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E-Book

E-Book, Deutsch, 260 Seiten

Schuemmer Nixen fischen

Roman
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-88769-599-6
Verlag: konkursbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Roman

E-Book, Deutsch, 260 Seiten

ISBN: 978-3-88769-599-6
Verlag: konkursbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Ein heruntergekommener Laden voller Seekarten, Korallenschmuck, Perlmuttkämme, Galionsfiguren und Meeresgetier. Knut Seckig, zynischer, obszöner, angejahrter Ladeninhaber, der nicht nur Maritimes sammelt, sondern auch Nixen, junge Frauen. Studentin Ines beginnt dort zu arbeiten, ein gefährliches Unterfangen ... Sie hatte im Schaufenster dieses Antiquitätengeschäfts für Maritimes ein Fotoalbum entdeckt, darin ein altes Polaroid, das ihr den Atem raubt - denn das Bild, auf dem ein Taucher im Hintergrund zu sehen ist, hat mit ihrem Familiengeheimnis und ihrer verstummten Mutter zu tun. Sie betritt den Laden. Eine unheimliche, surreale Atmosphäre erwartet sie: feuchte Wände, Fische, Quallen, Tentakel und Kiemen in Formaldehyd und der unangenehm obszöne Ladeninhaber. Ines nimmt das Angebot an, vier Wochen im Laden und am Stand auf einer Kunstmesse zu arbeiten und im Gegenzug das Polaroid zu erhalten. Seckig und sein Gegenspieler Patte sind seit Ewigkeiten Händler; Ines erfährt viel von den Tricks und der Seele des Handelns. Doch Seckig sammelt nicht nur Meeresdinge, sondern auch Gestrandete. Er bietet drogensüchtigen Mädchen, die auf der Straße leben und sich mit Prostitution über Wasser halten, seinen Laden als Zufluchtsort an gegen Sex: Nixen fischen. Auch Ines gerät in sein gefährliches Netz. Sie droht unterzugehen, sie muss sich entscheiden, ob sie eine Nixe ist und in ihrem Unglück versinken wird oder eine Aufgetauchte, die sich noch retten kann.

