Die Zeitdimension von Theologie und Kirche in ereignisbasierter Gesellschaft
E-Book, Deutsch, 360 Seiten
ISBN: 978-3-17-023464-2
Verlag: Kohlhammer
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Deckblatt;1
2;Titelseite;4
3;Impressum;5
4;Inhalt;6
5;Vorwort ;12
6;I. Einleitung ;14
6.1;1. Zeit als Problemhorizont der Praktischen Theologie ;14
6.2;2. Zeit und Raum ;19
6.3;3. Der Bezugshorizont Zeit: Ein rhizomatisches Tableau ;21
6.3.1;3.1 Naturwissenschaftliche Zeitkonstruktionen ;22
6.3.2;3.2 Philosophische Zeitdiskurse ;25
6.3.3;3.3 Geschichtstheoretische Zeitkonzepte ;32
6.3.4;3.4 Sozial- und kulturwissenschaftliche Zeitanalysen ;35
6.4;4. Stand der Forschung: Zur Formatierung des theologischen Zeitdiskurses ;37
6.4.1;4.1 Zeitdifferenzen: Über die temporalen Unterscheidungen der Theologie ;38
6.4.2;4.2 Zeitlinien: Grundtendenzen des theologischen Zeit-Denkens ;42
6.4.3;4.3 Zeitenwende: Praktische Wende des theologischen Zeit-Diskurses?;49
6.5;5. Methodiken ;51
6.5.1;5.1 Zeitpraktiken als Basis einer Praktischen Theologie der Zeit ;52
6.5.2;5.2 Praktisch-theologische Dispositivanalyse der Zeit ;54
6.5.3;5.3 „Crossing“: Theologie als Kreuzen der Grenze ;57
7;II. Vom Dispositiv der Ewigkeit zum Dispositiv der Geschichte: Die moderne Umstellung christlicher Zeitkonstellationen als Dynamisierung der Dauer ;62
7.1;1. Die vormoderne Zeitkonstellation als Dispositiv ewiger Dauer ;63
7.2;2. Die Zeit der Moderne als Kränkung des christlichen Ewigkeitsdispositivs ;65
7.2.1;2.1 Zeitstrukturen und Zeitdiskurse der Moderne ;65
7.2.2;2.2 Das Dispositiv ewiger Dauer als temporale Defensivreaktion ;73
7.2.3;2.3 Das Dispositiv der Geschichte als verspätetes Update im kirchlichen Zeitbezug ;75
7.2.3.1;2.3.1 Die Zeitsignatur moderner Theologie ;76
7.2.3.2;2.3.2 Gaudium et spes: Das kirchliche Lehramt in modernen Zeiten ;78
7.2.3.3;2.3.3 Moderne Zeitstrukturen in der pastoralen Praxis ;81
7.3;2.4 Zwischenresümee: Vom Ewigkeitsdispositiv zum Geschichtsdispositiv ;83
8;III. Paradoxale Dynamik: Die ereignisbasierte Verzeitlichung von Leben und Welt in der Gegenwart ;86
8.1;1. Zeitpraktiken und Temporalstrukturen der Gegenwart ;86
8.1.1;1.1 Beschleunigung und Verzögerung im rasenden Stillstand ;86
8.1.1.1;1.1.1 Technik, sozialer Wandel und Lebenstempo im Beschleunigungzirkel ;88
8.1.1.2;1.1.2 Geld, Macht und Glaube als Beschleunigungsmedien ;94
8.1.1.3;1.1.3 Paradoxien der Entschleunigung: Kleine Topographie der Verlangsamung ;99
8.1.2;1.2 Verzeitlichung der Zeit: Eine Revolution des Raum-Zeit-Dispositivs ;102
8.1.2.1;1.2.1 Vom uniformen Diktat der Uhr zur Pluralität konkurrierender Eigenzeiten ;103
8.1.2.2;1.2.2 Vom linearen Zeitpfeil zur Entkopplung der Zeithorizonte ;105
8.1.2.3;1.2.3 Von stabilen Zeitsequenzen zu situativer Gleichzeitigkeit;108
8.1.3;1.3 Zeit im Ereignis: Zur Dekonstruktion von Identität und Geschichte ;110
8.1.4;1.4 Temporale Biomacht und Exklusion im flexiblen Netzwerkkapitalismus ;114
8.1.4.1;1.4.1 Flexibler Kapitalismus in Zeiten der Netzwerkgesellschaft;114
8.1.4.2;1.4.2 Temporale Biomacht im Inklusionsbereich ;116
8.1.4.3;1.4.3 Temporale Konflikt- und Exklusionsdynamiken ;118
