E-Book, Deutsch, 245 Seiten
Schubarth Gewalt und Mobbing an Schulen
4. Auflage 2020
ISBN: 978-3-17-039148-2
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Möglichkeiten der Prävention und Intervention
E-Book, Deutsch, 245 Seiten
ISBN: 978-3-17-039148-2
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Prof. Wilfried Schubart teaches and reseachers on issues of adolescence, schools and educational research in the Department of Educational Studies at the University of Potsdam.
Autoren/Hrsg.
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Teil I Gewalt und Mobbing an Schulen
1 Von Amokläufern und Voyeuren: Zur öffentlichen Debatte um »Schule und Gewalt«
Gewalt von Jugendlichen erregt seit jeher öffentliche Aufmerksamkeit. In der Geschichte der Bundesrepublik waren es im 20. Jahrhundert vor allem die Halbstarkenkrawalle der 50er Jahre, die Studentenunruhen der 60er und 70er Jahre sowie die Aktionen der Autonomen in den 80er Jahren, die im Blickpunkt der Öffentlichkeit standen. Mit der Wiedervereinigung Deutschlands und den Debatten um »rechtsradikale Gewalt« sowie um »Gewalt an Schulen« in den 90er Jahren wurde »Jugend und Gewalt« endgültig zu einem Dauerthema in einer zunehmend vom Medien dominierten Gesellschaft. Problematische Folgen dabei sind, dass Jugendliche mitunter pauschal als »gewaltbereit« oder als »Sicherheitsrisiko« etikettiert werden und die Kriminalitätsfurcht, die »gefühlte Kriminalität«, in der Bevölkerung ansteigt. So verwundert es nicht, dass in der öffentlichen Wahrnehmung die Annahme vorherrscht, dass die »Jugendgewalt« ständig zunimmt und die Täter immer jünger und immer brutaler werden. Dass dem – zumindest in dem angenommenen Ausmaß – nicht so ist, wird in Kapitel I, 5 gezeigt werden.
Besonders groß ist die öffentliche Aufmerksamkeit, wenn es sich um spektakuläre Gewaltvorfälle, z. B. Amokläufe, handelt. Tagelang berichten dann die Medien über solche »Medienereignisse«. Die Täter sind auf allen Kanälen präsent. Jedes noch so intime Detail wird ausführlich beschrieben. Es wird spekuliert und gemutmaßt, mitunter auf Kosten der Seriosität. Besonders gerne werden Gefühle der Opfer, möglichst hautnah, eingefangen. Emotionsgeladene O-Töne und O-Bilder gehören zum Standardrepertoire der Berichterstattung. Das garantiert Aufmerksamkeit bei den Empfängern. Sofort werden auch Fragen nach den Ursachen und Folgerungen aufgeworfen. Experten und Praktiker kommen zu Wort und die Politiker debattieren – meist kontrovers – über Konsequenzen, z. B. über Verbote von Computerspielen oder über das Waffenrecht. Das geht so einige Tage oder Wochen lang, bis das Interesse wieder erloschen ist oder ein neues »Medienereignis« an die Stelle des alten getreten ist.
Sicherlich ist richtig, dass die Öffentlichkeit über solche Gewaltereignisse informiert werden muss und dass das Bedürfnis, ausführlich zu berichten, auch aus der tiefen Betroffenheit resultiert. Gleichwohl rechtfertigen Nachrichtenwert und Informationsgehalt keineswegs die Flut an Bildern und die ernorme mediale Skandalisierung. Doch warum kommt es immer wieder zu solchen Medienzyklen? Die Frage ist leicht zu beantworten, gehen doch die Journalisten – wohl zu Recht – davon aus, dass eine solche Art der Berichterstattung den Interessen und Bedürfnissen der Rezipienten am ehesten entspricht und damit die Aufmerksamkeit, also auch die »Quote«, gesichert ist. In diesem Sinne sind wir wohl alle Voyeure und befördern damit den Medienhype um »Schule und Gewalt«. Die Folgen sind schwerwiegend: Die Täter werden (ob gewollt oder nicht) heroisiert und die Opfer z. T. entwürdigt und bloßgestellt. Durch die unreflektierte und dauerhafte mediale Präsenz werden Nachahmungs- und Nachfolgetaten wahrscheinlicher.2 Die mediale Skandalisierung von schweren Gewalttaten wird damit selbst zu einem Risikofaktor und fördert die Perpetuierung solcher Taten.
