E-Book, Deutsch, Band 6454, 140 Seiten
Reihe: Beck Paperback
Schularick Der entzauberte Staat
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-406-77783-7
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was Deutschland aus der Pandemie lernen muss
E-Book, Deutsch, Band 6454, 140 Seiten
Reihe: Beck Paperback
ISBN: 978-3-406-77783-7
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie soll ein Staat, der es nicht schafft, Lüfter in die Klassenzimmer seiner Schulen einzubauen, im kommenden Jahrzehnt den komplexen ökologischen Umbau der Wirtschaft steuern? Dafür brauchen wir einen vorausschauenden, risikobereiten und handlungsstarken Staat, der die richtigen Anreize setzt und in neuen Situationen flexibel reagieren kann. Also genau das, was uns in der Pandemie fehlte. Dieses Buch zeigt die Defizite im Management der Krise auf und beschreibt, was sich ändern muss, wenn wir die Herausforderungen der Zukunft bewältigen wollen.
Im Frühjahr 2020 schien Deutschland die Pandemie vorbildlich zu bewältigen. Doch ein Jahr später war von der Selbstzufriedenheit nicht mehr viel übrig. Die Defizite in der Leistungsfähigkeit des Staates waren nicht mehr zu leugnen. Die Politik stolperte durch die Krise und verlor sich in Detailregelungen, als es darauf ankam, eine Strategie für das Land zu entwickeln und die alles entscheidende Impfstoffproduktion zu beschleunigen. Sie scheute das Risiko, obwohl Abwarten und Zögern letztlich das viel riskantere Vorgehen war. Schaut man genauer hin, so zeigten sich ähnliche Probleme bereits in vorherigen Krisen, etwa der globalen Finanzkrise und der Eurokrise. Deutschland tut sich schwer, wenn Entscheidungen gefällt werden müssen, für die es kein Regelbuch gibt. Es droht die Gefahr, dass Europa im Vergleich zu China und den USA erneut zum Krisenverlierer wird. Doch das ist nicht das einzige Problem. Denn die Pandemie war auch ein Probelauf für die Herausforderungen, die im nächsten Jahrzehnt beim Klimawandel auf uns zukommen. Wir brauchen in Zukunft einen leistungsfähigeren Staat, mehr Pragmatismus und auch das Selbstvertrauen, unkonventionelle Wege zu beschreiten. Denn in einer sich rasch ändernden Welt gehen wir nicht auf Nummer sicher, wenn wir so weitermachen wie bisher, sondern indem wir besser darin werden, flexibel auf neue Herausforderungen zu reagieren.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Regierungspolitik Umwelt- und Gesundheitspolitik
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Current Affairs
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Politische Studien zu einzelnen Ländern und Gebieten
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Regierungspolitik Innen-, Bildungs- und Bevölkerungspolitik
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Deutsche Geschichte
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Politik: Sachbuch, Politikerveröffentlichungen
Weitere Infos & Material
I. EINLEITUNG
Ist das die Generalprobe? Bruno Latour Die Kritik am deutschen Staat und seiner Leistungsfähigkeit war in der Corona-Pandemie außerordentlich scharf. Der Wissenschaftliche Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums diagnostizierte «Strukturen, Prozesse und Denkweisen, die teilweise archaisch anmuten», und scheute sich nicht, in einem offiziellen Gutachten von «Organisationsversagen» zu sprechen.[1] Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus rief nach 16 Jahren Regierungsverantwortung seiner Partei zur Revolution auf, wobei man davon ausgehen darf, dass er damit keinen Regierungswechsel meinte. Die Virologin Melanie Brinkmann sprach von einer «intellektuellen Beleidigung», die britische «Financial Times» von der «Lachnummer Deutschland».[2] Für Gabor Steingart herrschte in Deutschland ein «epidemisches Versagen»[3], und YouTuber Rezo sah «Arbeitsverweigerung» und «Wissenschaftsfeindlichkeit».