Seiten
Schultz-Venrath Lehrbuch Mentalisieren (4.Aufl.)
4., vollständig überarbeitete Neuauflage 2025
ISBN: 978-3-608-11873-5
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Psychotherapien wirksamer gestalten
E-Book, Deutsch, 624 Seiten
ISBN: 978-3-608-11873-5
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ulrich Schultz-Venrath, Prof. Dr. med., ist Arzt für Psychosomatik und Psychotherapie (DGPM) und Nervenheilkunde (DGN), Psychoanalytiker (DPV, DGPT, IPA) und Gruppenlehranalytiker (D3G, EFPP, GASI) in eigener Praxis in Köln. Er ist Professor für Psychosomatik an der Universität Witten/Herdecke. Bis 2019 war er Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des EVK Bergisch Gladbach. Des Weiteren ist er Sprecher der Herausgeber der Zeitschrift »Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik - Zeitschrift für Theorie und Praxis der Gruppenanalyse« und Sprecher des Beirats für Wissenschaft und Forschung der Deutschen Gesellschaft für Gruppenpsychotherapie und Gruppenanalyse (D3G). Herausgeber der Reihe »Mentalisieren in Klinik und Praxis«.
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Kapitel 2
Theoretische Grundlagen
2.1
Ideengeschichtlich ist das angelsächsische Wort mentalization in einer ersten Erwähnung mit körperlichen Vorgängen in Verbindung gebracht worden. 1888 führte der Neurologe James Leonard Corning den Begriff »mentalization« in seiner Abhandlung über Kopfschmerz und Neuralgie ein, indem er sich auf einen gewissen Hammond bezog, der eine Reihe von sorgfältigen Urinanalysen durchgeführt habe, um Veränderungen in der Zusammensetzung des Urins bei »vermehrter Mentalization« zu ermitteln. So soll erhöhte geistige Anstrengung mit einer Zunahme der Urinmenge einhergegangen sein (Corning 2018 [1888], S. 196). Des Weiteren führte der Londoner Dermatologe, Psychiater, Psychoanalytiker und Gruppenanalytiker Dennis Geoffrey Brown) (1928–2004) den Begriff »mentalisation« schon 1985 (also vor dem Aufkommen des Mentalisierungsmodells!) in einem Aufsatz mit dem Titel »The Psychosoma and the Group« ein: »Die Bedeutung körperlicher Symptome und Ausdrücke muss entdeckt und auf der primitivsten (›wahr-lich‹ psychosomatischen oder protomentalen) Ebene für Mentalisierung erst entwickelt werden, um Somatisierung zu umgehen, oder besser noch, um aus ihr herauszuwachsen« (Brown 1985; Brown 2006, S. 21; Übersetzung U. S.-V.).
Zeitgeschichtlich beinahe parallel wurde in den 1970er Jahren der Begriff »mentalisation« von der französischen analytischen Psychosomatik als Substantiv genutzt (Luquet 1981; Marty 1991), nachdem Marty und de M’Uzan (1963) zunächst den Begriff »pensée opératoire« für konkretistisches Denken eingeführt hatten. Ein solches Denken, das nur aus Handlungen besteht und ein Nicht-Mentalisieren ausdrückt, hatten sie an psychosomatisch erkrankten Patienten beobachtet, die sich durch eine Vermeidung des Fantasielebens »auszeichneten«. Diese »Afantasie« ging später im Alexithymie-Begriff – A-lexi-thymie: die Unfähigkeit, Gefühle zu »lesen« oder wahrzunehmen – auf.
Marty und seine Kollegen gingen in guter Freud‘scher Tradition davon aus, dass Individuen oft einer bestimmten Menge von Emotionen ausgesetzt seien, die den Trieben entstammten. Die Ereignisse und Situationen, denen sie ausgesetzt seien, wirkten sich auf ihre Gefühlswelt aus und verursachten Emotionen, die sie entweder entladen oder realisieren müssten. Diese Art der Entladung oder Realisierung bestehe entweder in der mentalen Verarbeitung der Emotionen oder im Auftreten eines motorischen und sensorischen Verhaltens, das in unterschiedlicher Weise mit der mentalen Verarbeitung verbunden sei. Die Emotionen, die nicht entladen oder realisiert würden, sammelten sich an und würden früher oder später den körperlichen »Apparat« krankhaft beeinflussen. Marty war vor allem daran interessiert, die Möglichkeiten zu entdecken, die die Dynamik der Psyche in den verschiedenen individuellen Versuchen, diese Gefühle zu verarbeiten, biete (Schultz-Venrath 2024). Noch in Verbundenheit zu Freuds Aktualneurose-Konzept und Triebtheorie vertraten Marty und seine Kollegen die Ansicht, dass konkretistisches Denken nicht in der Lage sei, sich mit den Triebenergien zu verbinden, wodurch es sich antipodisch zum affektiv-sexuellen Leben verhalte. Dadurch werde der Lebenstrieb durch Desorganisation und Somatisierung gefährdet (Marty 1968). Später weitete de M’Uzan (2003) seine Beobachtungen aus und vermutete, dass auch bei Patienten mit perverser Struktur im Gegensatz zu neurotisch strukturierten die Mentalisierungsfähigkeit hochgradig eingeschränkt sei.