Die öffentliche Debatte um schwere Gewalt- oder auch Mobbingfälle, wie z. B. einen Amoklauf, kann als typisch für den Umgang mit dem Thema »Schule und Gewalt« oder »Jugend und Gewalt« angesehen werden. Deshalb soll im Folgenden der Diskurszyklus »Jugend und Gewalt« in der Öffentlichkeit etwas näher beleuchtet werden: Am Anfang steht zunächst eine erste Thematisierung ( Abb. 1), z. B. Berichte über Gewaltvorfälle. Das Medieninteresse steigt an, es häufen sich solche Berichte. Die Art und Weise der Berichterstattung suggeriert, dass es sich um völlig neuartige Phänomene handelt. Das Deutungsmuster »wachsende Jugendgewalt« wird zur herrschenden Meinung und erhält den Status der öffentlichen Anerkennung.3 Ein Problemmuster soll Eindeutigkeit herstellen und sowohl die Verursacher als auch Lösungswege benennen. Das Problemmuster »Jugendgewalt« weist eindeutig auf etwas moralisch, politisch und rechtlich Verwerfliches hin, das zu bekämpfen ist. Gerade weil sich der Gewaltbegriff in den letzten Jahren ausgeweitet hat, eignet er sich gut als Kampfbegriff; denn wenn etwas mit »Gewalt« bezeichnet wird, gerät der »Gewaltausübende« schnell unter Rechtfertigungszwang. Ein wichtiges Feld zur Durchsetzung und Absicherung von Problemdeutungen sind dabei Diskursstrategien, wie z. B. Dramatisieren, Moralisieren und die Reproduktion von Mythen. Durch Dramatisieren werden Emotionen erzeugt und zugleich die Problemwahrnehmungen normiert; durch die Reproduktion von Mythen werden diese abgesichert. Meist konkurrieren hegemoniale und alternative Deutungen bzw. Gegendiskurse miteinander.
Abb. 1: Diskurszyklus »Jugend und Gewalt« in der Öffentlichkeit
Durch die öffentliche Thematisierung von »Jugendgewalt« geraten die Politiker schnell unter Handlungszwang. Um Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, werden u. a. Maßnahmeprogramme beschlossen, Expertenkommissionen einberufen und Studien in Auftrag gegeben. Damit wird signalisiert, dass der Staat das Problem erkannt hat und etwas dagegen unternimmt. Welche staatlichen Ressourcen (z. B. Geld, Information oder Recht) eingesetzt werden, ist vor allem vom politischen Kalkül abhängig. Legt man das nutzentheoretische Wahlmodell der Stimmenmaximierung zugrunde, ist offensichtlich, dass Jugendliche als potenzielle Adressaten von Politik angesichts ihres niedrigen und abnehmenden Anteils an der (Wahl-)Bevölkerung keine guten Karten haben. Häufig erfolgen deshalb seitens der Politik eher symbolische Handlungen (z. B. Debatte Strafrecht oder Waffenrecht). Dabei geht es primär um symbolische Wirkungen, d. h. es soll der Anschein von Entschlossenheit erweckt werden bei gleichzeitigem Verzicht auf eine effektive Problembekämpfung. Irgendwann ist das Problem »Jugendgewalt« – vorerst zumindest – genug strapaziert worden, das Interesse der Öffentlichkeit erlahmt. Die zusätzlichen Mittel für die Bildungs- und Erziehungsarbeit sind wieder bedroht. Ob die Gewalt infolge der Gewaltdebatte weniger geworden ist oder ob seitdem mehr gegen Gewalt getan wird – darüber gibt der Diskurszyklus keine Auskunft. Das Abklingen der Diskussion kann nicht mit einem Abflauen der Gewalt gleichgesetzt werden.
Es wird deutlich, welche große Rolle die Medien bei der öffentlichen Thematisierung des Problemmusters »Jugend und Gewalt« spielen. Medien nehmen auf Grund ihrer Transfer- und Selektionsfunktion eine Problemfokussierung vor, denn öffentliche Aufmerksamkeit ist ein äußerst knappes Gut, um das konkurriert wird (vgl. Schetsche 1996). Nach der Eigenlogik der Medien ist es für sie gewinnbringender, über Themen mit einem hohen Publizitätswert, z. B. »Jugendgewalt«, zu berichten als beispielsweise über Erfolge in der Gewaltprävention. Aufgrund der einseitigen Berichterstattung haben die Rezipienten praktisch keine Chance, sich ein realistisches Bild über »Jugendgewalt« zu machen. Über die Mechanismen der Medien bei der Berichterstattung aufzuklären und eine kritische Diskursanalyse zu betreiben, bleibt deshalb Aufgabe einer kritischen Sozialforschung und eines kritischen Journalismus.
2 Prävention von Gewalt – eine Aufgabe von Schule?
Gewalt und Mobbing bekämpfen? Wozu ist die Schule eigentlich da? Diese Fragen mögen manchem vielleicht in den Sinn kommen, wenn der Schule immer neue Aufgaben aufgebürdet werden. Und vielleicht haben manche auch gleich die »passenden« Gegenargumente parat:
• »Gegen Gewalt und Mobbing ist die Schule machtlos!«
• »Schule kann das Elternhaus nicht ersetzen!«
• »Wir sind doch keine Sozialarbeiter oder Therapeuten!«
• »Das geht sowieso nicht!«
Mit solchen oder ähnlichen Argumenten wird jedoch jede Möglichkeit der Veränderung schnell blockiert. Gegen solche pauschalen Meinungen hilft nur eines: den Realitätsgehalt dieser (Vor-)Urteile...




