E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Schult Anfangs sonnig, später Herbst
19001. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8437-2150-9
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 400 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-2150-9
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Martin Schult, Jahrgang 1967, studierte Afrikanistik und Ethnologie in Frankfurt und Berlin. Nach mehreren Aufenthalten in West- und Ostafrika und Lehrtätigkeiten in Berlin und Zürich, arbeitet er seit 2004 beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels. Er ist der stellvertretende Leiter des Berliner Büros und betreut den Friedenspreis. Martin Schult lebt mit seiner Frau in Berlin.
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La Grange
1
Er sitzt oben auf einer Mauer. Auf dem Platz in der Innenstadt, dort, wo man sich nach der Schule trifft, bemerke ich ihn zum ersten Mal. Wir sehen uns ähnlich. Er ist ungefähr in meinem Alter, fünfzehn, dunkelblond wie ich, genauso groß wie ich, und er macht, genau wie ich, ein gelangweiltes Gesicht.
Ich bin schon ein paarmal hier gewesen, habe mich zu den anderen gestellt und darauf gewartet, ob was passiert. Nicht einen habe ich mit Namen kennengelernt, und am nächsten Tag war ich wieder vergessen. Heute, am letzten Schultag, ist außer ihm und mir noch niemand da, also raffe ich mich auf und schlendere wie zufällig an ihm vorbei. »Und? Alles paletti?«
Keine Antwort. Vielleicht hat er mich auch nicht gehört. Ich bin schon einen Schritt weiter, die Füße sind schneller als das Ohr, da senkt er doch, wenn auch unendlich langsam, den Kopf und schaut auf mich herunter. »Paletti?«
Na prima, denke ich. Frage – Gegenfrage. Und jetzt sieht er wieder in den Himmel. »’ne Fünf in Bio!«, ruft er, als wäre ich taub. »Ich wäre fast von der Schule geflogen. Also nein: nix paletti.«
Ich verdrehe die Augen und will weitergehen, da grinst er und hält mir einen Streifen Kaugummi hin. »Und selbst?«
Ich zögere. Gehen oder bleiben? Tatsächlich antworten oder einfach nur sagen? Es siegt das Schulterzucken: Was soll’s? Genau das habe ich doch gewollt: ein bisschen schwätzen und sich dabei vorstellen, so normal zu sein wie alle anderen. Dieser Typ auf der Mauer wäre vielleicht der richtige dafür. Also hieve ich mich hoch und lasse neben ihm die Beine baumeln. »Mathe«, lüge ich und nehme ihm den Streifen ab. »Gerade so die Kurve gekratzt.«
Er geht nicht darauf ein. Ich wickele das Kaugummi aus und stecke es mir in den Mund. Was ist das denn? Ich verziehe das Gesicht. Kann sowas schlecht werden? Ich schiebe den Batzen auf die Zunge. Er sieht, dass ich ihn ausspucken will.
»Neue Sorte«, lacht er, »mit Zimt.«
»Schmeckt eher nach Milchreis als nach Sommer!«
Schweigend starren wir auf den Platz, saugen aus diesen Big Reds den Geschmack heraus und beobachten das Geschehen – nichts Besonderes, alles schon mal da gewesen, ob hier, ob woanders: Autos im Stau, bimmelnde Straßenbahnen, vereinzelte Fahrradfahrer. Bei der Häuserzeile uns gegenüber bauen sie gerade ein Hamburger-Restaurant aus. Das erste in Frankfurt, habe ich gehört. Wir schauen einfach nur zu.
Doch irgendwann merken wir, dass wir dasselbe sehen, denselben beobachten, dieselbe Meinung dazu haben. Und plötzlich wird alles anders. Mal treffen sich unsere Blicke. Mal lächeln wir dabei. Schaut einer von uns weg, mustert der andere ihn.
Er trägt ein gelbverwaschenes Hemd, das lässig aus seiner Hose hängt. Ihm missfallen die drei weißen Streifen auf meinen blauen Turnschuhen. »Kapitalistenlatschen!«, nennt er sie, und überhaupt würde ich in meiner Bundfaltenhose und meinem grauen Sweatshirt – »Sowas gibt’s tatsächlich zu kaufen?« – echt langweilig aussehen. Und dieser lächerliche Seitenscheitel, wie bei einem »Beamtensöhnchen«.
Ich gehe auf das Spiel ein, lache über das rotgefärbte Tuch, das er wie ein Cowboy um den Hals gebunden hat, und mache mich über die Sandalen an seinen Füßen lustig, zu denen er auch noch Tennissocken trägt. »Das passt doch gar nicht!«
Das kommt nicht gut an. Wir schweigen wieder. Ist der Zimtgeschmack weg, ist das Zeug ziemlich fade.
»Hast du auch so viele Pickel?«, fragt er mich auf einmal ohne jede Vorwarnung. Merkwürdigerweise klingt es wie ein Friedensangebot.
Ich nehme es an und nicke. »Die Hölle.« Bei ihm ist es sogar schlimmer als bei mir. Wir grinsen uns an. Hübsch sind wir beide nicht. Wir spucken die Kaugummis nacheinander auf den Boden. Er hält mir den nächsten Streifen hin.
