E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Schreiner Sind Sie eigentlich fit genug?
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7317-6172-3
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mehr über Literatur, das Leben und andere Täuschungen
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-7317-6172-3
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Margit Schreiner wurde 1953 in Linz geboren. Nach längeren Aufenthalten in Tokio, Paris, Berlin, Italien und dann wieder in Linz lebt sie derzeit in Gmu?nd, Niederösterreich. Sie erhielt fu?r ihre Bu?cher zahlreiche Stipendien und Preise, u. a. den Oberösterreichischen Landeskulturpreis und den Österreichischen Wu?rdigungspreis fu?r Literatur. 2015 wurde sie mit dem Johann-Beer-Literaturpreis und dem Heinrich-Gleißner-Preis ausgezeichnet, 2016 erhielt sie den Anton-Wildgans-Preis. Mit Kein Platz mehr war sie 2018 fu?r den Österreichischen Buchpreis nominiert. www.margitschreiner.com
Autoren/Hrsg.
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Die rohe Kunst
Turmalin
Meine Lieblingsgeschichte von Stifter ist Turmalin aus den Bunten Steinen. Sie handelt von einem alleinerziehenden Vater und seiner behinderten Tochter. Wenn der Vater die Tochter alleine lässt, um zu arbeiten, stellt er ihr die Aufgabe, zu beschreiben, wie er selbst tot im Sarg liegt und wie ihre Mutter alleine in der Welt herumirrt, wahnsinnig wird und Selbstmord begeht. Wenn die Tochter antwortet: »Aber Vater, das habe ich doch schon oft beschrieben«, sagt er: »Dann beschreibe es noch einmal.«
Die Tochter bin ich. Immer ist jemand verschwunden. Mein Wellensittich, meine Halbschwester Eva, mein Freund Hansi, meine Hündin Dora. Noch später verschwanden meine Mutter und auch mein Vater. Sie hinterließen beide jeweils einen harten, kalten Körper, der in beiden Fällen kleiner war, als ihr lebender Körper gewesen war. Aber das kann man in meinen Büchern nachlesen. Dort habe ich beschrieben, wie zuerst der Vater und ein paar Jahre später die Mutter in ihrem Sarg liegen und tot sind. In letzter Zeit habe ich bereits damit angefangen, darüber zu schreiben, wie ich selbst im Sarg liegen und tot sein werde.
Ich bin behindert. Sonst wäre ich nie auf die Idee gekommen, Schriftstellerin zu werden.
Es ist immer die Behinderung, die zur Kunst führt. Wer alles versteht, braucht keine Kunst. Nur wer nichts versteht vom Leben und vom Sterben, versucht, sich einen Reim darauf zu machen. In Turmalin werden nach dem Tod des Vaters die Schreibhefte der behinderten Tochter gefunden. Der auktoriale Erzähler berichtet davon: »Ich würde sie Dichtungen nennen, wenn Gedanken in ihnen wären, oder wenn man Grund, Ursprung und Verlauf des Ausgesprochenen enträtseln könnte. Von einem Verständnis, was Tod, was Umherirren in der Welt und sich aus Verzweiflung das Leben nehmen heißt, ist aber keine Spur vorhanden, obwohl dies alles der trübselige Inhalt der Ausarbeitungen ist … Der Ausdruck ist klar und bündig, der Satzbau richtig und gut, und die Worte, obwohl sinnlos, sind erhaben.« Eine bessere Definition von Literatur habe ich nirgends gelesen. Denn was wäre Grund, Ursprung und Verlauf jedweder Dichtung? Und wer, gerade noch einmal dem Tod und der Verzweiflung entkommen, weiß schon hinterher, was Tod und Verzweiflung heißt? Bleibt Literatur nicht immer ein Rätsel? Und sind es nicht die Gedanken, die aus dem Text hervorgehen, die der Leser sich machen sollte, und nicht die ausgesprochenen Gedanken des Dichters, die Literatur ausmachen?
