E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Schult Flokati oder mein Sommer mit Schmidt
16001. Auflage 2016
ISBN: 978-3-8437-1325-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1325-2
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Martin Schult, Jahrgang 1967, studierte Afrikanistik und Ethnologie in Frankfurt und Berlin. Nach mehreren Aufenthalten in West- und Ostafrika und Lehrtätigkeiten in Berlin und Zürich, arbeitet er seit 2004 beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels. Er ist der stellvertretende Leiter des Berliner Büros und betreut den Friedenspreis. Martin Schult lebt mit seiner Frau in Berlin.
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Dienstag, 15. Oktober 1974
Sehr geehrte Frau Ludwig!
»Nicht mit der Tür ins Haus fallen.« Sie erinnern sich sicher noch daran, dass Sie das zu uns gesagt haben, als wir einmal als Hausaufgabe einen Brief schreiben sollten. Denn es sollte kein normaler Brief sein, so wie »Liebe Oma, wie geht es dir, mir geht es gut«. Nein, wir sollten uns überlegen, wie man jemanden mit einem Brief von etwas überzeugen kann, das der gar nicht will. Meine Kleine Oma hätte das Intrige genannt, und ihr wäre sicherlich irgendein passendes Sprichwort dazu eingefallen. Und die Böse Omi vermutet sowieso hinter jeder Postkarte, die ich ihr schreibe, ein Komplott.
Ich habe meinen Brief an Breschnew geschrieben, den Chef von der Sowjetunion. Schaffen Sie die Atombomben ab, habe ich gefordert, ganz direkt. Ohne Hintertür.
Sie haben geseufzt.
»Als Elfjähriger kann man das natürlich so machen, kindliche Ungeduld hat ihren Reiz, Paul, gerade bei einem solchen Thema. Aber nimmt man dich dann wirklich ernst?«
Damals habe ich mit den Schultern gezuckt. Jetzt frage ich mich, wie dieser Brief an Sie bloß beginnen soll. Breschnew oder Hintertür?
Außerdem: Ich bin schon zwölf. Fast dreizehn.
Und ich stecke in Schwierigkeiten.
Wenn Sie das hier lesen, werden Sie zum Teil schon wissen, was passiert ist. Damit meine ich, dass ich nicht in die Schule gegangen bin. Sie denken, ich sei krank. Aber das ist gelogen. Seit gestern sitze ich nämlich hier unten. Im Keller. Direkt bei der Heizungsanlage. Ich bin auf Tauchstation, allerdings nur am Vormittag. Danach gehe ich nach oben und tue so, als wäre alles normal. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand merkt, dass Mutters Unterschrift gefälscht ist.
Vielleicht fragen Sie sich, warum ich nicht gleich ganz weggelaufen bin. So, wie man das normalerweise tut: Tasche packen, nachts aus dem Fenster klettern, mit dem Bus, mit dem Zug oder per Anhalter aus der Stadt raus, in Scheunen schlafen, vor Hunden wegrennen, bei einem Bauern unterkommen, der einen als Knecht anstellt, später dann die Tochter des Bauern heiraten, den Hof übernehmen und als reicher Mann und verlorener Sohn zurückkommen, und die Mutter, Sie wissen schon, die nimmt einen dann in die Arme.
Ich bin tatsächlich einmal weggelaufen, als kleines Kind, aber das ist völlig schiefgegangen. Man braucht nämlich ein Ziel. Man sollte unbedingt wissen, wohin man will. Das habe ich damals nicht gewusst … und heute auch nicht.
Gestern habe ich zuerst vorne im Keller auf einer Holzkiste gesessen, die meiste Zeit im Dunkeln. Es war echt mühselig, jede Minute auf den Lichtschalter zu drücken. Eine Schaltuhr für ein Kellerlicht zu benutzen, ist so ziemlich der größte Unsinn, den man sich vorstellen kann, und ich war nahe daran, das Ganze sein zu lassen. Dann, als ich wieder einmal den Lichtschalter gedrückt hatte, bemerkte ich zufällig, dass weiter hinten, in der Eisentür zum Heizungskeller, ein Schlüssel steckte.
