Schütz | Knietief im Paradies | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 175 Seiten

Schütz Knietief im Paradies

Roman
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-8412-1355-6
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 175 Seiten

ISBN: 978-3-8412-1355-6
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein poetischer, schwebender, humorvoller Roman. Es war ein Wunder, daß Eli die Dresdener Bombennacht überlebte. Seitdem fühlt sie sich sicher, nicht wahrnehmbar, nicht faßbar. Wie ein perfekter Schatten, unerkannt und unbeachtet, zieht die gestiefelte Gärtnerin ihren Karren durch die Stadt: mit festem Schritt und brennender Seele, im Herzen die große Sehnsucht, nach einem Menschen, für den sie wichtig ist. Eli übt das Unsichtbarsein, denn sie will retten, helfen. Besonders den beiden Männern, die sie auf ihre Weise liebt, heimlich und ungeschickt.

Helga Schütz wurde 1937 in Falkenhain/Schlesien geboren. 1944 Umsiedlung nach Dresden. Nach einer Gärtnerlehre Arbeit als Landschaftsgärtnerin. ABF. Nach dem Studium an der Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg wurde sie freie Autorin und schrieb Drehbücher und Szenarien zu Spiel- und Dokumentarfilmen, später auch Romane und Erzählungen. Em. Professorin an der Hochschule für Film und Fernsehen. Sie lebt in Potsdam. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen.

Zuletzt erschienen: Grenze zum gestrigen Tag (Roman, 2000); Dahlien im Sand. Mein märkischer Garten (2002); Knietief im Paradies (Roman, 2005); Sepia (Roman, 2012); Die Kirschendiebin (Erzählung, 2017);  Von Gartenzimmern und Zaubergärten (2020).

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Bis hierher und nicht weiter. Der Großvater hält das Fahrrad. Ich schnappe den Rucksack vom Gepäckträger, die neuen Gummistiefel binde ich los. Sie glänzen wie Lackleder, die will ich anziehen. Wir sind ins Schwitzen gekommen. Sieben Kilometer sind wir gelaufen. Immer bergan, über den Roten Buckel. Man kann die Grenze im Tal nicht sehen. Sie ist ein schmaler Bach. Wir haben nicht geredet unterwegs. Wir haben überhaupt wenig gesagt in den vier Wochen. Jetzt will er wissen, ob ich weiß, wo die Fahrkarte steckt.

Ich sage: Im Rucksack.

Ich bin in meinem Leben schon ein paarmal schwarz von einem zum anderen Großvater über die grüne Grenze gegangen. Immer mit Glück, ohne Zwischenfälle. Vom Sachsen-Anton im Osten zum schlesischen Heinrich im Westen und zurück. Ich bin auf der Rückreise. Die Fahrkarte hat Anton gekauft. Sie gilt ab Dresden bis zur Grenze und von da ab wieder nach Hause.

Das vorige Mal, da hat die schlesische Großmutter noch gelebt, und ich konnte staunen, was man sich nach der Währungsreform binnen kurzer Zeit aus dem Nichts hatte schaffen können. Das Albatros-Fahrrad. Blaugeblümte Meterware für viermal zum Beziehen. Sie lebten nicht mehr wie die Jahre nach der Flucht im Notquartier, sie wohnten nun in einer eigenen Unterkunft, im Birkenbusch, außerhalb des Dorfes, in einer geräumige Hütte, wo vor dem Zusammenbruch Körnerfutter für Hühnerfarmen gelagert worden war. Der schlesische Großvater hatte die Hütte außen mit wetterfesten Hartfaserplatten verklinkert und drinnen die Wände der Wohnküche mit marmorierten Hartfaserplatten gefliest, mit den Marmorresten hatte er eine Toilette gestaltet, den kastenartigen Sitz, den Deckel für das Loch, ringsherum in Augenhöhe: Marmor. Die Buchte hatte im Fundament eine Grube, die von draußen leer geschöpft werden konnte. Eine Einrichtung ohne fließend Wasser, also Plumps – doch man darf sagen: geflieste Innentoilette, denn man mußte nicht mehr wie früher in Schlesien im Regen über einen Hof, man erreichte den lichtgrau gestalteten Abtritt direkt über den Flur. Aus holzfarbenen Hartfaserplatten hatte er Paneele und Schränke geschaffen, in denen die Großmutter schon ihr geschneidertes Winterkleid aus blauem Kattun einmotten konnte. Das wichtigste, Großvater bekam wieder Post, jeden Monat ein Kuvert mit einer gedruckten Mitteilung des Imkervereins, dazu den Immenvater, ein Heft mit Ratgeberseite. Drei drohnenbrütige Völker hatte Bienenhalter Heinrich inzwischen erfolgreich beweiselt. Die Trachtbienen flogen. Ins Kleefeld, in den Raps oder in die Robinien.