8.2;2. Das Ereignis denken: Zeitstrukturelle Konvergenz diskursiver Leittheorien ;121
8.2.1;2.1 Die Öffnung der Zeit zum Ereignis beim späten Heidegger ;121
8.2.2;2.2 Michel Foucault: Die Rückkehr des Ereignisses in den Diskurs ;123
8.2.3;2.3 Niklas Luhmann: Ereignisbasierte Beobachtung der Gegenwart ;128
8.2.4;2.4 Jacques Derrida: Die Verzeitlichung der Metaphysik durch Ereignisdenken ;134
8.3;3. Materialität der Zeit: Im Ereignisdispositiv wohnen und leben ;139
8.4;4. Resümee: Das Ereignisdispositiv der nächsten Gesellschaft ;141
8.4.1;4.1 Vom Geschichts- zum Ereignisdispositiv ;141
8.4.2;4.2 Postsäkulare Permanenz der Ewigkeit ;145
9;IV. Zwischen Geschichte und Ereignis: Analysen zur prekären Lage von Theologie und Pastoral im Zeitdispositiv paradoxaler Dynamik ;150
9.1;1. Zur Krise der temporalen Formatierung des theologischen Diskurses ;150
9.1.1;1.1 Ausgangspunkt: Eschatologie als Temporalisierungsprogramm des Christentums ;151
9.1.1.1;1.1.1 Erster Strang: Eschatologie als existenzialer Augenblick des Subjekts ;153
9.1.1.2;1.1.2 Zweiter Strang: Eschatologie als Geschichte Gottes mit den Menschen ;155
9.1.1.3;1.1.3 Rhizom: Öffnung des theologischen Zeitdenkens ;157
9.1.2;1.2 Exemplarische zeittheologische Positionen ;158
9.1.2.1;1.2.1 Diskursiver Fixpunkt: Temporale Dramatisierung bei Johann B. Metz ;159
9.1.2.1.1;1.2.1.1 Zeittheologische Genealogie des Metzschen Diskurses ;159
9.1.2.1.2;1.2.1.2 Temporal-theologische Thesen: Mit Metz über Metz hinaus ;167
9.1.2.2;1.2.2 Eschatologische Zeitpastoral (Ottmar Fuchs) ;176
9.1.2.3;1.2.3 Kinethik als Re-Embedding der Zeit in das Projekt der Moderne (Hans-Joachim Höhn) ;184
9.1.2.4;1.2.4 Seelsorge als Orthopraxie der Hoffnung (Stefan Gärtner);189
9.1.2.5;1.2.5 Diachrone Eschato-Praxis in der Spur von Levinas ;194
9.2;2. Temporale Praktiken als Problem des kirchlichen Organisationssystems ;201
9.3;3. Zwischenbilanz: Der schwere Abschied aus dem Zeitdispositiv der Moderne ;204
9.3.1;3.1 Die Zeit der Gegenwart als Kränkung moderner Theologie und Pastoral ;204
9.3.2;3.2 Die Kluft zwischen zeitpastoralen Diskursen und Praktiken ;207
9.3.3;3.3 Zeittheologische Spuren ins Ereignis-Dispositiv ;210
10;V. Exemplarische Studien zur Transformation von Pastoral und Theologie im Ereignis-Dispositiv ;214
10.1;1. Zeittheologische Vergewisserungen ;214
10.1.1;1.1 Gott als Ereignis ;214
10.1.2;1.2 Tableau zeittheologischer Wegmarken ;217
10.2;2. Kinder: Religiöse Bildung als Eröffnung von Gegenwart ;221
10.2.1;2.1 Zur Entdramatisierung der Gegenwart in der Kinderpastoral ;222
10.2.1.1;2.1.1 Die zeitliche Dramatisierung der Kindheit in Pädagogik und Pastoral ;222
10.2.1.2;2.1.2 Spuren ereignisbasierter Erziehung und Pastoral ;226
10.2.2;2.2 Weltbeheimatung und Horizonteröffnung: Gott als Ereignis im Leben der Kinder ;229
10.2.2.1;2.2.1 Ein neues Bildungskonzept in der frühen Kindheit ;229
10.2.2.2;2.2.2 Frühkindliche Religionspädagogik am Ende des Geschichtsdispositivs ;231
10.2.2.3;2.2.3 Ereignisbasierte christliche Bildung: Perspektiven einer Neuformatierung ;234
10.3;3. Leben: Christliche Existenz in den temporalen Dilemmata der Gegenwart ;237