Ein solch konkretistisches Denken bei perversen Strukturen ließ sich z. B. in verschiedenen Tagebüchern oder zahlreichen Briefen von Ärzten, die an Vernichtungsaktionen während des »Dritten Reichs« beteiligt waren, an ihre Ehefrauen nachweisen (Chroust 1988); hier wurde detailliert und ohne erkennbare emotionale Beteiligung das Sonntagsessen, das sie zu sich genommen hatten, neben Tötungsaktionen beschrieben (Schultz 1989, S. 187):
»28. Septb. 1942
Heute Nacht bei der 8. Sonderaktion zugegen. Hstuf. Aumeier erzählt mir auf Befragen, dass das KZ Auschwitz eine Länge von 12 km und eine Breite von 8 km habe und 22 000 Morgen groß sei. Hiervon seien 12 000 Morgen unter dem Pflug und 2000 Morgen Fischteiche.
3. Okt. 1942
Heute lebendfrisches Material von menschlicher Leber und Milz sowie vom Pankreas fixiert, dazu in absolutem Alkohol fixierte Läuse von Fleckfieberkranken. […]
[…]
11. Okt. 1942
Heute Sonntag gab’s zu Mittag Hasenbraten – eine ganz dicke Keule – mit Mehlklößen und Rotkohl […]«.
Marty (1991, S. 3) führte die Fähigkeit zur »Mentalisation« auf die Quantität und Qualität der individuellen psychischen Repräsentanzen zurück. Dabei blieb allerdings die Frage, wie sich Repräsentanzen aus gegenwärtigen, aktuellen »Präsentationen« bilden, ungeklärt. Die psychischen Repräsentanzen seien die Basis des geistigen Lebens. Tagsüber lieferten sie die Basis zum Fantasieren, nachts seien sie die Elemente der Träume. Die Repräsentanzen erlaubten die Assoziation von Ideen, Gedanken und innerer Reflexion, die ständig in unseren direkten oder indirekten Beziehungen mit anderen Menschen genutzt würden.
Als Beispiel für »mentalisation« führte Marty (1991, S. 3) an:
»Ich habe mein Taschentuch in der Hand. Ich erinnere mich, dass es mir von einem verstorbenen Vetter gegeben worden ist. Ich denke also an den Tod dieses Vetters, um den sich Kollegen gekümmert haben. Ich bin ihnen dankbar für ihre Hilfe, als er krank war. Ich denke auch an meine Familie, die ich eben in der Provinz besucht habe, und ich empfinde eine gewisse Schuld, die Witwe dieses Vetters nicht besucht zu haben. Ich hatte dazu keine Zeit. Ich werde es nächsten Sommer nachholen«.
Offenbar unabhängig von der Entwicklung in Frankreich hatte schon der amerikanische Philosoph Jerry Alan Fodor (1975) eine repräsentationale Theorie des Geistes entwickelt, die davon ausgeht, dass intentionale Zustände nur mit Hilfe strukturierter mentaler Repräsentanzen realisiert werden können. Zu seiner Theorie gehört die Annahme einer Sprache des Denkens (»language of thought«), wobei der Geist mit mentalen Repräsentanzen arbeite, die nach einer mentalen Syntax zu Gedanken zusammengesetzt würden. Fodor nennt diese hypothetische Sprache auch »Mentalesisch« (»mentalese«).
Nach »mentalisation« haben inzwischen die Begriffe »mentalisieren« und »Mentalisierung« Eingang in die psychoanalytischen Wörterbücher gefunden, die sich in ihrer Bedeutung stark mit dem kognitionspsychologischen »Theory of Mind«-(ToM-) Konzept überlappen oder ihm gar entstammen. Dieses Konzept sondiert mit den sogenannten »false-belief«-Tests die Frage, ab wann Kleinkinder entdecken, dass sie selbst Wesen mit mentalen Zuständen sind; die ToM-Forschung interessierte sich für die Entwicklung der Fähigkeit oder Unfähigkeit des »mind-reading« mit der berühmt gewordenen Sally-Ann- und Smarties-Aufgabe, bei der Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) deutlich schlechter abschneiden.5 Beeinträchtigungen der Fähigkeit zu mentalisieren, d. h. der Fähigkeit, mentale Zustände sich selbst und anderen spontan zuzuordnen, führen zu Einschränkungen in der sozialen Kommunikation, auch wenn vermutlich noch andere Prozesse an sozialer Kommunikation und Interaktion beteiligt sind, wie z. B. Anpassung, Nachahmung und die spontane Bildung von In-Gruppen (Frith & Frith 2024). Anstatt die sichtbaren Präferenzen anderer zu beobachten, um vorherzusagen, was eine andere Person als Nächstes tun wird, ermöglicht das Mentalisieren Rückschlüsse auf die unsichtbaren Absichten anderer, was einen enormen Vorteil bei sozialen Interaktionen bedeutet: Bei einem Defizit aber versteht der Betroffene nicht, warum...