Schuchter | Jene Dinge | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 102 Seiten

Schuchter Jene Dinge

Erzählung
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-99039-038-2
Verlag: Limbus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählung

E-Book, Deutsch, 102 Seiten

ISBN: 978-3-99039-038-2
Verlag: Limbus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Jeder ist Kind von jemandem und hat ein je eigenes Herkommen. Was tun, wenn man sich durch seine Herkunft eingeschränkt fühlt? Und was tun, wenn man sich durch die Entwicklung zum eigenen Wollen und Denken immer weiter von seiner Vergangenheit entfernt? Was, wenn die geschenkten Möglichkeiten zur Bürde werden? Man macht die Zumutung zur Annahme.
Jene Dinge erzählt vom Problem der Milieuflucht, denn wie Adorno meint: "Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen. Es gibt kein richtiges Leben im falschen."

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Es wurde nie viel gesprochen über jene Dinge, die ja so lange vor meiner Zeit geschehen sind. Es wurde überhaupt nie über die Menschen gesprochen, die sie waren; sie wurden immer nur bezeichnet, quasi wie Soldaten auf dem Reißbrett aufgestellt, mit Rang und Auszeichnung versehen auf der genealogischen Tafel meiner Familie. Ich konnte mir nie ein Bild von ihnen machen. Nicht nur, weil ich sie nicht gekannt habe, sondern weil auch die Erzählungen von ihnen oder über sie leer waren. Sie waren nie greifbar; ihre Taten, sofern ich welche kannte, und sie selbst mir eben nur Hülsen. Oft drängte es mich, die Schale zu knacken, aber jedes Mal war das Innere hohl, nein: ausgehöhlt, denn irgendwann musste da Substanz gewesen sein, denn gelebt hatten sie einmal. Das war ja gewiss. Aber die Geschichten, die mir erzählt wurden, waren wie Romane, denen ich keinen Glauben schenkte. Dabei waren diese Menschen gar nicht fiktiv, im Gegenteil, sie waren mir sogar eng verwandt. Dennoch kannte ich sie nicht. Weshalb ich auch die Geschichten, die mir erzählt wurden, immer wieder hören musste, denn ich vergaß sie jedes Mal gleich wieder. Immer, wenn solche Gedanken an die Vergangenheit kommen, traut man sich zu fragen. Jedes Mal hoffte ich. Jedes Mal traute ich mich nur in bedenklichster Verfassung zu fragen, und jedes Mal vergaß ich gleich alles wieder, weil ich eben in jener bedenklichsten Verfassung war. Oft fragte ich mich dann, wer denn hier wen schützen wollte, denn ich hätte ja spätestens nach dem dritten Mal wissen müssen, dass ich, nachdem ich mich in die bedenklichste nur mögliche Verfassung gebracht hätte, anschließend sofort wieder vergessen würde, sobald ich mich am nächsten Morgen einigermaßen ausgeschlafen hätte. Dennoch brachte ich mich sofort und ohne Nachdenken in die bedenklichste aller Verfassungen und sofort fragte ich, um anschließend das Gehörte doch wieder gleich zu vergessen. Am nächsten Morgen habe ich nicht einmal mehr den Namen gewusst, geschweige denn die Namen. Erst als ich mir dann dachte, dass sie ja gleich hießen, den gleichen Namen trugen, wenn auch nicht denselben, da erst erinnerte ich mich daran, aber es machte mir keine Freude. Sofort überkam mich das Gefühl, dass ich wieder alles vergessen hatte und wieder alles umsonst gewesen war. Als ich darüber nachdachte, dass mir der eine wieder nur eine Hülse war, nämlich leer und ohne Geschichte, da fragte ich mich, warum. Als ich mir jedes Mal heimlich unter der Hand und nur bei mir die Antwort gab, erschreckte ich mich und wollte plötzlich nicht mehr