10.3.1;3.1 Angeknackstes Leben: Zeitpraktiken jenseits von Bruch und Kontinuität ;237
10.3.1.1;3.1.1 Vom Knacks in der Zeit ;237
10.3.1.2;3.1.2 Die schwachen Spuren angeknackster Theologie ;240
10.3.2;3.2 Entschleunigen und vereinfachen? Zur Dekonstruktion pastoraler Uchronien ;243
10.3.2.1;3.2.1 Drei zeitpastorale Sehnsüchte ;243
10.3.2.2;3.2.2 Postheroische Zeitpraktiken ;248
10.3.3;3.3 Heterochrone Kairotope – Die wirkliche Möglichkeit anderer Zeiten ;252
10.4;4. Welt: Theologische Perspektiven mikropolitischer Pastoral ;255
10.4.1;4.1 Das Wagnis einer Politischen Theologie nach dem Ereignis „9/11“;257
10.4.2;4.2 Grenzen des ideologiekritischen Protests gegen die Paradoxien der Zeit ;261
10.4.3;4.3 Vom Erlebnis der Betroffenheit zur affektiven Politik pastoraler Ereignisse ;263
10.4.4;4.4 Temporäre Aktionen des Dringlichen: Spielräume mikropolitischer Pastoral ;265
10.5;5. Kirche: Liquid Church als ereignisbasierte Formation von Kirche;269
10.5.1;5.1 Liquid Church: Ein Leitbegriff für kirchliche Sozialstrukturen in der Gegenwart ;269
10.5.2;5.2 Konkretionen verflüssigter Pastoral ;271
10.5.2.1;5.2.1 Die Ereignisbasiertheit pastoraler Vollzüge: Predigt, Sakrament, Berufung ;271
10.5.2.2;5.2.2 Die Ereignisbasiertheit heutiger Kirchenbindung ;274
10.5.2.3;5.2.3 Verflüssigte Kirchenstrukturen am Beispiel Taizé und Citykirchen ;279
10.5.3;5.3 Reflexionen: Berichte aus dem aktuellen Flow pastoraler Theologie ;283
10.5.3.1;5.3.1 Paradoxale Fundierung kirchlicher Sozialformen: Stabilität durch Verflüssigung ;283
10.5.3.2;5.3.2 Vom flächendeckenden Territorialprinzip zur sakramentalen Ereignis-Logik ;286
10.5.3.3;5.3.3 Spuren situativer Pastoraltheologie ;289
10.5.3.4;5.3.4 Provisorisch, aber existenziell: Perspektiven ereignisbasierter Pastoral ;291
10.6;6. Theologischer Diskurs: Gott als Ereignis des Neubeginns ;295
10.6.1;6.1 Biblische Verwurzelung des Ereignisdenkens ;295
10.6.1.1;6.1.1 Jahwe als Ereignis seiner entzogenen Gegenwart ;297
10.6.1.2;6.1.2 Jesus Christus als Ereignis der Gottesherrschaft ;299
10.6.1.3;6.1.3 Situativität in Jesu Reden und Handeln ;303
10.6.2;6.2 Theologie in temporaler Dekonstruktion ;304
10.6.2.1;6.2.1 Gott als Ereignis im Kommen (Jacques Derrida) ;304
10.6.2.2;6.2.2 Reich Gottes als Ereignis einer heiligen Anarchie (John Caputo) ;307
10.6.3;6.3 Rekonstruktionen: Auf dem Weg zu einer ereignisbasierten Verzeitlichung der Theologie ;310
10.6.3.1;6.3.1 Antiapokalyptikum: Das schöpferische Ereignis des Neubeginns ;310
10.6.3.2;6.3.2 Antianamnetikum: Nicht die Erinnerung rettet uns, sondern Gott ;315
10.6.3.3;6.3.3 Antikontinuum: Messianische Zeit als Ereignis-Zeit ;322
10.6.4;6.4 Ereignisbasierte Zeittheologie als Theologie nach Auschwitz ;329
10.6.5;6.5 Alles andere als harmlos: In jedem Ereignis mit Gott neu beginnen ;331
10.6.5.1;6.5.1 Christliche Praxis als situative Treue zum Christusereignis ;331
10.6.5.2;6.5.2 Die radikale Forderung ereignisbasierter Glaubenspraxis (Knud E. Løgstrup) ;334
11;VI. Literaturverzeichnis ;340
II. Vom Dispositiv der Ewigkeit zum Dispositiv der Geschichte: Die moderne Umstellung christlicher Zeitkonstellationen als Dynamisierung der Dauer
