Die Bedeutung von Routinen für alte und kranke Menschen sowie Pflegende verstehen
E-Book, Deutsch, 230 Seiten
ISBN: 978-3-7799-8227-2
Verlag: Julius Beltz GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Berta M. Schrems hat eine Gesundheits- und Krankenpflegeausbildung (RN), ein Studium der Soziologie (Mag. Dr. rer. soc. oec) und der Philosophie (M.A.) absolviert, wurde in der Pflegewissenschaft (Priv. Doz. der Universität Wien) habilitiert und in Personal- und Organisationsentwicklung sowie Qualitäts- und Projektmanagement weitergebildet. Sie ist freiberuflich tätig in Lehre, Beratung und Forschung mit den Schwerpunkten Wissenschaftstheorie, Forschungsethik, Vulnerabilität, Pflegediagnostik und Fallarbeit. www.berta-schrems.at
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1.Alltag
„Einerseits gibt es nichts Einfacheres und Offensichtlicheres als das tägliche Leben. Wie leben die Menschen? Die Frage mag schwer zu beantworten sein, aber das macht sie nicht weniger klar. In einem anderen Sinn könnte nichts oberflächlicher sein: Es ist Banalität, Trivialität, Wiederholung. Andererseits könnte nichts tiefgründiger sein. Es ist das Dasein und das ‚Gelebte‘, wie es sich vor dem spekulativen Denken, das es umschreibt, offenbart: das, was geändert werden muss und was am schwersten zu ändern ist.1“ (Lefebvre, 1947–1962/2014, S. 341) Der Alltag als wissenschaftliches Konzept findet sich vorrangig in der Soziologie, mitunter dem Begriff Lebenswelt zu- oder untergeordnet. Eine zweite Annährung erfolgt über Alltagstheorien, oft werden sie auch subjektive oder Laientheorien genannt. Im wissenschaftlichen Kontext ist die Erfassung von Alltagstheorien ausschlaggebend für die Verständigung und das Verstehen in sozialen Interaktionen. Ein dritter Ansatzpunkt in der theoretischen Beschäftigung mit dem Alltag sind Phänomene, die an den Alltag gebunden sind, wie Alltagethik, wenn das Alltägliche ethische Prinzipien herausfordert, Alltagsbewältigung, wenn es um Handlungsfähigkeit und -kompetenzen geht, Alltagssprache und -kommunikation als Mittel der Verständigung, oder Alltagsperspektiven, die aufeinandertreffen, um nur wenige Beispiele zu nennen. In allen drei Bereichen ist eine eindeutige Bezeichnung des Phänomens Alltag Voraussetzung für die Beschäftigung damit. 1.1Definitionen und zentrale Merkmale des Alltags
Eine erste Erwähnung des Begriffs Alltag findet sich im Wörterbuch der Deutschen Sprache von Joachim Heinrich Campe aus dem Jahr 1807 (Schmidt, 2018). Dazu heißt es: „Der Alltag, des -es, Mz. die -e, ein gemeiner Tag, ein Wochentag; im Gegensatz zu Sonn- und Feiertage. Es war an einem Alltage. Ein Kleid für die Alltage. Es werden mit diesem Worte mehrere Zusammensetzungen gebildet, in welchen entweder der Begriff des Alltägigen, d. h. dessen, was alle Tage geschieht, vorkömmt etc., oder des Alltäglichen, des Gemeinen hervorsticht.“ (Campe 1807, S. 105 zit. nach Schmidt 2018, S. 13) In dieser Definition wird der Alltag mit dem Wochentag gleichgesetzt, aber auch als etwas Gleichförmiges oder Allgemeines, das alle Tage geschieht, beschrieben. Auch wenn wir im heutigen Sprachgebrauch den Wochentag vom Sonn- und Feiertag trennen, umfasst Alltag eine erweiterte Bedeutung, indem auch ein Sonn- oder Feiertag Alltag sein kann. Eine zeitgemäße Definition von Alltag im Duden umfasst daher die Gleichförmigkeit sehr allgemein und lautet: „Tägliches Einerlei, gleichförmiger Ablauf im [Arbeits-]leben (Duden, 2023a, o. S.). Dabei ist das Einerlei hier nicht als Gleichgültigkeit zu verstehen, sondern als Gleichartigkeit. Im Unterschied zur historischen Definition wird der Alltag nicht vom Sonn- oder Feiertag abgegrenzt, sondern in Klammer durch eine Spezifizierung auf das Arbeitsleben erweitert. Das übereinstimmende Merkmal der Gleichförmigkeit ist wesentlich für den Alltag, weil darin die Möglichkeit der Veränderung verankert ist. Nach Alfred Schütz ist der Alltag das einzige Subuniversum, in das „[…] wir uns mit unseren Handlungen einschalten können […].