Nehmen wir Stifters Werk selbst. Welchen Sinn hätten beispielsweise die seitenlangen Beschreibungen zeremonieller Dialoge der Versammlungen irgendwelcher Adeliger oder mittelalterlicher Höflichkeitsformen, die in detailgetreuer Umständlichkeit wiedergegeben werden (Witiko), oder die endlosen Aufzählungen aller möglichen und unmöglichen Dinge in Haus und Hof, die sich wie Inventurlisten anhören (Der Nachsommer), oder auch nur die Erwähnung der Bilder berühmter Männer, die der Vater in Turmalin, bevor das Unglück mit der Mutter passierte, täglich aufs Neue betrachtet? Bei Stifter hört sich das so an: »In dem Zimmer waren alle Wände ganz vollständig mit Blättern von Bildnissen berühmter Männer beklebt. … Damit er, oder gelegentlich auch ein Freund, wenn einer kam, diejenigen Männer, die ganz nahe oder hart am Fußboden sich befanden, betrachten konnte, hatte er ledergepolsterte Ruhebetten von verschiedener Höhe und mit Rollfüßen versehen machen lassen. Das niederste war eine Hand hoch. Man konnte sie zu was immer für Männern rollen, sich darauf niederlegen und die Männer betrachten. Für die hoch und höher hängenden hatte er doppelgestellige Rollleitern, deren Räder mit grünem Tuche überzogen waren, welche Leitern man in jede Gegend rollen und von deren Stufen aus man verschiedene Standpunkte gewinnen konnte. Überhaupt hatten alle Dinge in der Stube Rollen, dass man sie leicht von einer Stelle zu der andern bewegen konnte, um im Anschauen der Bildnisse nicht beirrt zu sein. In Hinsicht des Ruhmes der Männer war es dem Besitzer einerlei, welcher Lebensbeschäftigung sie angehört hatten und durch welche ihnen der Ruhm zuteil geworden war, er hatte sie womöglich alle.« Geradezu grotesk sinnlos, diese Beschreibung. Und am allergroteskesten die Feststellung, dass es dem Protagonisten ganz egal ist, wofür die berühmten Männer, deren Bilder er betrachtet, berühmt geworden sind, also, was sie überhaupt gemacht haben. Alles sinnlos!
Welchen Sinn hat die Dichtung des schizophrenen Dichters Ernst Herbeck, der sein ganzes erwachsenes Leben in der Psychiatrie zubrachte:
Das Leben der Hühner ist rot.
Das Beben der nächstenliebe ist rot.
Das leben ist schön.
Beben der Herzen im Leibe der Hunde.
Alles beginnt und alles endet mit dem Nicht-Verstehen der Welt. Und damit, dass das Leben nun einmal, da kann man suchen, wie man will, keinen Sinn hat. Das ist ganz normal. Und dass jeder auf seine Weise versucht, in dieses sinnlose Chaos Ordnung zu bringen.
Kunst ist eine Sache der Orientierung
Alles selbst Erlebte und selbst Erkannte (und nicht nur Angelesene) spielt am Rande des Wahnsinns, an der Kante des »gerade noch«. Wer sich vor dem Wahnsinn fürchtet, wird kein guter Schriftsteller sein, wer sich nicht davor fürchtet, auch nicht.
Ein Gedicht Robert Walsers lautet:
Ich möchte,
die Häuser regten sich,
sie kämen auf mich los,
das wäre schauerlich
Ich möchte,
mein Herz verdrehte sich,
und mein Verstand stünd’ still,
das wäre schauerlich
Das Schauerlichste möchte
ich pressen an mein Herz.
Ich sehne mich nach Angst,
nach Schmerz.
Und genau gegen diesen Schmerz und die Angst muss sich gleichzeitig wehren, wer weiterleben will. Alle großen Schriftsteller haben diesen Schmerz herbeigesehnt und beschrieben und gleichzeitig bekämpft, verdammt und gehasst. Viele sind dabei auf der Strecke geblieben. Hemingway, Sylvia Plath, Virginia Woolf, Wladimir Majakowski, Yukio Mishima, Cesare Pavese, um nur einige aus verschiedensten Kulturen zu nennen.