hören. Denn ich fragte mich, ob nicht auch der Mensch, den ich kannte, so sei wie der Mensch, der für mich nur eine Hülse war. Danach fragte ich jedes Mal weiter und erschrak noch mehr, bis ich eben nicht mehr hören wollte und sofort wieder alles vergaß. Die Brücke war für mich immer die Grenze gewesen, sowohl früher als auch heute. Nicht nur die eine Brücke, sondern auch die andere. Wie im Spiel fanden sich die drei Generationen und fanden sich auch nicht, denn wie durch Zufall waren sie jeweils durch eine Brücke getrennt und kannten sich nicht. Die eine wie die andere Generation. Man wusste nur vom anderen, was alle wussten, doch zusätzlich war da noch die Brücke, die Brücken, denn es waren ja zwei. Beide führten jeweils in eine andere Welt, also in einen anderen Stadtteil. Die Stadtteile waren wie von selbst getrennt und so waren es auch die Menschen, und diese wussten nur von jenen, was sie vom Hörensagen wussten. Kann schon sein, dass man sich bei irgendwelchen Anlässen traf, um dann ein wenig miteinander zu sprechen, um Erfahrungen auszutauschen oder selten gemeinsame Erinnerungen, denn man kannte ja nur sein jeweiliges Leben, das andere kannte man nicht. Aber Anlässe gab es kaum. Die Leben in den jeweiligen Stadtteilen waren tatsächlich unterschiedlich. Die Stadtteile waren verschieden wie die Leute, die darin wohnten. Während im einen Stadtteil die etwas Besseren wohnten, denen es nach dem Krieg schon langsam gut ging, spätestens aber in den siebziger Jahren wirklich gut, denn die Wirtschaft florierte und jener Stadtteil spürte dies besonders, ging es den anderen nur langsamer besser. Nicht zu vergleichen, denn die einen waren ja wieder ein quasi junger Stadtteil, dessen Einwohner knapp in den letzten Kriegsjahren geboren worden waren oder kurz danach. Arbeit gab es ja für junge Menschen. Hingegen war das andere Viertel traditionell ärmer, vielleicht weil älter, vom dritten Viertel ganz zu schweigen. Wenn man vom einen ins andere Viertel über die Brücke ging, ging man eine Klasse tiefer. Während die Besseren die sogenannte Mittelklasse darstellten, waren die anderen die Arbeiter. Auch wenn das oft nicht stimmte und viele zugezogen waren. Wenn man über die Brücke ging, ging man zum Schlächter, sagte man. Kaum ging man über die Brücke, die es so heute nicht mehr gibt, da sie mittlerweile neu aufgebaut wurde, bog man rechts ab, dann kam man zum Schlachthaus. Man kam zum toten Fleisch, zu den Kühen, die aus den Tälern in die Stadt in den Tod gebracht wurden, und konnte ihnen beim Sterben zusehen. Als kleine Jungen, erzählte mir mal jemand, kletterten wir auf die Mauer zum Schlachthaus und beobachteten die Tiertransporte, die großen Lastwagen, von denen es damals noch nicht so viele wie heute gab, die in ihren Bäuchen viele Kühe hatten, die man in den Tod trieb. Wie wenige Jahre vorher sich gegenseitig trieben da die Menschen das Vieh in das Schlachthaus und in den Tod. Die Kühe brüllten nicht, sondern gingen still in einer Reihe; nur selten, dass eine ausbrach. Meistens trottete das Vieh gutgläubig und brav und in seinen Tod. Wie einige Jahre vorher andere, aber an anderen Orten. Wir saßen also auf der Mauer und beobachteten das Vieh, erzählte mir mal jemand, und putzten unsere Revolver. Damals fand man nämlich noch viele Waffen im Fluss und der Fluss floss ja unter der Brücke, die zum Schlachthaus führte, hindurch. Als nach dem Krieg neue Machthaber kamen, warfen die alten ihre Waffen in den Fluss. Der Mythos der Alpenfestung war ja nicht