Buch, Deutsch, Band 86, 80 Seiten
Reihe: Reihe Lyrik
Gedichte
Buch, Deutsch, Band 86, 80 Seiten
Reihe: Reihe Lyrik
ISBN: 978-3-948336-23-3
Verlag: Kookbooks
Die Gedichte wollen mit jemandem sprechen: mit Geistern, mit Maschinen, mit Dir. Die Gedichte wollen von toten Menschen sprechen, die sie vermissen, und davon, wie das kleine Kind riecht, bevor es einschläft. Die Gedichte wollen Beschimpfungen enthalten und ebenso Elternabendvokabular. Die Gedichte enthalten unter anderem Bibliothekarinnen auf der Jagd, Könige, denen Krokodile aus der Nase tropfen, Fickgelegenheiten, einen Erbsenkoch im Ultrawahn und Blumenmasken. Die Gedichte wollen Worte aufnehmen, die in anderen Gedichten keine Zuflucht finden, beispielsweise das Wort Saugglockenaubergine für den Kopf eines Neugeborenen. Die Gedichte nehmen Worte auf, die Menschen auf Facebook dezidiert hässlich und überdies unangemessen finden; sie finden das fucking wunderbar. Die Gedichte
wollen sich gerade etwas wünschen, als ein Martinshorn sie unterbricht. Die Gedichte halten sich die Ohren zu und wünschen sich, dass dieser Junge, der seit 27 Jahren als Altenpfleger arbeitet und in dieselbe Provinzgrundschule wie
sie gegangen ist, sie lesen kann, wenn er traurig ist. Die Gedichte stehen an einer roten Ampel und flüstern in ein Smartphone und dann schreien sie. Die Gedichte wollen ausgelacht werden. Den Gedichten ist inzwischen einiges
scheißegal, was ihnen vor Jahren nicht scheißegal war. Die Gedichte haben keine Lust mehr, beschnitten zu werden. Die Gedichte sind vielleicht eine Hecke, aber sicher nicht aus Buchsbaum. Die Gedichte enthalten Kalauer wie geflüchtete Kanarienvögel. Die Gedichte sind keine Hecke, sondern ein Körper; sie gehen langsam aus dem Leim. Die Gedichte wollen
im Körper bleiben, der mit ihnen aus dem Leim geht, die Gedichte wollen aus dem Körper raus und in eine Kokosquelltablette. Die Gedichte wuchern. Die Gedichte wachsen ihrem Irrlicht hinterher: in Tiraden.
- Katharina Schultens
Weitere Infos & Material
(…)
Ich werde ab diesem Moment noch mindestens 13
Jahre funktionieren, und Du weißt das. Ich werde
Dich ersetzen, in Katastrophenmanagement, Rage
und Verzweiflung, in Kälte, Härte, ich werde lernen,
wie das geht: schreien, Kontrollverlust so überzeugend
simulieren, bis du nicht mehr weißt, ob du ihn spielst, bis
dein eigener Puls dir nicht mehr glaubt, bis auch dein Echsenblutdruck
mal die 120 knackt, bis sie dich fürchten. Bis sie in
deiner Abwesenheit stets flüstern, bis dein eigenes Kind erlernt,
dich nur mit zittrigen, eingeübten Argumentationen anzusprechen,
dich zu handeln. Nicht zu sehen, dass du Distanz herstellst, dass du
innen ganz kalt draufschaust. Jetzt spreche ich mit mir. Wovon wollte
ich aber sprechen? Von diesem Nachmittag, als Du, schon krebszerfressen
schmal im Ledersessel, plötzlich große Augen hattest. Immer dachte ich, ach,
sind die Augen klein. Plötzlich, mit blauen, großen Augen, kindlich, ohne jede
kalkulierte Wut, war nicht mehr Nachmittag, es war schon dämmrig draußen blau,
und kühler Frühling und Amselgeräusche klirrten aus den angefangenen Hecken –
sagst Du, aus der Chemo in Deine Hand: KIND. KIND DU MUSST MIR DOCH HELFEN