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I Im Schaufenster schwebte die Nixe. Zwischen den Schulterblättern war eine rostige Schraube in ihren Rücken getrieben, ein Stahlseil verband den hölzernen Körper mit der Decke. An einer Spitze ihrer Schwanzflosse baumelte ein gelblicher Zettel. Sie war kaum größer als ein Kind, ein vierjähriges vielleicht. Krakeleespuren durchzogen ihre Haut, die Patina war an einigen Stellen abgeplatzt, darunter schimmerte die gemaserte Struktur des Holzes. Die Medusenhaare wehten ihr bis zur silbrig schuppigen Hüfte. In den milchigen Augen fehlten die Pupillen, und auch die Farbe der Iris war unter der Staubschicht kaum zu erkennen. Die Nixe hing barbusig im Schaufenster, die Stirn weit vorgestreckt, als wollte sie die Glasscheibe, ihr wasserloses stilles Aquarium, mit dem Kopf durchstoßen. Ines trat näher an das Schaufenster. Es regnete nur leicht, aber der Wind sprühte die Tropfen vor sich her wie eine Nebeldüse, und von der Markise über ihr war nicht mehr übrig als ein zerfetztes Segel. Sie nahm die Tasche auf die andere Schulter und tastete nach den Nadeln in ihrem Nackenknoten. Die weißblonden Haare waren so straff zurückgebunden, dass ihre Schläfen spannten. Darunter klopfte es wie Fingerkuppen auf einem Tambourin, ein leises hektisches Pochen, und dazwischen der Herzschlag, den sie bis zum Hals fühlte. Sie holte tief Luft, die Metallstäbe des eng geschnürten Korsetts unter der Brust und am Rücken knirschten, ein Käfig, der keinen Zentimeter nachgab. Der Wind wickelte ihr die weiten Hosenbeine um die Knöchel, als hätte sie einen gedrechselten Unterkörper, einen Sockel statt Füße. Es tropfte auf ihren Kopf, sie sah nach oben und ging einen Schritt zur Seite. Der Stoff der Markise war von Löchern und Rissen durchzogen, und an den Rändern fraß sich etwas Graues hinein. Eine Metallstange hatte sich gelöst und schlug bei jedem Windstoß gegen ein Blech, es hallte in einem vibrierenden Scheppern nach. Ines legte die Stirn an das Glas, das glühte, als käme Hitze aus dem Inneren des Geschäftes und wölbte die Scheibe nach außen. Sie versuchte zu erkennen, ob jemand im Laden war, aber eine schulterhohe Stellwand, auf der Gemälde von sinkenden Schiffen, treibenden Flößen und Sturmfluten hingen, verbarrikadierte das Schaufenster. Eine Glühbirne an der Decke beleuchtete die Bilder mit einem gelblichen, trüben Licht. Eine zweite Lampe strahlte die Nixe an, die einen Schatten über die ausliegenden Waren warf. Auf bräunlichem Pergament drängten sich nautische Gerätschaften, Kompasse und Fernrohre, Perlenketten, Ohrringe und Korallenbroschen mit langen Nadeln. In einer Schale türmte sich ein Berg aus grünspanigen Münzen, sogar ein Steuerrad gab es und weiter links eine kleine Kanonenkugel. Ganz am Rand stand eine Petrusfigur, umrahmt von Toilettenartikeln, Fläschchen und Zeichnungen mit badenden Mädchen. Neben einem Austernmesser und dazu passenden Handschuhen aus silbernen Ketten und Teilen eines antiken Fischbestecks war ein Set Kaviarschälchen gestapelt, alles eingehüllt in hauchdünne Kokons aus Staub. Halb verborgen unter Zirkeln, Messern und Eispickeln lag das Fotoalbum. Sie hatte es vor ein paar Tagen entdeckt. Seitdem war sie schon oft zu dem Geschäft gekommen, einmal sogar nachts, weil sie da lange vor dem Schaufenster stehen konnte, ohne dass es jemandem auffiel. Sie hatte gehört, wie sich die anderen im Seminar über den maritimen Kitsch dieses Ladens lustig machten und versuchten, bei den Jugendstil-Galerien rund um den Markt einige Straßen weiter Praktikumsplätze und Messejobs zu bekommen, aber sie musste sich, seit sie das erste Mal die Nixe gesehen hatte, zwingen, schnell weiterzugehen. Sie hatte sich selbst versprochen, mindestens eine Woche darüber zu schlafen, bevor sie etwas wegen des Albums unternahm, doch sie konnte nicht mehr warten. Das Nieseln störte sie nicht, im Gegenteil, es war eine gute Ausrede, um sich unter die Markise zu stellen und die Fotos noch einmal ganz genau anzusehen. Der wellige Karton des Albums war von Stockflecken übersät. Auf jeder der beiden aufgeschlagenen Seiten klebten je drei Fotos, Abzüge in orangenen Farben, teilweise überbelichtet oder verwackelt. Sie zeigten Dünen mit Schafen, Menschen, die in gelben Gummistiefeln durch Watt liefen, oder einen sonnenbeschienenen Strand mit Schiffen im Hintergrund. Nur das Bild unten rechts war ein Polaroid. Zwei kleine Mädchen in einem Kanu, beide mit Zöpfen und Sonnenbrillen, das ältere in einem Bikini. Paddel in den Händen. Die See ganz ruhig. Weiter hinten ein Motorboot, der Bug schoss über das Wasser, ein Pfeil über einer Wolke aus Gischt. Neben dem Boot eine glitzernde, schaumige Welle, hoch aufgetürmt. An dessen Deck saß ein Taucher, ein schwarz glänzender, salamanderartiger Körper, dessen Beine in eine einzige große Flosse mündeten. Über seiner Brille war direkt vor der Stirn ein kleiner glänzender Kasten befestigt, Ines konnte nicht