Es war an einem Sonntag gewesen, ich weiß es, weil der Großvater nach Naphthalin roch, weil er seine guter Manchesterhose anhatte und weil wir alle drei unsere neuen Strickjacken trugen, maschinell-, aber hausgemacht. Von einer schlesischen Landsmännin, die in der Heimat einmal unsere Nachbarin gewesen, jetzt im Dorf im Lehrerhaus neben der Schule untergekommen war. Sie besaß eine Strickmaschine, in Minuten war damit ein Ärmel, an einem Vormittag eine Jacke mit allem Drum und Dran fertig. Großvaters kaffeebraune, Großmutters dunkelblaue, meine war fliederfarben. So sonntäglich baute sich der Großvater mitten hinein in seine eigene Stube: Das ist für dich, sagte er.

Ein Zehnmarkschein und zwei Fünfmarkstücke. Und bereute im selben Augenblick seine Geberlaune, denn er hatte mir angesehen, daß ich das Kapital schlecht verwalten würde. Kauf dir aber keinen Fingerring, murmelte er, ohne viel Vertrauen in mich zu setzen. Ich schüttelte bloß meinen schamroten Kopf und überlegte, ob ich ihm das Geld gleich wortlos auf dem Küchentisch heimzahlen sollte oder besser später im Leben hundertfach in einem feinsinnig zugeklebten Kuvert. Mir mußte einfallen, wo ich das Geld lassen konnte. Zwei große Fünfmarkstücke und ein Zehnmarkschein. Ich wollte es nicht ausgeben, ich wollte das Geld bis auf weiteres im Wäldchen verstecken.

Die schlesische Großmutter hatte Heinrichs zwischen Geiz und Güte schwankenden Allüren im Griff, die Stricksachen, das Albatros, die Bohnen für den guten Sonntagskaffee, die Butter für den Streuselkuchen, die frisch gesommerten Betten, die geblümten Bezüge. Das Neuste: ein Mietvertrag für ein Schließfach im Großraumkühler, der im Dorf an der Kirchhofmauer gebaut worden war; in besserem Stand als die altansässigen Bauersfrauen, hatte sie darin, schon in gute Sonntagsportionen zurechtgefleischert, eine halbe Sau auf Vorrat. Der Winter kann kommen. So lautete ihr listiger Spruch.

Die meisten Veränderungen nahm sie auf ihre Kappe. Der Großvater hütete im Kasten unter der Matratze ein Postsparbuch und ein paar glatte, frische Scheine ohne Eselsohren, ohne Knick. Er fragte jedesmal am Rentenzahltag den Geldbriefträger nach gutem, neuem Geld. Sie dagegen war froh, wenn der Geldbriefträger gute alte Scheine mitgebracht hatte, denn sie brauchte so einen guten schlappen Zwanziger gleich. Meine schlesische Großmutter stand für Sachwerte ein, die sie sofort aus der Schürzentasche heraus bezahlte. Die Vertreter von Witt Weiden brachten die Ware ins Haus, oder die Großmutter schickte mich hinter Großvaters Rücken mit einem Weckglas und passendem Geld hinunter ins Dorf. Bratheringe in viel saurer Zwiebelsoße, die gab es beim Fischhändler Tepperwin. Wenn die Teller auf dem Tisch standen, die Fische golden, in goldenem Saft, silberner Knoblauchduft, dann war es um ihn geschehen, dann leuchteten Großvater Heinrichs Augen. Stolz auf sein geklinkertes Heim und auf so eine angetraute Frau Unternehmerin wie Berta. Was kost die Welt. Dann hatte er genau den richtigen Appetit.

Die schlesische Berta ist nicht mehr da. Ich bin trotzdem noch einmal gekommen. Schweren Herzens. Vor vier Wochen hat mich Heinrich wie immer am Roten Buckel abgeholt. Ich war wie immer aus dem Osten, letzte Bahnstation Schwiegershausen, schwarz über die grüne Grenze zu ihm herübergewandert. Er hatte schon im Busch gewartet, leider mit einem Dreiangel in seiner Sonntagshose. Ein leeres Holzfuhrwerk hatte ihn mitgenommen bis zur Einschlagstelle im Wald, beim Absitzen ist es passiert. Ein Loch im Hosenarsch. Hätte böser kommen können. Es gibt Schlimmeres. Nicht nur in den sieben Büchern, sondern im Leben.