»Hab sogar einen am Pimmel. Juckt wie blöde.«
Eigentlich zu alt für so einen Quatsch, lachen wir trotzdem. Es ist seltsam, dass wir so tun, als wären wir jünger. Aber vielleicht lernt man sich so besser kennen. Unser Gelächter ebbt ab, schwillt an, richtig kindisch führen wir uns auf, bis wir Luft holen müssen und wieder auf den Platz schauen. Alte Menschen, pickende Tauben, mal ein Hund dazwischen. Er schnüffelt an jedem Laternenpfahl. Ich überlege, wie unser Gespräch weitergehen könnte, was ich jetzt wohl sagen sollte und wieso mir nicht ein guter Spruch einfallen will. Bis er wieder das Wort ergreift und mich völlig aus dem Nichts fragt, ob ich gerne höre. Ich murmele irgendetwas Nichtssagendes.
»Auf dem Bett liegen, Paprikachips bis zum Umfallen und in den Ohren – was gibt’s Besseres?«
Wieder kichere ich mit, obwohl ich das Lied gar nicht kenne. Ganz ehrlich? Ich kenne noch nicht einmal die Band. Seitdem wir in Frankfurt sind, hocke ich an den Wochenenden mit meinem Kassettenrekorder vor Großvaters altem Röhrenradio. Ich schalte an und nehme mit dem Mikrophon die auf. Der Empfang ist schlecht, das Magische Auge wird oft nicht richtig grün, aber das macht nichts.
Denn ich kenne jedes Lied, das in letzter Zeit gespielt wurde, und ich habe alles auf Kassette, um es mir noch einmal, zweimal, immer wieder anzuhören. Aber ? Ich sollte ihn anlügen. Stattdessen frage ich, ob es gut ist.
»Ob es gut ist? Na, hör mal! « Er dehnt dabei jeden Buchstaben, als würde es wirklich nichts Besseres geben. Dann zieht er seine Tennissocken aus und wirft sie einfach hinter sich. »Das ist so , als würdest du ganz in einem Cabrio sitzen und durch Mexiko heizen.«
Er spricht wirklich so lässig, ich denke mir das nicht aus. Erwartungsvoll schaut er mich an. »Na, nun mach schon.«
Ich grinse. Meine Turnschuhe landen auch auf dem Asphalt, gefolgt von den Strümpfen. Dann rufe ich mit meinem besten amerikanischen Akzent: Mindestens zwanzig Kassetten hätte ich schon aufgenommen, erzähle ich ihm. Daraufhin springt er von der Mauer.
»Man hat dich echt versaut, Kumpel. Komm mit!«
Erst als er vor mir steht, fällt mir die schwarze Lederhose auf. So steif, wie er läuft, scheint sie ziemlich eng zu sitzen. Seine Klamotten – das gelbverwaschene Hemd, die Lederhose, die Sandalen –, das alles passt, selbst ohne Socken, überhaupt nicht zusammen. Trotzdem sieht es unglaublich gut aus. Das Wort gefällt mir.
Er – mit den Socken in der Hosentasche – lotst mich – mit zusammengeknoteten Schuhen um den Hals – zu einem Schallplattenladen in der Nähe. An den hohen Wänden mit Holzvertäfelungen aus einer längst vergangenen Zeit hängen Plattenalben, die ich noch nie gesehen habe: Jazz, Blues und Rock, und ein bisschen Klassik dazwischen. oder sind nicht darunter. Barry Manilow, die Nummer eins in den letzten , schon gar nicht.
Begleitet von einer hellen, jammernden Gitarre singt eine heisere Frauenstimme Ich rutsche mit meinen nackten Füßen über den Holzfußboden. Vor Ewigkeiten hat mir meine Großmutter das Lied vorgespielt, diese Version aber höre ich zum ersten Mal. Das Lied zieht sich dahin, es ist langsam und zäh, aber es ist auch aufregend – jedenfalls passt es zu diesem heißen Tag, und es passt auch zu dem Langhaarigen, der an der Verkaufstheke steht. Er brummt das Lied mit und zieht hin und wieder an seiner Zigarette. In einem Regal hinter ihm sind Abertausende von Schallplatten einsortiert.
Zigarettenrauch und der chemische Geruch der Schallplatten – das ist der süßliche und leicht abgestandene Duft von Duke’s Records. So lautet der Name des Ladens. So steht es in einem Halbkreis auf der Schaufensterscheibe. Der Langhaarige kennt meinen Kumpel. Bei mir schaut er auf die nackten Füße.
»Ihr wollt euch was anhören?«
Wir nicken. Ich soll mich an den Plattenspieler stellen, bei dem er jetzt auf Stopp drückt. Es wird still, nur die heisere Frauenstimme hallt in dem hohen Raum nach. »Janis«, murmelt er, und während er behutsam die Platte wegnimmt, stöpselt mein Kumpel einen Kopfhörer ein. Er hält ihn mir hin. Hinter ihm schleppt ein Mädchen mit dunklem Pferdeschwanz einen Stapel Platten durch den Laden. Ich staune über den Kopfhörer in meinen Händen. Die Ohrkissen sind aus echtem Leder.
»Aufsetzen«, sagt mein Kumpel.
»Tschüss, Welt!«, rufe ich, grinse und tauche ab. Ich höre mich atmen. Höre dumpf, wie mein Kumpel zu dem Langhaarigen sagt. Der zaubert eine Scheibe aus einem grünen Album und legt sie auf den Plattenteller. Ein gelbes Lämpchen beleuchtet schwach die sich drehende Platte. B-Seite, erkenne ich. Sanft pustet er die Nadel an und setzt sie perfekt auf die...