Früher ist der Raum der Luftschutzkeller im Haus gewesen, kurz »LSK«, das steht auch an der Tür. Während des Zweiten Weltkriegs haben sich hier die Mieter versteckt. Für die hat man in Schnörkelschrift »Ruhe bewahren« an eine Wand geschrieben. Aber dann haben die Amerikaner das Haus doch nicht bombardiert.
Ich habe mir den Keller sofort genauer angeschaut. Ein bisschen gruselig war es schon, sich vorzustellen, wie die Menschen hier unten gesessen haben und bei jeder Explosion zusammenzuckten. Aber trotzdem: Der Keller sah ziemlich in Ordnung aus, ein bisschen muffig vielleicht, aber wegen des Heizkessels schön warm. Das perfekte Versteck. Es gibt ein eigenes, unglaublich grelles Neonlicht mit einem normalen Schalter, eine Steckdose und sogar eine Toilette. Sie hat zwar kein Wasser. Aber das kann ich vom Wasserhahn gleich neben der Kellertreppe holen.
Und wissen Sie, was ich gemacht habe? Ich habe heimlich aus unserer Garage einen Eimer geholt und gleich auch noch die Stehlampe und den Sessel vom Großvater – Dinge, die wir seit seinem Tod dort lagern. Und natürlich seinen Schreibmaschinentisch. Total praktisch! Ich habe ihn auf meine Größe heruntergekurbelt, und jetzt sitze ich an ihm und schreibe in dieses Heft. Folgendes habe ich mir überlegt: Ich will ein paar Vormittage hier unten bleiben und aufschreiben, was passiert ist. Im Gefängnis werde ich das nicht tun können. Stifte, Gürtel und Schnürsenkel sind dort verboten. Man könnte sich ja was antun.
Tja. Da bin ich also wirklich bei der Frage aller Fragen angelangt, die ich mir jetzt stellen würde, wenn ich Sie wäre: Was hat Paul eigentlich getan?
Ich habe ein Verbrechen begangen, Frau Ludwig. Ich bin schuld daran, dass jemand gestorben ist.
Ich sehe vor mir, wie Sie jetzt seufzen. Sicher denken Sie, wieder so eine erfundene Geschichte von Paul, warum nur muss er immer übertreiben? Aber das stimmt nicht. Die Geschichte ist wahr. Und leider lässt sich die Wahrheit nicht einfach wegradieren. Sie ist nicht mit Bleistift geschrieben, sondern mit Blut … oder mit einem Kugelschreiber. Sie bleibt, egal was man tut, man kann sie allerhöchstens verdrängen.
Das ist mir nach den Sommerferien auch ganz gut gelungen. Ich habe wirklich geglaubt, dass alles wieder in Ordnung kommt. Aber dann, in den Herbstferien in Österreich, kam die Frage nach der Schuld wieder hoch. Ganz plötzlich. An dem Tag, als wir in die Kirche gegangen sind …
»Nichts in der Welt passiert durch Zufall, denn Er hat Seine Finger im Spiel!«
… ich habe in einer der hinteren Reihen gesessen und aufgehorcht. Es war der Pfarrer, der das mit dem Zufall und den Fingern gesagt hat, ein vollkommen schwarz gekleideter Riese mit einem kleinen Kopf und Igelfrisur. Er war mit großem Eifer bei der Sache …
»Nichts, was in der Welt passiert, ist Schicksal, denn Er ist es, der die Geschicke lenkt!«
… das mit dem Eifer hat unser Tiroler Pensionswirt behauptet. Er hat uns mit seinem alten Opel Admiral vor der Kirche abgesetzt. »A Zugreister. Aus Halberstadt. Spricht nur Hochdeitsch«, hat er über den Pfarrer gesagt, und Mutter hat sich zu uns umgedreht. »Euer Vater hätte jetzt gesagt, Jürgen Sparwasser kommt auch aus Halberstadt.« Und meine Schwester hat geantwortet, wie könnte jemand, der mit ihm – also Vater – verwandt sei, das wohl jemals vergessen …
»Zufall und Schicksal, sie sind gottgewollt.«
… ich hatte nicht mitkommen wollen. Der Berg ruft. Haha! Aber so war es wirklich. Draußen rauschten die Bäche, und die Wälder waren voller Geheimnisse! Am Tag zuvor hatte ich eine Höhle entdeckt, und wegen der Taschenlampe, mit der ich sie erforschen wollte und die in meiner Hosentasche steckte, konnte ich kaum laufen. Außerdem auf einer harten Bank sitzen müssen, noch dazu bei bestem Wetter! Meine Mutter hat jedoch darauf bestanden. Die Religion würde in dieser Gegend nun mal zum Leben dazugehören, und wir wären ja schließlich nicht nur da, um Pilze zu sammeln.
