Schüler Sherlock Holmes in Dresden
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-95441-136-8
Verlag: KBV
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 280 Seiten
Reihe: Sherlock Holmes
ISBN: 978-3-95441-136-8
Verlag: KBV
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
1913 - Sherlock Holmes und Dr. Watson bereisen den Kontinent und machen einen Abstecher nach Leipzig, wo sie das Völkerschlachtdenkmal besichtigen wollen, das erst wenige Tage zuvor von Kaiser Wilhelm II. eingeweiht wurde.
Als ihr Zug im Leipziger Hauptbahnhof einläuft, wird auf sie geschossen, und eine Kugel tötet eine unbeteiligte Passantin. Holmes und Watson können den Täter überwältigen und sind überrascht. Es ist kein Geringerer als Colonel Moran, der ehemalige Stabschef von Professor Moriarty, dem größten und gefährlichsten Widersacher des Detektivs.
Moran kann fliehen, und Holmes und Watson heften sich an seine Fersen. Die Spur führt nach Dresden. Auch wenn Professor Moriarty schon lange tot ist, deutet doch alles darauf hin, dass seine ehemalige Verbrecherbande nun unter neuer Führung in Sachsen aktiv geworden ist. Der größte Detektiv aller Zeiten sieht sich einer Aufgabe von monströsem Ausmaß gegenüber.
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SCHÜSSE AUF DEM HAUPTBAHNHOF
Aus den Aufzeichnungen von Dr. Watson 20.10.1913, Leipzig Plötzlich vernahm ich ein bedrohliches Geräusch. Ich kannte es nur zu gut, hatte es aber schon lange nicht mehr gehört. Deshalb konnte ich es nicht gleich zuordnen. Es klang wie das giftige Summen einer aggressiven Biene. Sie war mit hohem Tempo herangerast gekommen und nur einen knappen Inch entfernt an meinem linken Ohr vorbeigesaust. Ich hatte den Luftzug gespürt. Wenige Yards hinter mir zerbarst eine Scheibe. Die Scherben fielen klirrend zu Boden. Irgendwo in meinem Inneren tickte eine Uhr. Achtzehn, neunzehn, zwanzig. Erst nach diesen langen Schrecksekunden begriff ich, dass zwischen dem Surren und dem Glasbruch ein Zusammenhang bestand. Also konnte keinesfalls ein mörderisches Insekt dafür verantwortlich gewesen sein. Einundzwanzig, zweiundzwanzig. Es gab nur eine einzige logische Erklärung: Irgendjemand hatte soeben eine Waffe in unsere Richtung abgefeuert, und zwar mitten in der belebten Halle des Leipziger Hauptbahnhofs! Vor Empörung stockte mir der Atem. Mit Schießeisen spielt man nicht, und schon gar nicht in der Öffentlichkeit! Wie schnell mochte da ein Unglück geschehen. Um ein Haar hätte es mich erwischen können. Holmes hatte glücklicherweise noch seine fünf Sinne beisammen. Er packte mich am Arm und riss mich unsanft zur Seite. »Nichts wie weg hier!«, schrie er mich an. »Dort der Kiosk wird uns Deckung geben.« Seine Aufregung steckte mich an. Ich vergaß, mich nach dem Grund dafür zu erkundigen. Nie im Leben wäre ich auf die Idee gekommen, wir beide hätten das Ziel des Schützen sein können. So schnell es meine alten Knochen zuließen, rannte ich hinter meinem Freund her auf den grünen, gusseisernen Pavillon zu, der gerade eben eines seiner rhombenförmigen Fenster eingebüßt hatte. Ich tat es Holmes gleich und lief im stetigen Zick-Zack-Kurs – wie damals im staubigen, afghanischen Hochland, nur eben langsamer und weitaus weniger elastisch. Holmes würde schon wissen, was er tat. Für eine vernünftige Erklärung war später immer noch Zeit genug. Eine Dame im besten