Schreiner | Die Tiere von Paris | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Schreiner Die Tiere von Paris


1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-89561-986-1
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-89561-986-1
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Tiere von Paris ist das ironische Selbstgespräch einer Alleinerziehenden, die sich und dem Leser das Dreiecksverhältnis zwischen ihr selbst, ihrem Kind und ihrem Exmann schonungslos vor Augen führt. Bereits während der Ehe hat sich von Anfang an eine Entwicklung abgezeichnet, die sie nicht wahrnehmen und wahrhaben wollte. Als sie ein Kind bekommt, überschlagen sich die Ereignisse.Die Erzählerin, die sich als Wissenschaftlerin und Sachbuchautorin mit Stadtgeografie, Landschaftsräumen und dem Verirren beschäftigt, bemüht sich nach der Trennung, ihren Alltag mit dem heranwachsenden Kind zu gestalten und ohne Selbstmitleid zu bewältigen. Doch die mit einem hoffnungsvollen Rückblick beginnende Geschichte gerät in einem unwiderstehlichen Sog zur Katastrophe einer Scheidungsfamilie. Zwischen den Eltern hin- und hergerissen, muss die Tochter ihren eigenen Weg finden.Der Roman spielt in Paris, Tokio, Wien und Italien und entfaltet ein weites Panorama unterschiedlicher Lebensentwürfe. Ein raffiniert schlichtes Buch über aktuelle Fragen zur Vereinbarkeit von Kind und Beruf und die Rollen von Männern und Frauen.

Margit Schreiner wurde 1953 in Linz geboren. Nach längeren Aufenthalten in Tokio, Paris, Berlin, Italien und dann wieder in Linz lebt sie derzeit in Gmu?nd, Niederösterreich. Sie erhielt fu?r ihre Bu?cher zahlreiche Stipendien und Preise, u. a. den Oberösterreichischen Landeskulturpreis und den Österreichischen Wu?rdigungspreis fu?r Literatur. 2015 wurde sie mit dem Johann-Beer-Literaturpreis und dem Heinrich-Gleißner-Preis ausgezeichnet, 2016 erhielt sie den Anton-Wildgans-Preis. Mit Kein Platz mehr war sie 2018 fu?r den Österreichischen Buchpreis nominiert. www.margitschreiner.com
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1. Paris

Tiere in der Großstadt

WENN DU DEN TYP erst los bist, wird alles besser, denkst du zuerst. Du kannst deine Zeit besser einteilen, du kannst kochen, wann und was du willst, und niemand redet dir in die Erziehung des Kindes rein. Nicht einmal im Traum würdest du auf die Idee kommen, dass dein Mann sich im Zuge der Trennung an seine achtjährige Tochter klammern und zu ihr »Hilf mir, deine Mutter zerstört unser Leben« sagen würde. Du dachtest, und das war der Irrtum, seine ganze negative Energie beträfe nur dich: Egoistin, Egomanin, Rabenmutter, Schlampe, Hure. In der Reihenfolge. Das war nie dein Vokabular. Auch seines nicht, anfangs. Wer kommt schon auf die Idee, dass der Mann, den man geliebt und geheiratet hat, auf einmal, wenn es um die Trennung geht, während das Kind sich im Badezimmer die Zähne putzt und alles mithören kann, »Deine Mutter fickt mit einem anderen!« schreien würde und »Ich will Namen und Adresse!«, nur weil er sich nicht vorstellen kann, dass du ihn, ohne dass es einen anderen Mann gibt, verlassen willst.

Wenn du den Typ erst einmal los bist, denkst du, redet dir keiner drein, wie du deinen Tag einteilst, wann du einkaufen gehst und wann nicht, wann du arbeitest, wann du deine gymnastischen Übungen machst. Der einzige Faktor, den du berücksichtigen musst, ist das Kind. Aber das war sowieso schon immer so. Der Mann, denkst du, hat dich all die Jahre nicht zerstören können, und es hat auch gute Zeiten gegeben, glückliche, die du nicht missen möchtest, und zum Kind wird er weiterhin gut sein, weil es schließlich sein Ein und Alles ist und er es abgöttisch liebt, während er dich in den letzten Jahren oft zur Sau gemacht hat.

Anfangs waren dein Mann und du selbstständige Freiberufler und Menschen: getrennte Kasse, getrennte Wohnungen, getrennte Städte, meistens Wien und Paris. Zuerst wohnst du bei deinem Mann – damals seid ihr noch nicht verheiratet – in seinem Zwanzig-Quadratmeter- Zimmer in Paris. Kein Problem, hat dein Mann in der ersten leidenschaftlichen Phase eurer Beziehung gesagt, wissenschaftlich arbeiten kann man auf kleinstem Raum. Du kündigst deinen Halbtagsjob an der Wiener Uni und ziehst zu ihm. Im Zimmer steht ein riesiger Schreibtisch, ein hundertzehn Zentimeter breites Bett, es gibt eine Nische mit Kochplatte und Waschbecken und einen Kamin. Der Esstisch lehnt aus Platzgründen tagsüber zusammengeklappt neben dem Kamin. Die Toilette ist am Gang. Warmwasser gibt es nicht.