[4] Michael Halleg, Leiter der Intensivmedizin der Uniklinik Köln, brachte seine Kritik an der deutschen Corona-Politik bei Anne Will nüchterner, aber umso wirksamer auf den Punkt: «Viele Menschen leiden und sterben, ohne dass es nötig wäre.» War diese Kritik nur ein (zu) lautes Aufregen, der Angst und Verunsicherung in der Pandemie geschuldet? Ist es einfach so, wie es Minister Jens Spahn ausdrückte, dass ein paar Fehler gemacht worden sind und wir uns am Ende alle viel verzeihen müssen? Oder dass «im Großen und Ganzen», wie Kanzlerin Angela Merkel formulierte, doch alles gut gelaufen sei? Wo gehobelt wird, da fallen eben Späne. Am Ende der Pandemie wird Deutschland, wenn nichts Unvorhergesehenes mehr geschieht, trotz allem im internationalen Vergleich mit relativ niedrigen Opferzahlen durch die Pandemie kommen. Auch die Impfkampagne nahm im April an Fahrt auf, Deutschland wird mit etwa zwei Monaten Rückstand auf die Spitzenreiter die rettende Ziellinie der Herdenimmunität erreichen. Alles halb so schlimm. In einer globalen Pandemie kann schließlich nicht alles auf Anhieb klappen. Wenn dem so wäre, dann bräuchte es dieses Buch nicht. Es gab zwar nicht nur Schatten, aber eben auch nicht besonders viel Licht. Insgesamt erinnerte die Performance eher an einen grauen Berliner Novembertag. Selbst wenn wir am Ende mit einem blauen Auge davonkommen, müssen wir verstehen, warum Deutschland durch die Krise gestolpert ist und was wir tun können, damit Staat und Gesellschaft in Zukunft krisenfester werden. Denn neue Herausforderungen werden kommen. Der französische Philosoph Bruno Latour sieht in der Pandemie die «Generalprobe» für die kommenden Krisen im Zuge des Klimawandels und seiner komplexen Konsequenzen für Umweltsysteme, Gesellschaften und politische Ordnungen.[5] Irreversible Eingriffe in den Ökohaushalt des Planeten werden nicht nur zu weiteren Naturkatastrophen, Pandemien und Dürren führen, sondern auch zu Migrationswellen und politischen Konflikten zwischen und innerhalb von Gesellschaften.[6] Enorme politische und ökonomische Herausforderungen kommen auf uns zu, für die Corona nur der Probelauf war. Mehr als jemals zuvor werden wir in Zukunft die Fähigkeit brauchen, mit diesen Schwierigkeiten umzugehen. Die Fußball-Weisheit von Sepp Herberger gilt insofern in abgewandelter Form auch hier: Nach der Krise ist vor der Krise. Die Generalprobe ging teilweise daneben, und dieses Buch fragt nach dem Wie und Warum. Es zeigt, was sich ändern muss, wenn wir bei den kommenden Herausforderungen besser reagieren wollen. Dabei geht es aus ökonomischer Perspektive nicht nur um die Schwächen des staatlichen Krisenmanagements und deren Ursachen. Auch aus gesellschaftlicher Sicht war der Testlauf holprig, und neue Risse sind sichtbar geworden. Es gab zwar Engagement, Rücksichtnahme und Solidarität. Aber es ist bisher nicht erkennbar, dass ein gerechter Ausgleich der Lasten zwischen Jung und Alt stattgefunden hat. Das Virus war vor allem eine Gefahr für die Alten, aber die Kosten der Pandemie trugen die jüngeren Generationen in Form von Doppelbelastung, Einkommensverlust, Jobunsicherheit und Schulausfall, während Rentner und Pensionäre finanziell ohne Einbußen durch die Krise gekommen sind. In der Zukunft werden die Jungen nicht nur zusätzliche finanzielle Belastungen, sondern auch die Kosten des Bildungsausfalls zu tragen haben. Auch andere gesellschaftliche Konfliktlinien taten sich auf. Als Jürgen Habermas in den 1980er Jahren von der «neuen Unübersichtlichkeit» sprach, hat wahrscheinlich nicht einmal er geahnt, wie viel unübersichtlicher die Welt 30 Jahre später sein würde. Dass bei sogenannten Querdenker-Demos Neonazis mit Reichskriegsflaggen Seite an Seite mit Regenbogen-Flaggen schwenkenden Hippies und Anthroposophen demonstrierten, sagt viel über die politische Unübersichtlichkeit der Situation aus. Auch