Alter, die neben dem Kiosk wartete und wohl nach einem einlaufenden Fernexpress Ausschau hielt, musterte mich verblüfft ob meiner Kapriolen. Es handelte sich um eine höchst elegante Erscheinung. Sie trug einen teuren, dunklen Mantel nebst einem passenden kappenähnlichen Filzhut. Obwohl ich sie nur für die Dauer eines Wimpernschlags bewusst wahrnehmen konnte, prägten sich mir einige völlig unwichtige Details ein: ein perlmuttgefasstes Lorgnon, das an einer silbernen Kette um ihren Hals hing, eine kostbare Hutnadel in der Form eines Pfauenauges, ein glänzender Pelzkragen. Im nächsten Moment musste ich scharf nach rechts ausweichen, sonst wäre ich frontal gegen die Lady mitsamt ihrem Lorgnon geprallt. Sie nahm offensichtlich Anstoß an meinem unwürdigen Gehopse, denn sie streckte in einer theatralischen Geste beide Arme hoch in die Luft, so als ob sie in nächster Sekunde für mein Seelenheil beten wollte. Das hielt ich dann doch für leicht übertrieben. Verdutzt blieb ich stehen. Welches Schauspiel würde sie mir wohl präsentieren? Doch nun überzog das Weibsbild maßlos. Vielleicht war es eine Aktrice, die für ein neues Stück probte: Sie begann wie ein Rohr im Wind zu schwanken und sank langsam zu Boden. In meinem Leben hatte ich schon viel erlebt, aber noch nie eine Frau gesehen, die vor mir in die Knie gegangen wäre – und schon gar nicht auf einem ausländischen Bahnhof coram publico. Reichlich konsterniert blickte ich auf sie hinab. Da sah ich es voller Grausen: Eine große, rote Blume erblühte mitten auf ihrer Stirn, und ein Blutfaden rann ihr über das aschfahl werdende Antlitz. Ihre Augen brachen, das Lebenslicht erlosch. Für mich als Kriegsveteranen und vormals praktizierenden Arzt war der Übergang vom Sein zum Nichtsein durchaus ein gewohnter Anblick. In Afghanistan beispielsweise, speziell in der Schlacht von Maiwand[1], bei der ich selbst schwer an der Schulter verwundet wurde und nur dank der Hilfe meines treuen Lazarettburschen Murray dem Sensenmann von der Schippe springen konnte, waren um mich herum meine Kameraden im feindlichen Feuer wie die Garben bei der Mahd im Getreidefeld gefallen. Und während der großen Londoner Grippeepidemie im Jahr 1891 starben mir im St. Bartholomew Hospital die Patienten unter den Händen weg wie die Fliegen, und zwar trotz aller aufopfernden Fürsorge. Doch diesmal hatte Gevatter Tod, wie aus einer Laune heraus, ohne jede Vorwarnung zugeschlagen. Soldaten, die in ein Gefecht ziehen, tun dies im Bewusstsein, verwundet oder getötet zu werden. Ein Kranker, der in ein Spital eingeliefert wird, muss stets damit rechnen, es mit den Füßen zuerst wieder zu verlassen. Eine falsch dosierte Arznei, ein ärztlicher Kunstfehler oder eine allergische Reaktion kommen immer wieder vor. Aber wer auf einem Bahnsteig nach einem Fernzug Ausschau hält, darf sich eigentlich in Sicherheit wähnen. Instinktiv, ohne zu wissen warum und weshalb, war ich fest davon überzeugt, dass der heimtückische Schuss keinesfalls der armen Seele gegolten hatte, die nun vor mir zusammengekrümmt im Schmutz der Bahnhofshalle lag. Ich war wie paralysiert und überlegte krampfhaft, was ich nur tun sollte. Am liebsten hätte ich dem feigen Mörder voller Verachtung meinen Hut ins Gesicht geschleudert. Wieder rettete mir Holmes mein Leben. Er kehrte aus der sicheren Deckung zurück. Mit festem Griff zerrte er mich hinter