Buch, Deutsch, Band 6, 302 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 214 mm, Gewicht: 430 g
Reihe: Eigene und fremde Welten
Bildung und Beruf im China der Republikzeit
Buch, Deutsch, Band 6, 302 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 214 mm, Gewicht: 430 g
Reihe: Eigene und fremde Welten
ISBN: 978-3-593-38613-3
Verlag: Campus
Ausgezeichnet mit dem Julius-Klinkhardt-Preis zur Förderung des Nachwuchses in der Historischen Bildungsforschung
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Pädagogik Pädagogik Bildungssystem Bildungspolitik, Bildungsreform
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Geschichte einzelner Länder Asiatische Geschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Kultur- und Ideengeschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Mentalitäts- und Sozialgeschichte
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Gruppen/Soziale Themen Soziale Gruppen & Klassen
Weitere Infos & Material
Inhalt
Danksagung
Bildung und Beruf in China: Zwei Welten, viele Akteure
"China": Kultureinheit und gesellschaftlich-geographische Fragmentierung
Die chinesische Moderne und ihre Parallelwelten
"Berufsbildung": Die Geburt einer Idee
Begriffsklärung: "Industriebildung" und "Berufsbildung"
Die Herausbildung beruflicher Ausbildungsprogramme
Wegbereitende Konzepte und umgedeutete Traditionen
Die Rolle des Auslands
Die Akteure der chinesischen Berufsbildungsbewegung
Chinesische Eliten-Akteure zu Beginn des 20. Jahrhunderts
Die Entstehung einer modernen Öffentlichkeit
Chinesische Vereinigungen zu Beginn der Republik
Die Chinesische Gesellschaft für Berufsbildung
Erforschung der Berufsbildung innerhalb der Gesellschaft
Errichtung von Berufsschulen
Aufbau der Berufsberatung
Berufsbildungsarbeit auf dem Land
Die Gesellschaft während des anti-japanischen Widerstands
Die Mitglieder der Chinesischen Gesellschaft für Berufsbildung:
Das Profil
Die Datenbank CAVE (Chinese Actors in Vocational Education)
Bildungshintergrund, beruflicher Hintergrund
Institutionelle und geographische Wirkungskreise
Beziehungsnetze
Repräsentationen von Beruf und Berufsbildung
Der "Beruf": Lebensganzes oder Polytechnikum?
Berufsbildung als Lösung nationaler Probleme
Berufsbildung als Anti-Tradition?
Berufsbildung als soziale Befriedung
Berufsbildung als Vergemeinschaftung
Berufsbildung und der Körper
Verabschiedung vom Königsweg
Ideal und Wirklichkeit: Die Chinesische Berufsschule in Shanghai
Rettung des Landes - Verlust des Berufs
Anhang
Entwürfe von Bildungssystemen
Mitgliederzahlen der Chinesischen Gesellschaft für Berufsbildung
Materialien zur Chinesischen Berufsschule
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abbildungen
Tabellen
Glossar chinesischer Begriffe
Personenregister
Die vorangegangenen Überlegungen und Analysen konnten nur ausschnittweise aufzeigen, wie sich eine - im Verbund zusammengeschlossene, aber nicht unbedingt immer die gleichen Interessen oder Meinungen vertretende - Gruppe von Akteuren nach ihren Bildern einer funktionierenden oder angemessenen Berufsausbildung ein Ausbildungssystem zu formen versuchte, das jedoch aufgrund der politischen Ereignisse in den Kinderschuhen stecken blieb und weniger ein in sich kohärentes System darstellte als die Umsetzung unterschiedlicher Lösungswege. "Beruf" und "Bildung" kamen dabei seitens der Akteure höchst unterschiedliche Bedeutungen zu, wie auch unterschiedliche semantische - moderne wie traditionelle - Ressourcen aktiviert wurden, um "Beruf" und "Bildung" mit Sinn zu füllen. "Berufsbildung" erwies sich im Diskurs nicht nur als ein Instrumentarium, für bestimmte Berufe notwendige Qualifikationen zu vermitteln; in den Vorstellungen der Akteure zur Berufsbildung und den ihr zugeschriebenen Funktionen kamen vielmehr auch - teils normative, ideologisch aufgeladene - Annahmen über Individuum, Gesellschaft und Nation zum Ausdruck, die für die weitere chinesische Bildungsgeschichte wie auch für den chinesischen Modernisierungsprozess prägend sein sollten.