gesellschaftlich gab uns die Pandemie einen Vorgeschmack auf künftige Ungewissheiten. *** In Krisen zeigt sich, wie Staat und Gesellschaft mit unerwarteten Situationen umgehen. Sie sind ein Lackmus-Test für die Leistungsfähigkeit und Reaktionsfähigkeit, eine Art Stresstest für das Gemeinwesen. Konfrontiert mit einem unerwarteten Schock zeigt sich, wie gut das System auf die Herausforderung reagiert. Wie bei einer Maschine, die plötzlich unter Hochdruck arbeitet, wird deutlich, wo das Material Risse zeigt, die Dichtungen versagen und das Öl heraussprudelt. Es sind Momente, in denen es keine Anleitung zum Handeln gibt, in denen Handlungsalternativen unter Zeitdruck gegeneinander abgewogen werden müssen. Sie setzen Verwaltungsroutinen und das Institutionensystem unter Druck, auf die neuen Herausforderungen zu reagieren, ohne dass es eine Betriebsanleitung gibt. Deutschland tat sich schwer in dieser Situation. Es stand damit natürlich nicht allein, andere Länder hatten ebenfalls Probleme und machten Fehler. Aber können wir uns zurücklehnen, nur weil andere zum Teil schlechter agiert haben? Zunächst brauchen wir dazu eine Diagnose, welche Teile der Maschine stotterten und was krisenfest war. Deutschland hat zwei unterschiedliche Pandemien erlebt. Eine erste Phase vom März 2020 bis zum Sommer, in der sich das Land relativ gut und erfolgreich geschlagen hat. Es konnte sich dabei weitgehend auf seine alten sozialstaatlichen Institutionen aus der Nachkriegs-Bundesrepublik verlassen. Natürlich lief nicht alles rund, aber das Gesundheitssystem hielt dem Ansturm des Virus stand und die Kurzarbeitsregelungen federten die Folgen für den Arbeitsmarkt ab. Der Finanzminister machte Konjunkturpolitik wie in den 1960er Jahren und stabilisierte die Wirtschaft. Probleme gab es dort, wo der Sozialstaat Lücken hat: bei den kleinen Selbständigen, den Künstlerinnen und Künstlern sowie den Kulturschaffenden. Aber alles in allem funktionierte das System. Die sozialstaatlichen Institutionen wirkten als zuverlässige Schockabsorber. Im Sommer 2020 schaute die Welt auf Deutschland und seinen Sozialstaat als Erfolgsmodell. Aber schon ein halbes Jahr später war nur noch wenig Selbstzufriedenheit übrig. Die Untätigkeit des Sommers und Herbstes rächte sich. In der zweiten Phase der Krise ab dem November traten die Defizite deutlich zutage. Die Grenzen der Leistungsfähigkeit der Verwaltung, die mangelnde Digitalisierung, vor allem aber die Probleme bei der politischen Entscheidungsfindung waren unübersehbar. Zwar funktionierten Sozialstaat und Gesundheitssystem weiter, aber in der zweiten Phase schoben sich Fragen des aktiven staatlichen Handelns, der Planung und Risikoabwägung in den Vordergrund. Die Politik musste flexibel agieren und neue Lösungen finden, teilweise musste der Staat wie bei der Impfstoffproduktion und -beschaffung auch selbst ins Risiko gehen und unbekannte Wege beschreiten. Prioritäten mussten definiert, Strategien entwickelt und in einem sich rasch ändernden Pandemie-Umfeld dynamisch umgesetzt werden. Und hier liefen die Dinge im Großen und Ganzen nicht rund. Der Staat war operativ nicht gut aufgestellt, den Verwaltungen und Ämtern fehlte es an Ausstattung und Organisationskraft, es mangelte an Testzentren, Computern und Software. Dem Staat fehlte auch die Wissensinfrastruktur in Form von Daten, Prozessen und Institutionen, in denen ein produktiver und geordneter Austausch zwischen Politik und Wissenschaft auf der Basis aktueller Informationen stattfinden konnte. Talkshows, die mehr und mehr zum geistigen Mittelpunkt der öffentlichen Debatte avancierten, waren dafür kein Ersatz. Es fehlte auch die Flexibilität im Denken und Handeln, um mit einer Ausnahmesituation umzugehen, für die es keine Betriebsanleitung gab. Die Ursachen hierfür liegen tief. Vor gut 30 Jahren prägte der kürzlich verstorbene Soziologe Ulrich Beck...