lange zu halten gewesen und da erinnerten sich die Einwohner daran, dass sie an dem Krieg ja gar nicht schuld gewesen waren, und warfen ihre Waffen in den Fluss. Sicher dachte sich manch einer der Schützen, dass es schon schade sei um die schönen Waffen, und suchte sich ein besseres Versteck als den Fluss. Da dachte noch keiner daran, dass es so lange dauern würde, bis man die Waffen wieder hervorholen und zeigen dürfte. Bis zum 1959er-Jahr dauerte es ja schließlich mehr oder weniger, bis man endlich ohne schlechtes Gewissen mit den Waffen eine Parade zu Ehren eines anderen Krieges, wenn auch wieder eines verlorenen, abhalten durfte. Aber die meisten Waffen lagen im Fluss, der sich manchmal auch staute wie heute, wenn die gestohlenen Fahrräder und Einkaufswägen die Sill verstopfen. Da nahmen wir die Waffen aus dem Fluss, erzählte mir mal jemand, und putzten sie dann auf der Mauer zum Schlachthaus, wenn wir das Vieh beobachteten, wie es ohne zu murren in den Tod ging. Was war das aber für ein Spektakel, erzählte mir mal jemand, wenn hin und wieder ein Bulle aus der Herde ausbrach. Zehn Männer konnten den dann nicht mehr halten, wie wir aus einiger Entfernung von unserer Mauer aus beobachteten. Auch wenn die dicken Stricke durch den Ring in seinen Nüstern gezogen waren, ergab sich der Bulle nicht und wurde vom Schmerz nur noch wilder. Mit Ruten und Peitschen wurde er bearbeitet, andere raue Stricke schnitten in sein Fleisch, doch die zehn Männer konnten ihn immer noch nicht bändigen. Nun kam auch in die restliche Herde Bewegung, wie wir von der Mauer aus beobachteten, sie murrte und scharrte, als wollte sie nun endlich sich wehren und toben wie der Bulle. Dieser war schon beim Ausgang des Schlachthauses angelangt und drohte ins Viertel, vielleicht sogar in die Innenstadt zu entkommen, und da blieb ja keine andere Wahl, wie wir von der Mauer aus sahen, und die Schlachter schossen den Bullen tot. Wir sahen mehrere Zentner Fleisch wie einen nassen Sack zu Boden fallen, dumpf, zuckend manchmal, erzählte mir mal jemand, und die Schlachter noch auf den toten Bullen einschlagen und fluchen, da hörten wir für einen Moment auf, unsere Waffen zu putzen. Wir wussten nicht, erzählte mir mal jemand, ob wir selbst unsere Waffen benutzt hätten, wären wir in der gleichen Situation gewesen, oder ob wir vor Schreck erstarrt wären. Manchmal aber brach der Bulle auch wirklich aus und rannte schnurstracks in den Fluss, der damals noch keine Hochwasserverbauung hatte, brach sich die Beine, stürzte ins Wasser und ertrank. Auch da fluchten die Schlachter, denn ein Bulle war viel Geld wert. Jedes Mal aber hörte die restliche Herde daraufhin auf zu murren und ging wieder stumpf im Gleichschritt ins Schlachthaus und in den Tod. Mein Vater war Baumeister. Später, sicher, obschon ich, wenn ich an das Umgekehrte dachte, oft nicht wusste, wo der Anfang sei, geschweige denn zu beginnen. Denn erst später war er Baumeister. Dennoch dachte ich immer an die Vorarlberger Zeit. Vorarlberg bedeutete für mich, natürlich aus einem Missverständnis heraus, eine Mohren-Zeit, denn mein Vater, so dachte ich immer, hätte nach...


Bernd Schuchter, geboren 1977 in Innsbruck, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie an der Universität Innsbruck. Lebt mit seiner Familie in Innsbruck. Rezensent, Autor und Verleger. Seit 2006 Verleger des Limbus Verlag, etliche Veröffentlichungen, zuletzt: Link und Lerke (2013), Föhntage (2014).



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