Obwohl traditionelle Vorstellungen und Praktiken der beruflichen Ausbildung durchaus Anknüpfungspunkte dafür boten, wurde der "Beruf" nur von einer Minderheit der Akteure als lebensbestimmendes Ganzes konzeptualisiert. Anders als im deutschen Kontext konnte sich in den chinesischen Repräsentationen um "Bildung" und "Beruf" eine "Beruflichkeit als organisierendes Prinzip " kaum etablieren. Nur einige wenige Akteure leiteten einen tieferen, gestalterischen Sinn aus der Kombination von "Kunst" und "Berufung" ab und sahen den so gefundenen und ausgeübten Beruf gar als glücksbringend an. Für die Mehrheit der am Diskurs beteiligten Akteure war es nicht das "Glück", das sich quasi aus dem Beruf selbst heraus ergab, sondern die "Freude", der Gesellschaft zu dienen, welche dem Ausüben eines Berufs Sinn verleihen konnte. Das traditionelle Konzept der "Kultivierung" und "Vollkommenheit" (xiushen) wurde damit auf unterschiedliche Art und Weise reaktiviert: Während es für eine Minderheit die Kultivierung und Vervollkommnung des Selbst aus dem idiosynkratischen Charakter des jeweils ausgeübten Berufs heraus bedeutete, verstand die Mehrheit der Akteure "Beruf" vor allem als "Tätigkeit" oder "Arbeit ", die als sozialisatorische Maßnahmen instrumentalisiert werden konnten. Auf eben diese Funktion reduzierten die meisten Akteure auch das traditionelle Meister-Lehrlings-Prinzip: Diese Form der Ausbildung schien ein Arsenal an Disziplinierungsmöglichkeiten bereitzustellen, an denen es der "modernen", rein schulischen Berufsausbildung in den Augen vieler Akteure noch mangelte. Im Grunde wurde damit das Meister-Lehrlings-Prinzip synonym mit dem von Zhuang Yu propagierten "Fleiß-Prinzip" - der Beruf an sich war verloren gegangen.
Nicht nur traditionelle Ressourcen wurden unterschiedlich aktiviert; auch das durch die Akteure über Studienreisen, Erfahrungsberichte und wissenschaftliche Werke erfahrene Ausland stellte verschiedene Ressourcen bereit, auf deren Grundlage über "Beruf" und "Bildung" nachgedacht und diskutiert werden konnte. Vor allem die USA - und hier insbesondere Deweys Pragmatismus - wurden dazu bemüht, den disziplinierenden und sozialisatorischen Charakter der beruflichen Ausbildung hervorzuheben. Denn wenngleich Ideen wie die freie Persönlichkeitsentfaltung etwa über die Psychologie oder Methoden der Berufsberatung durchaus rezipiert wurden, so dominierte doch die Auffassung, dass beispielsweise sportliche und psychologische Maßnahmen vor allem eine moralisierende Funktion hatten, welche das Individuum nutzbringend in die Gemeinschaft integrieren sollten. Allerdings galten die USA auch als Land, in dem durch die Auflösung der Berufsbildung in der allgemeinen Bildung die soziale Differenzierung weitgehend aufgehoben war. Deutschland hingegen war sowohl für die Verfechter als auch für die Gegner einer sozialen Segregation mittels Bildung das Beispiel für ein vertikal gegliedertes Bildungssystem, in dem berufliche und allgemeine Bildung gleichzeitig unterschiedliche soziale Schichten repräsentierten.
Darüber hinaus wurde auch der hohe Stellenwert wahrgenommen, der im deutschen Kontext den jeweiligen Berufen und ihren Ausbildungsgängen zukam. Vor allem Deutschland lieferte den Beweis dafür, dass auch in einem modernen Nationalstaat außerhalb der Schule effektiv (aus-)gebildet werden konnte und damit traditionelle Wege der beruflichen Ausbildung erfolgreich in die Moderne übersetzt werden konnten. Jedoch wurde die systematische Ausbildung im Betrieb nur von einer Minderheit der Akteure als praktikabel für den chinesischen Fall angesehen. Zum einen lag dies sicherlich im schlechten Ruf der Gilden und Zünfte begründet, die ihre Auszubildenden häufig wie Leibeigene behandelten. Zum anderen war aber auch ohne Zweifel die generelle Einstellung gegenüber "Beruf" und "Bildung" für die fehlende Bereitschaft verantwortlich, "Berufsbildung" anders als in schulischer Form zu denken: Die Verknüpfung von "Beruf" mit "Bildung" machte es geradezu unabdingbar, dass "Berufsbildung" in einem höherwertigen Umfeld zu erfolgen hatte als die traditionelle berufliche Qualifikation - nämlich in der Schule. Spätere Entwicklungen in den 1920er Jahren, im Zuge derer die berufliche Ausbildung mehr und mehr auf Bereiche außerhalb der Schule verlegt wurde, kehrten diese Grundansicht nicht wirklich um: Die Schule hatte zwar in der Realität als Ort der effektiven Wissensvermittlung für die berufliche Qualifizierung verloren. Sie wurde jedoch keinesfalls durch "gleichwertige" Formen der Ausbildung ersetzt; vielmehr wurden ihre wahrgenommenen Unzulänglichkeiten in Form einer ad-hoc stattfindenden Flickarbeit ausgebessert, etwa durch Bildungskampagnen auf dem Land oder durch den Auf- und Ausbau der Berufsberatung.