Alles folgende wird im Interesse der Gegenwart rekonstruiert und zwar entlang der Vermutung, dass die theologischen Probleme mit der Zeit der Gegenwart auf das Engste verknüpft sind mit jenen temporalen Kränkungen, welche der Kirche und ihrer Theologie zunächst durch die modernen und dann erneut durch die post- bzw. spätmodernen Zeitstrukturen zugefügt wurden. Der Begriff der Kränkung geht auf Sigmund Freud zurück. Demnach gibt es drei zentrale Kränkungen der Menschheit. Nach Galileo und Kopernikus ist die Erde nicht mehr der Mittelpunkt des Universums, nach Darwin stammt der Mensch nicht von Gott, sondern vom Affen ab, und nach Freud ist das vernünftige „Ich“ aufgrund seiner unbewussten Gefühlswelt nicht mehr Herr im eigenen Haus.1 Kränkungen stellen also die konstitutive Identität einer ganzen diskursiven Konstellation bis in die Grundfesten existentiell in Frage. Insofern wird zu zeigen sein, ob und wie die Veränderungen der Zeitverhältnisse die diskursiven Konstellationen von Theologie und Kirche bis in ihre konstitutiven Formationen hinein erschüttert haben. Das nimmt insofern einen Neuheitswert in Anspruch, als die Beachtung von Temporalstrukturen in Theologie und pastoralem Handeln keine Selbstverständlichkeit ist. Auch in der Theologie „werden Zeitprobleme auf sachliche und soziale Überforderungen, nicht aber auf Probleme in der Zeit selbst zurückgeführt“2. Genau dies soll im Folgenden jedoch versucht werden, nämlich die Situation von Kirche und Theologie in der Gegenwart als Genealogie ihrer temporalen Kränkungen zu verstehen. Dann könnte deutlich werden welche Bedeutung der Zeitdimension als lange vernachlässigter Konstitutionsbedingung von Pastoral zukommt. Denn seit dem Augenblick, in dem die Zeit nicht mehr in die Ewigkeit Gottes und der Kirche eingespannt war, sondern immer schneller in ihrer ganzen Flüchtigkeit eigenständig wirksam wurde, hat die Kirche die Herrschaft über die Zeit verloren – mit Folgen, die bis heute wirksam sind. 1. Die vormoderne Zeitkonstellation als Dispositiv ewiger Dauer
In der ständisch differenzierten Gesellschaft des Früh- und Hochmittelalters war die abendländische Welt bis zur Reformation, nach allem was man weiß, vor allem: katholisch. In den zugespitzen Worten von Jochen Hörisch hieß das: „Ob Galilei recht hat oder nicht, entscheidet … der Papst; ob ein Kaiser zurecht Kaiser ist, entscheidet der Papst. Wie Kinder erzogen werden sollen, ob man Jerusalem zurückerobern soll, ob dieses Buch auf den Index librorum prohibitorum gehört, ob Homosexuelle auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden sollen, ob es Einhörner gibt, ob der Julianische Kalender stimmt und ob Frauen eine Seele haben – all das muß die Spitze der Kirche entscheiden, die sich nicht umsonst katholisch – also allumfassend nennt.