Dreiangelwiebeln, sogar Kunststopfen, darin war ich ziemlich gut. Das hatte ich in der Schule gelernt. Es war das Beste, was ich machen konnte. Trotzdem hat der Großvater vor der perfekt reparierten Hose geflennt. Das Taschentuch. Die Tränen. Woher und wohin damit. Herrgott, ach Gott, ach Herr Jesus. Donnerschock. Ich bin die langen Wochen mit dem Albatros unterwegs gewesen. Viele Tage auf Tour. Meine letzten Schulferien. Ich will Bratheringe holen. Der Großvater gibt mir zwanzig Pfennige und flennt und flennt, auch ich habe die Augen voll Tränen, unterwegs bis ins Dorf und wieder zurück. Am Tisch mit dem glatten Wachstuch, wo Holländerinnen zwischen Windmühlen tanzen, nagen wir an den Gräten. Essigsauer und Salz. Wenn die Tränen heimlich auf den Teller tropfen. Ich setze mich vor die Haustür auf die Schwelle. Weil sich in der Stube lange nichts rührt, klopfe ich ans Fenster und rufe: Die Bienen schwärmen. Wahrscheinlich ist die neue Königin mit einem Volk fortgeflogen. Ausgekrochen und fort. Die Königin, während du in der Stube gewesen bist. Ich weiß, was ihm die Laune verdirbt. Ich hoffe, ein tüchtiger Ärger, ein altvertrautes Kümmernis, hilft gegen ein schweres Herz.

Schon höre ich ihn fluchen. Biester, verdrehte, garstige. Er glaubt mir, aber in Wahrheit glaubt er mir nicht. Weil ich schon wieder taub, blind und stumm auf der Haustürschwelle sitze, macht er einen Schritt. Steigt über mich drüberweg. Er schimpft, wie er immer geschimpft hat, wenn bei den Bienen ein Nachschwarm samt Weisel wer weiß wie weit ausflog und die Großmutter immer noch die Ruhe selbst war. Manchmal konnte er die Schwärmer noch mit einem Regenschirm oder einem Fetzen Tüllgardine einfangen. Um der Bienen willen hält Gott den Menschen.

Aber das Leben ist falsch. Alles ist falsch geworden, seit sie nicht mehr da ist. Seine Berta ist ihm weggestorben. Sie lebt nicht mehr. Mich hat er kaum angesehen in meinen letzten vier Schulferienwochen. Wenn ich nicht auf Fahrradtour war, habe ich im Dorf beim Dreschen geholfen und so viel verdient, daß ich mir offiziell Gummistiefel kaufen konnte. Die nehme ich mit, weil ich von nun an Arbeitskleidung brauche. Auch das Geld nehme ich diesmal in einer Eingebung mit, ich möchte dem Alten beibringen, wer ich bin. Leichtlebig, wie er fürchtet, so bin ich. Am Vorabend habe ich die Blechschachtel aus der Erde gegraben. Es hat kein Aufsehen gemacht. Wie auch seinerzeit das Eingraben am Telegrafenmast fünf Schritt vor dem Hühnergehege kein Aufsehen erregt hatte. Das sind diese Augenblicke, wo ich mich frage: Bin ich Luft? Ich müßte längst einmal erwischt worden sein.

Ich habe mich daran gewöhnt, daß ich nicht erwischt und auch nicht getroffen, abgeschlagen oder beiseite gestellt werde. Die Bälle fliegen beim Völkerballspielen an mir vorbei. Ich bin Luft. Ich weiß, daß mich keiner sieht, keiner ruft und gleich gar niemand aussucht, um mir schöne Kleider und das Leben der Prinzessin anzubieten. Es sind andere da. Die sind an der Reihe.

Meine schwarzen Grenzübertritte, ohne Zwischenfälle. Die gelingen mir, weil Großvater Heinrich in Schwiegershausen direkt hinter dem Graben auf östlicher Seite eine Vertrauensperson wohnen hat, eine aus der alten Heimat. Unsere schlesische Tante Selma. Sie kennt sich unterdes aus im neuen Gehege, da macht ihr keiner was vor, nicht mal die uralten heimischen Kater. Selma überwacht den Betrieb vor dem Behelfsbahnhof, wo die Kleinbahn...



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