“ (Schütz, 1971–1972, II, S. 119) Dies gilt für die Erhaltung der Gleichförmigkeit ebenso wie für deren Veränderung. Da wir den Alltag für uns selbst schaffen, können wir ihn auch verändern. Der Alltag ist demnach „[…] unmittelbarer Anpassungs-, Handlungs-, Planungs- und Erlebnisraum: unser Milieu, das wir mitkonstituieren und dessen Teil wir sind.“ (Soeffner, 2004, S. 12) Und so wird er zum Mittelpunkt der menschlichen Existenz, die Essenz dessen, was wir sind und wo wir in der Welt stehen. Die Definitionen zum Alltag aus verschiedenen Disziplinen sind in den zentralen Charakteristika weitgehend übereinstimmend. Dabei kommen die Begriffe Gleichförmigkeit, Wiederholung, Routine, Rituale, Automatismus, Selbstverständlichkeit und Vertrautheit am häufigsten vor. Ebenso finden sich in den Definitionen Abgrenzungen, was der Alltag nicht ist (siehe Abb. 1). Abb. 1:Alltag – Zentrale Merkmale, Konsequenzen und Abgrenzungen Eigene Darstellung Wiederholung und Routine als zentrale Merkmale des Alltags Was alltäglich ist, kehrt alle Tage wieder, es geschieht in gleichförmiger Wiederholung, Tag für Tag. Dazu zählt beispielsweise das Aufstehen, Essen, Arbeiten, Einkaufen, die Interaktion mit anderen Menschen, die Freizeitaktivitäten oder das Schlafen. Wiederholung ist demnach ein zentrales Merkmal des Alltags. Durch die Wiederholung von Handlungen und durch eine gewisse Übereinstimmung mit anderen Menschen und kollektiven Systemen wird die Welt des Alltags stabil gehalten, bis hin zur Erstarrung von Mustern und Ritualen. Damit wird nicht nur Sicherheit geschaffen, sondern werden auch Verhaltenserwartungen generiert. So erwarten wir, dass sich bestimmte Dinge in immer gleicher Weise verhalten, wie dass die häusliche Arbeitsteilung eingehgalten wird, der Kühlschrank voll und der Mülleimer leer ist, dass die Straßenbahn fährt oder der Aufzug zum Büro funktioniert. Wir fühlen uns gestört, wenn der Kühlschrank leer und der Mülleimer voll ist, wenn der öffentliche Verkehr oder der Lift streikt und das Taxi zur Arbeit oder die Treppe in den sechsten Stock genommen werden muss. Routinen und Rituale minimieren das Ungewöhnliche, Unerwartete und den Zweifel. Die alltäglichen Handlungsrituale sichern demnach einen störungsfreien Tagesablauf und sparen Zeit. Sehr allgemein werden Routinen von Ritualen unterschieden, indem Routinen eher mit automatischen Handlungen verbunden werden und Ritualen mehr Bewusstsein, Symbolik und manchmal ein tieferer Sinn zugeschrieben wird. Der Aspekt der Wiederholung findet sich exemplarisch für viele andere Werke in der Definition von Alltag bei Annegret Gaßmann: „‚Alltag‘ beschreibt eine Gesamtheit von Tun, das durch Wiederholung in seinen Abläufen zu einem Muster des Alltags geworden ist.“ (Gaßmann, 2020, S. 19) Der Begriff der Wiederholung ist eng verbunden mit dem der Routine. Routine bedeutet eine „[…] regelmäßig durchgeführte Handlung, übliche Vorgehensweise.“ (DWDS – Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, 1993c, o. S.) Da der Begriff viel verwendet, aber selten definiert wird, gingen Zisberg et al. (2007) in einer Konzeptanalyse der Frage nach, was mit Routine konkret gemeint ist. Der Begriff Routine wird sowohl in der Forschung wie auch in der Praxis mit unterschiedlichen Bedeutungen und Konnotationen – positive wie negative – verwendet. Die Darstellung von Routinen reicht von starren, schlecht angepassten Verhaltensmustern bis hin zu Routinen als Schlüssel zum normalen Funktionieren und zur Schaffung von Stabilität. Die Autor:innen finden zum Zeitpunkt ihrer Arbeit nur eine sehr begrenzte Anzahl von theoretischen Modellen, die zudem nur sporadisch und uneinheitlich Einblicke in das Wesen der Routine liefern. Basierend auf diesen Grundlagen entwickeln sie sinngemäß folgende Definition: Routinen sind offensichtliche und beobachtbare Konzepte, die sich auf (bewusst und unbewusst) strategisch entworfene Verhaltensmuster beziehen, die der zeitlichen Organisation und Koordination von Aktivitäten im sozialen und physischen Kontext sowie der Ordnung dienen. Es handelt sich dabei um eine Strategie der Anpassung insbesondere an Veränderungen und Stresssituationen. Die kennzeichnenden Merkmale von Routinen sind: ...