»… in einem gewissen Sinn ist schließlich alle Kunst eine Sache der Orientierung«, sagt Nabokov in Erinnerung, sprich.
Es gibt offenbar Menschen, die von Anfang an so einen guten Orientierungssinn haben, dass sie sich kaum je verirren. Weder in der Welt draußen, noch in sich selbst drinnen. Die können getrost die Finger von der Kunst lassen. Die anderen, die Orientierungsbehinderten, brauchen die Kunst, aktiv oder passiv. Kunst fördert die Orientierung und behindert gleichzeitig den glatten Ablauf der Dinge, das reibungslose Getriebe, den Markt. Kunst ist ein Kind, das peinliche Fragen stellt: Mutti, wieso hat der Onkel eine so dicke Nase? Wieso heißt Tag eigentlich Tag und nicht Nacht? Ein Kind verzögert, streut Sand ins Getriebe. Deshalb wird es gerne zur Putte geschminkt und als Kitschfigur verkauft: Handwerk als Kunst, Schlager als Musik, Krimi als Literatur. Kitsch, definiert als common sense, bestätigt die Gesellschaft, Kunst stellt sie infrage. Was sie vor allem infrage stellt, ist die in allen Bereichen unserer Gesellschaft unterschwellig vorgenommene Definition: Gesund ist, wer funktioniert, krank ist, wer nicht funktioniert. Weil: Was heißt schon funktionieren? In welchem Sinne funktionieren, wofür und für wen oder was? Für die Wirtschaft, für den Mehrwert, für den Staat? Und wer nicht funktioniert, was wäre dann mit dem oder derjenigen? Wäre diejenige oder derjenige dann überflüssig?
Bin ich ein überflüssiger Mensch?
Bin ich ein überflüssiger Mensch? heißt ein Roman von Mela Hartwig, einer (fast) vergessenen Schriftstellerin, der 1933 vom Zsolnay-Verlag abgelehnt wurde, mit der Begründung: »Sie wissen, sehr verehrte gnädige Frau, dass das Weltbild des deutschen Lesepublikums und besonders der deutschen Frau heute ein anderes ist, als die Lebensanschauung, die aus Ihrem Werk spricht.« Andere Titel von Mela Hartwig lauten Besessen oder Aufzeichnungen einer Hässlichen, Das Verbrechen und Das Weib ist ein Nichts und beschäftigen sich fast ausschließlich mit Behinderten, Ausgestoßenen, Außenseitern, und das hat dem Weltbild des deutschen Lesepublikums nicht entsprochen. War für den Nationalsozialismus »entartete Kunst«. Gesund dient Volk und Ideologie, Gesund hat rote Bäckchen und viele Kinder, Krank ist zweifelnd, bleich und hinkend, behindert halt.
Die Haupt-Behinderung für den Schriftsteller ist naturgemäß die Sprache. Er oder sie kann sich nicht ausdrücken, nicht verständlich machen, meist ist er oder sie sowieso Stammler oder Stotterer. Oder zeichnet sich früh durch mangelnde Beherrschung der Grammatik oder Rechtschreibung aus. Beistriche setzt er oder sie grundsätzlich falsch. Das Außen und Innen klaffen auseinander. Innen sind vielschichtige Wahrnehmungen, komplizierte Gedankengänge, wahnsinnige Erlebnisse. Nach außen dringt nichts oder fast nichts. In dem Moment, in dem es zur Zerreißprobe kommt und der Entschluss gefasst wird, vorsprachliches, gestammeltes vages Innen in sprachliche Materialität nach außen umzusetzen, ist der oder die SchriftstellerIn geboren. Das mit der Grammatik, der Rechtschreibung und der Kommasetzung findet sich dann meist sehr schnell.
Reibungslos ist die Sprache in guter Literatur nie. Überall sind Stolpersteine. Eine Art Stocken, Zögern, Stottern. Und ich spreche jetzt...