Dass die Schule für lange Zeit - und im Prinzip bis heute - als der einzig mögliche vollwertige Ort der Vermittlung beruflichen Wissens gesehen wurde, hing wiederum eng mit der dominanten Stellung der Vertreter aus Politik, Bildungswesen, Medien und kulturellen Einrichtungen im Diskurs zusammen. Diese Repräsentanten der chinesischen intellektuellen, "klassischen" wie "modernen " Elite, welche die berufliche Qualifizierung als eine Spielart von "Bildung " umzuinterpretieren suchten, konnten in der überwiegenden Mehrzahl konzeptionell auf keine andere Form als die der Schule zurückgreifen, die seit jeher das Symbol schlechthin für "Bildung" war. Die wenigen Vertreter von Wirtschaft und Handel wiederum, die sich am Diskurs beteiligten, waren zumeist schon durch diverse (Studien-)Aufenthalte im Ausland oder im Umgang mit ausländischen Handelspartnern westlich geprägt und suchten ihre Modernität durch ein Loslösen von den traditionellen Praktiken der beruflichen Qualifizierung unter Beweis zu stellen, die sie als hinderlich für die wirtschaftliche Fortentwicklung Chinas ansahen. Aus den Beiträgen zum Diskurs dieser nur schwach vertretenen Repräsentanten von Handwerk und Handel lässt sich zudem die Neigung herauslesen, den Diskursstrang der "Industriebildung" und "Expertenbildung" fortzusetzen, der vor allem noch im 19. Jahrhundert dominant war und weniger die Massen und ihre Berufe im Blick hatte als die Erlangung (ingenieurs-)technischer Exzellenz.
Damit setzten sich diese Repräsentanten von den diskursiven Schwerpunktsetzungen ihrer Kollegen in Bildung, Kultur und Politik ab. Letztere teilten in ihren Funktionszuschreibungen von "Berufsbildung" - Beruf als Lebensprinzip und als sozialisatorische Maßnahme - die Ansicht, dass "Beruf" und "Berufsbildung" ein ordnungsstiftendes Moment innewohnt: Für die erste Gruppe ergab sich die Ordnung praktisch aus dem Beruf selbst heraus, für die zweite spielte vor allem der Aspekt der Disziplinierung durch Moralerziehung und manuelle Arbeit eine Rolle. Zunehmend wurde der Diskurs darüber hinaus zum einen vom Topos des "sozialen Friedens", zum anderen durch einen sozialdarwinistisch geprägten Patriotismus (und zuweilen auch Nationalismus) überschattet: Der Anlehnung an westliche, vor allem US-amerikanische Modelle eines selbstbestimmten Individuums zum Trotz bedeutete die Individualisierung des Auszubildenden und Arbeitssuchenden durch Berufsbildung und Berufsberatung weniger eine größere individuelle Freiheit als die Nutzbarmachung des Einzelnen für die Gesellschaft und damit letztendlich auch für die Nation. Gleichzeitig erfuhr die ständische Berufsordnung im Lichte des "sozialen Friedens" eine materielle Umdeutung: Zwar sollte der Beruf das Individuum dazu befähigen, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten; doch waren Berufe immer noch an einen bestimmten Platz in der Gesellschaft gebunden, der nunmehr auch materiell definiert wurde. Viele Akteure der Berufsbildungsbewegung sahen es deshalb auch als Aufgabe der Berufsbildung, das Bewusstsein für den "richtigen" Platz in der Gesellschaft zu fördern, um "unangemessene" Begehrlichkeiten und damit potentielle soziale Unruhe von vornherein zu unterbinden.
Gleichwohl sprachen auch hier die Akteure nicht mit einer Stimme: Wie gezeigt wurde, war für einige Mitglieder - wenn auch nur für eine Minderheit - die Berufsbildung auch durchaus ein Mittel der Aufklärung und Demokratisierung. Ebenso wenig kann der Tradition eine eindeutige Rolle im Diskurs zugewiesen werden. Denn obwohl sich die meisten Akteure als Modernisierer gegen die "Tradition" verstanden, strebten sie oft auch die Wiederbelebung einer "genuinen Tradition" an und taten dies häufig mit Verweis auf den westlichen, vor allem über Dewey rezipierten "Pragmatismus", der in der "eigentlichen " chinesischen Tradition schon immer latent vorhanden gewesen sei. Einige Akteure würdigten darüber hinaus den Wert der "kleinen Traditionen" des "gemeinen Volkes" für die Berufsbildung, wenn auch die Bemühungen, diese in die berufliche Ausbildung miteinfließen zu lassen, nur wenige konkrete Spuren hinterließen.