“3 Vor allem die zeitlichen Ordnungen jener Epoche4 waren geprägt von christlichen Glaubensvorstellungen und den kirchlich-katholisch normierten Rhythmen. Das Leben war noch nicht dem exakten „Diktat der Uhr“5 unterworfen. Als Maß für eine kurze Zeitspanne galt das „Ave Maria“, noch nicht die sechzig Sekunden einer Minute.6 Garant dieser Zeitordnung und damit der eigentliche Zeitgeber war deshalb nicht der Mensch, sondern Gott und die von ihm geschaffenen Zeichen der Natur und Rhythmen seiner Kirche. Natürlich gab es in dieser Zeiterfahrung nicht nur Statik, sondern auch Veränderung. Aber die Bewegung von Welt und Leben „folgt den selben Bewegungen wie Gott“7, so George Duby über den Zeitausdruck der romanischen Architektur. Der fest gefügten ständischen sozialen Ordnung entsprach eine stabile Verknüpfung von Raum und Zeit. Im Alltag wurde Zeit meist als räumliche Distanz angegeben und Entfernungen waren in Zeiträumen bestimmbar. „Weit weg“ und „lange Dauer“, „nahe“ und „bald“ waren gleichbedeutend.8 Zeit war nicht der Blick auf die Armbanduhr, sondern das, was der Bauer brauchte, um vom Landgut zum städtischen Marktplatz zu kommen. Diese Bewegungen hatten nun genauer betrachtet eine zweifache Temporalform. Die Zeit wurde von den Menschen im Alltag vorwiegend zyklisch erfahren, sie war aber zugleich in einen linearen Erlösungshorizont von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht eingebettet. Zyklisch war der Lauf der Jahreszeiten, die im Festkreis des Kirchenjahres entsprechend gefeiert wurden ebenso wie der immer wiederkehrende Tagesablauf der täglichen Arbeit (vita activa) oder der täglichen Gebetszeiten des Klosters (vita contemplativa). Auch wenn man wie Günter Dux davon ausgeht, dass der Glaube an eine lineare Heilsgeschichte „oberhalb des realen historischen Geschehens“9 anzusiedeln sei, so bleibt diese temporale Gerichtetheit doch nicht ohne Wirkung auf das damalige Leben. Die Menschen lebten nämlich weniger mit Geschichten und Bildern aus dem Leben Jesu als in der apokalyptischen Erwartung des Jüngsten Gerichts. Wer den heiligen Raum einer romanischen Kathedrale betreten wollte, musste sich am Eingangsportal einer drastisch real figurierten Weltgerichtsszene stellen. Von daher „folgt alles einer Richtung, der Gang des Menschen wie auch der Lauf der Geschichte – und auch das Bauwerk muß auf einen bestimmten Punkt im Raum verweisen, wenn es die göttliche Vorsehung wahrheitsgetreu interpretieren will“10. Auch Michel Foucault beschreibt diese Welterfahrung bis zum Ende des 16. Jahrhunderts als „ein theologisch-kosmologisches Kontinuum“11. Gott regierte die Welt auf pastorale Art und Weise. „Das heißt …, dass die Dinge der Welt für den Menschen gemacht waren und dass der Mensch nicht gemacht war … um endgültig in dieser Welt zu leben, sondern um in eine andere Welt überzugehen“.12 Das Zeitdispositiv der Vormoderne erscheint trotz des Ineinanders von zirkulärer Zeiterfahrung und linearer Vollendungserwartung als ein in sich geschlossenes, gottgewirktes Ganzes. Armin Nassehi nennt diese Formation deshalb treffend „zyklische Linearität der eschatologischen Heilsgeschichte“13. In dieser temporal-sakralen Geschlossenheit verbanden sich Alltags-, Lebens- und Weltzeit zu einer Art heilsgeschichtlichen Erlösungsordnung. „Jeder Tag im Kirchenjahr hatte seine feste Bedeutung, die es durch rituelle Handlungen zu bestätigen galt. Zeit wurde so immer unmittelbar erfahren, eingebettet in eine Heilsgeschichte, deren Problematisierung nicht gestattet war.