So saß ich in der Kirche fest, und es war dann erst einmal gar nicht so übel, auch wenn wir eigentlich nicht gläubig sind. Besonders das viele Singen gefiel mir. Auf das ständige Aufstehen und Hinsetzen hätte ich verzichten können, aber die Pause, die der Pfarrer dann machte, fand ich beeindruckend. Die Leute hielten den Atem an. Alle waren gespannt, wie es weitergehen würde. Ich auch …
»Er macht uns die Welt, wie sie Ihm gefällt.«
… ich musste mich verhört haben! Meine Schwester neben mir gluckste. Mutter zischte sie an. Ich war von der Holzbank aufgesprungen. Meine Schwester puffte mir in die Rippen. Sie hat es nicht kapiert, aber Sie, Frau Ludwig, verstehen sicher, warum ich mich nicht wieder hinsetzen konnte. Diesen Satz hat sich nämlich der Pfarrer eindeutig nicht selbst ausgedacht. Fast alle, die dasaßen, waren uralt, und bestimmt hatten sie noch nie etwas von Pippi Langstrumpf gehört, aber trotzdem: Es bleibt Diebstahl!
Und dann passierte es: Der Pfarrer schaute nacheinander alle Menschen in der Kirche an, sein Blick blieb an mir hängen, wie ich da so stand, er hob einen Zeigefinger, und seine Stimme durchbrach noch einmal die Stille …
»Und Er vergibt dir deine Schuld, deine große, große Schuld.«
… ich wollte im Boden versinken. Tatsächlich habe ich mich nur wieder hingesetzt. Und ohne es zu wollen, habe ich laut »Meine Schuld?« gefragt. Alle haben mich angestarrt …
Nach dem Gottesdienst sind wir ins Gasthaus Koreth gegangen. Ein paar Tage zuvor hat mir dort der Koch gezeigt, wie er Schnitzel zubereitet. Da bin ich noch glücklich und unbesorgt gewesen, denn wir essen gerne Schnitzel, besonders Vater hätte zugeschlagen. Er ist jemand, der selbst in einem Feinschmeckerrestaurant eine halbe Stunde lang die Speisekarte studieren kann und dann ein »Ich glaube ich nehme heute mal ein«-Schnitzel bestellt. Ich sage dann meistens: »Ich auch.« Und Mutter: »Aber nur ein kleines.«
Doch an jenem Sonntag in Tirol war alles anders. Der Pfarrer hatte mir den Appetit verdorben. Ich schob sogar die Palatschinken zu meiner Schwester rüber. Anschließend sonnte sie sich draußen auf der Terrasse. Meine Mutter sah ihr dabei zu und trank Kaffee. Die beiden waren glücklich. Und ich? Ich versank in der dunklen Gaststube in tiefes Grübeln. Ich hatte keine Ahnung, wie der Pfarrer dahintergekommen war. Wie konnte er von meiner Schuld wissen, wo wir doch Hunderte Kilometer von zu Hause weg waren? Oder gibt es wirklich Menschen, die anderen ihre Schuld ansehen können? Dieser...