genau erkennen, was das sein sollte. Das Bild mit dem Kanu und dem Motorboot war verwackelt und trüb wie eine alte Erinnerung. Ines hatte sofort gewusst, dass das der Moment gewesen sein musste, der eine Moment, der zum einzigen geworden war, der immer noch andauerte und nie aufhören würde, ein lebenslänglich kalter, nasser Augenblick, in den sie eingesperrt blieb wie die beiden Kinder in diesem Polaroid. Sie riss sich los, betrat den Laden und sah dabei die Spiegelung ihres blassen Gesichtes über dem Schriftzug Knut Seckigs Sammelsurium. Die Tür schloss sich hinter ihr mit einem satten, saugenden Geräusch. Drinnen war es stickig und dunkel. Feiner Staub flirrte in den wenigen Lichtschächten, die von draußen hereinbrachen. Ines musste sich erst an das Dämmerlicht gewöhnen, aber sie fühlte sofort, dass jemand sie beobachtete, und wenig später erkannte sie zwei Mädchen, die hinten im Laden bewegungslos nebeneinander an einem großen Tisch saßen, Kaugummi kauten und sie aus schwarz umrandeten Augen anstarrten. Vergessene Porzellanpuppen, winzig im Vergleich zu ihr. Die bleichen Gesichter auf den mageren Körpern aufgespießt, keine der beiden rührte sich. Die eine hatte den Kopf kahlrasiert und hielt die knochigen Hände vor sich gefaltet. Die andere trug ein zerrissenes Oberteil und saß mit angezogenen Knien schräg zum Tisch. Ihr Schulterblatt stach spitz aus dem weißen Rücken hervor. Gerade als Ines etwas sagen wollte, stöhnte jemand in einem Nebenraum. Es folgte hechelndes Atmen, eine Flasche fiel um, dann ein gepresstes Grunzen und zum Schluss ein hustendes Keuchen. Die Spülung. Fluchen. Wieder die Spülung. Ein Poltern. Und noch einmal die Spülung, ein Rauschen, als brächen die Wassermassen direkt aus der Wand. Die beiden Mädchen starrten sie mit großen feuchten Augen an. Ines trat von einem Fuß auf den anderen und sah sich um. Der Laden war zugestellt mit trübglasigen, überladenen Glaskästen, in denen sich Graphiken oder Bücher stapelten. Auf Regalen standen Sextanten, silberne Schälchen, Statuetten von Poseidon und den Nereiden, versteinerte Muscheln und Schnecken, rostige Glocken und buntgefiederte Angelhaken. An der Rückwand hinter den Mädchen fiel das gelbliche Deckenlicht auf einige Vitrinen, in denen Kacheln mit Wellenmustern oder Seesternen ausgestellt waren. Dazwischen Flaschen mit Sand oder eingerollten Pergamenten und alte, schuppige Handtaschen, einige davon offen wie die Mäuler von Zackenbarschen. Auf Regalen standen verdorrte Grünpflanzen und Büchertürme, dazwischen waren Müllsäcke vollgestopft mit Zeitungen. Und auf dem Tisch, an dem die Mädchen saßen, häuften sich leere Plastikschachteln mit Resten von Soße und Brotrinden. Die Unordnung setzte sich an den Wänden fort, so dass Ines, die gar nicht wusste, wo sie zuerst hinsehen sollte, sich schwindlig und ein bisschen seekrank fühlte. Die Gemälde und Graphiken mit Seekarten, Meeresungeheuern, Heiligen, Fischern, die ihre Netze flickten, oder Stillleben mit Hummern und Austern hingen weder in der puristischen Art, mit der die Jugendstil-Galerien am Markt ihre Waren präsentierten, ein Bild pro Wand und darüber ein gleißend heller Spot, noch in der Petersburger Hängung, die die Antiquare nahe des Seminargebäudes bevorzugten, um möglichst viele Bilder gleichzeitig zeigen zu können. In Seckigs Sammelsurium waren die Rahmen an ganz absurden Stellen angebracht: Ein Sonnenaufgang über den Dünen hing wenige Handbreit über dem Fußboden in einer Ecke. Zwei Stillleben mit glänzenden, aufgeschnittenen Fischkörpern und Miesmuscheln direkt über der Heizung. Das Portrait einer Nymphe hatte jemand so nah neben eine Seekarte mit eingezeichneten Ungeheuern gehangen, dass sich die beiden Bilder überdeckten. In einer Ecke sah Ines gleich drei Strandlandschaften, eine breite Nische war dagegen bis auf eine versteinerte Koralle und eine einzelne Kette mit einem kleinen Anker völlig leer. Die Wände waren auch nicht weiß oder wenigstens einfarbig gestrichen, sondern im ganzen Geschäft mit einem stark gemusterten hellgrünen Stoff tapeziert, der sich an einigen Stellen von der Wand löste und ganz oben ausfranste. Dicht an dicht gingen Seerosenknospen vom Boden bis zur Decke, grüne Schoten, fest geschlossen mit einem einzelnen bräunlichen Blatt an der Seite. Der grüne Untergrund schimmerte wie ein See, aus dem sich dunklere, sumpfige Inseln erhoben. Offenbar war die Tapete dort feucht oder fleckig. Ines zuckte zusammen, als die Tür vom...


Schuemmer, Silke Andrea
Silke Andrea Schuemmer (*1973) lebt als freie Autorin in Berlin. Ihre Gedichte und Kurzgeschichten wurden vielfach ausgezeichnet und gefördert u.a. mit einem Aufenthaltsstipendium des Kultursenats Berlin im Literarischen Colloquium Berlin, dem Christine-Lavant-Förderpreis für Lyrik, dem Georg-Christoph-Lichtenberg-Preis für Literatur oder dem Walter-Serner-Preis des RBB. „Nixen fischen“ ist ihr zweiter Roman.



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