“14 Zeit und Zukunft waren zwar gefürchtet, aber bekannt und im religiös-rituellen Kontakt mit dem Ewigen abgesichert. „Man wurde Christ wie durch Osmose – einfach dadurch, dass man die Denkmuster und Gepflogenheiten seiner gläubigen Umgebung übernahm. Der Glaube war ebenso verständlich wie in der Praxis leicht zu identifizieren: Christ sein hieß getauft zu sein und in die Kirche zu gehen; und Pastoral bestand darin, die Glaubenslehre, die moralischen Normen, die Sakramente und die Regeln kirchlicher Disziplin getreulich weiter zu geben.“15 Diese kurzen Eindrücke müssen hier genügen, um zwei wesentliche Aspekte festhalten zu können. In der mittelalterlichen Welt war der Unterschied von Zeit und Ewigkeit die entscheidende temporale Differenz. Die platonisch-augustinische Dualität von irdischer Zeit und göttlicher Ewigkeit bestimmte die mittelalterliche Temporalität. Mit dem Bild vom vertikalen Stockwerksdenken wird klar, dass Ewigkeit keine unabgeschlossene Zeitlichkeit meint – so wie man heute metaphorisch klagt, dass etwas „ewig dauere“ – , sondern dass der ewige, zeitlose Gott in jedem Augenblick anwesend sein könne. Von daher galt das Stabile als Zeichen göttlicher Ewigkeit, während man in einem Poem aus dem 12. Jahrhundert über das Andere der Ewigkeit lesen kann: „Alles was sich verändert, verliert seinen Wert“16. Alles Zeitliche war vergänglich, allein Gott und seine Kirche waren ewig. Damit waren die Lebensvollzüge und Weltvorstellungen mehr oder weniger kirchlich normiert. Mit ihrer Definitionsmacht über die Zeit besaß Kirche ein unhinterfragtes Herrschafts- und Sanktionsmittel. Die Zeit des Mittelalters wurde die Zeit der Kirche. 2. Die Zeit der Moderne als Kränkung des christlichen Ewigkeitsdispositivs
2.1 Zeitstrukturen und Zeitdiskurse der Moderne
Mit dem Überschreiten der Epochenschwelle zur Moderne17, von der Entdeckung der Neuen Welt über die Reformation und die Aufklärung hin zur Französischen Revolution, lässt sich das weitgehend geschlossene Raum-Zeit-Dispositiv der Ewigkeit nicht mehr aufrecht erhalten.18 Die einsetzende Entmachtung von Kirche und Theologie, so die These, hängt konstitutiv mit der Umstellung des Zeit-Dispositivs zusammen, was sowohl in diskursiven Semantiken als auch gesellschaftlichen Praktiken erkennbar wird. Die neue Zeitstruktur der Moderne hat nämlich in der Tat die konstitutive Identität der vormodernen, kirchlich-theologisch geprägten Zeit- und Weltverhältnisse bis in die Grundfesten existentiell in Frage gestellt. Die raum-zeitliche Ordnung des vormodernen christlichen Abendlandes wird aufgebrochen, „die alte Ordnung der Dinge zerstört“19. Die modernen Zeiten bedeuten eine Kränkung der temporalen Grundlagen des mittelalterlichen Christentums. Es wurde oft beschrieben wie mit dem Gebrauch einer exakten Zeitrechnung die ewige Zeit der Kirche mit der linearen Zeit der Händler und Städte einen immer stärker werdenden Gegner bekommen hat.20 Ein signifikantes Beispiel dafür ist die Bedeutungsverschiebung, welche dem wichtigsten Ritual...