den Verkaufsstand, in dem diverse Rauchwaren feilgeboten wurden. Im fragilen Schutz des gläsernen Pavillons warfen wir uns auf den staubigen Boden. Wir hätten keinen Moment länger zögern dürfen. Direkt über unseren Köpfen zersplitterte eine weitere Scheibe. Bei mir als altem Militär spulte sich im Geiste ganz automatisch eine Gedankenkette ab: großes Kaliber, die Waffe wurde aus einer Entfernung von etwa hundert Yards abgefeuert, schnelle Schussfolge, aber zu langsam für eine offene Visierung, kein hörbarer Knall. »Du hast völlig recht, mein lieber Watson«, meinte Holmes, der offensichtlich selbst in dieser misslichen Lage noch die Muße fand, meine Gedanken zu lesen. »Ein Scharfschütze hat uns aufs Korn genommen. Er steckt dort drüben auf einem der Baugerüste in der Osthalle und verwendet eines dieser kreuzgefährlichen Luftgewehre mit Zielfernrohr. Falls es – wie ich aufgrund der ungeheuerlichen Durchschlagskraft vermute – eine Girandoni-Windbüchse[2] sein sollte, stehen ihm schätzungsweise noch sechzehn weitere Kugeln zur Verfügung, ehe ihm die Puste ausgeht. Es wird für uns also noch eine Weile höchst ungemütlich bleiben.« Vor und neben dem Pavillon hatte sich inzwischen ein Menschenauflauf gebildet. Die erregte, aber ahnungslose Menge umstand wie gebannt die Ermordete und tat das, was die Leute in solchen Momenten stets zu tun pflegen: nichts Vernünftiges. Aber es gibt nichts Schlechtes ohne etwas Gutes. Je enger die Ansammlung der Schaulustigen zusammenrückte, umso mehr versperrte sie dem Attentäter die Sicht auf uns. Jemand rief in völliger Verkennung der Lage nach einem Arzt. Eine hysterische Frauenstimme verlangte lauthals nach der Polizei. »Sind Sie durch den Steinwurf verletzt worden? Brauchen Sie Beistand?«, fragte uns ein Mann. Seine schwarzen Lackstiefel kamen in mein Blickfeld. Ich schaute auf. Vor uns stand der Kioskbesitzer. Zu dem glänzenden Schuhwerk trug er eine Art hellbraune Pagenuniform, die sich eng über seinen gewaltigen Schmerbauch spannte. »Vielen Dank der Nachfrage, mein Herr, wir sind glücklicherweise unversehrt geblieben. Ganz im Gegensatz zu dem armen Weibsbild, welches dort drüben, direkt vor Ihrem Laden, nun tot in seinem Blute liegt«, antwortete Holmes. Er erhob sich vorsichtig und klopfte sich in gebückter Haltung den Schmutz von der Kleidung ab. »Aber Sie irren sich gewaltig. Die Scheiben wurden Ihnen nicht von mutwilligen Knaben eingeworfen, sondern von einem Banditen in mörderischer Absicht mit dem Gewehr zerschossen. Nun gilt es, weiteres Verderben von uns allen abzuwenden. Dazu müssen wir schleunigst den Attentäter stellen. Ich habe ihn bereits lokalisiert. Er feuert von der Baustelle aus, dort drüben in der Osthalle, in unsere Richtung. Kurz gesagt, wir benötigen Ihre Hilfe, guter Mann. Sie sind ein ehemaliger Polizeibeamter. Als ein solcher verstehen Sie sich bestens darauf, in brenzligen Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren. Ich habe doch die Ehre, mit Herrn Carl Ahlersmeyer, dem Geschäftsinhaber persönlich, zu sprechen?« »In der Tat, mein Herr, so ist es und so soll es bleiben«, erwiderte der Händler. »Sie kennen mich sicherlich von meiner einstigen Profession her. Über dreißig Jahre lang habe ich als Schutzmann und Gendarm König, Kaiser, Gott und Vaterland treu gedient. Nun versuche ich mir als freier Unternehmer meine bescheidene Pension...