Du schreibst auf einem Brett, das du von einer Baustelle mitgenommen hast, im Bett sitzend, während dein Mann an seinem Schreibtisch arbeitet. Auch das Holz für den Kamin, mit dem ihr heizt, sucht ihr nachts auf Baustellen. Die Arbeitssituation zweier Personen auf zwanzig Quadratmetern beginnt deinen Mann aber bald zu stören. Kleine Artikel über die Stadtgeographie könne man in so einer Situation immer schreiben, sagt er, nicht aber einen so komplexen Aufsatz über einen fiktiven Kreis deutsch-französischer Schriftsteller in einem literarischen Salon im Paris der Jahrhundertwende, wie er ihn gerade verfasse. Dazu sei größte Konzentration erforderlich, weil das Fiktive ja immer auch das Mögliche sein müsse. Kurz: Er will allein sein beim Arbeiten.

Zuerst arbeitest du daraufhin eine Weile in der Concierge-Loge im Parterre des Hauses, die dir die ehemalige Freundin deines Mannes, Maxime, zur Verfügung gestellt hat. Dann tritt Maxime die Nachfolge ihrer Mutter als Concierge an und braucht die Loge selbst, um nebenbei eine Schneiderwerkstatt aufzuziehen. Du versuchst eine Zeitlang in Cafés zu arbeiten, aber das gelingt dir nicht. Du kannst dich nicht konzentrieren, weil alles, was du siehst, immer wieder neue Themen anregt, so dass du dich nicht auf dein jeweiliges Thema konzentrieren kannst.

Schließlich überredet dein Mann einen wohlhabenden Freund, einen Unternehmer, ein von den Franzosen pied-à-terre (Fuß auf der Erde) genanntes kleines Appartement in Paris zu kaufen, das er dir dann zur Verfügung stellt. Die Abmachung sieht vor, dass du jederzeit ausziehst, wenn der Unternehmer und seine Freundin in Paris Urlaub machen wollen. In diesem winzigen Appartement, insgesamt nicht mehr als siebzehn Quadratmeter, aber aufgeteilt in einen zwölf Quadratmeter großen Salon, eine klitzekleine Küche, in der neben dem Herd und dem kleinen Kühlschrank nur ein winziges Tischchen Platz hat, neben dem du einen Klappsessel zum Essen und Schreiben aufstellst, und in ein winziges Badezimmer mit Toilette und einer so kleinen Sitzbadewanne, dass du, darin sitzend, die Beine steil an die Wand lehnen musst, wenn du den Oberkörper ins warme Wasser eintauchen willst. Manchmal hast du Angst, genau so stecken zu bleiben.

Von deinem Bett aus – einer aufgeklappten Ikea-Couch – siehst du aus dem Fenster direkt auf die neu gebaute Volksoper an der Bastille. Nachts wird sie mit Scheinwerfern bestrahlt. Sie sieht aus wie eine mittelalterliche Festung. Wenn du nicht schlafen kannst, starrst du stundenlang auf die Festung, die manchmal zu einer Oase mitten in der Wüste mutiert, dann wieder zu einem riesigen Schiff auf dem Meer. Lehnst du dich ein wenig aus dem bis zum Boden reichenden Fenster hinaus – einem so genannten französischen Fenster –, siehst du rechts den Montmartre. Links den Eiffelturm. Davor die Wüste der graubraunen oder lehmbraunen Häuser mit umgedrehten Blumentöpfen auf den Dächern. Das sind Schornsteine. Tausende, Hunderttausende. So ist die Stadt gemacht. Und aus Ideen, die dir von überall her zuwachsen, so dass du manchmal denkst, dir berste der Kopf vor unzähligen bereits fertigen Aufsätzen und Essays, die du nur noch aus dem Kopf abschreiben müsstest.

Das hast du später nie wieder erlebt: Alltagssoziologie des Pariser Cafés, Graffiti in den Migrantenwohnvierteln in Paris, Orientierungsmuster in Großstädten, Zeichensprache in U-Bahnen, Verkehrskommunikationszeichen im Vergleich Wien/Paris, Tierpopulationen in Großstädten am Beispiel von Paris und so weiter. Du sitzt in den Cafés mit den großen Fensterscheiben, durch die du Menschen verschiedenster Nationen beobachtest, die mit größter Selbstverständlichkeit ihre Geschichten preisgeben, in jeder Geste, in jedem Gesichtsausdruck.

In Salzburg, wo du aufgewachsen bist und wo deine Eltern leben, geht es im Unterschied dazu nur darum, in der Öffentlichkeit nichts Privates preiszugeben, den Status, die soziale Zugehörigkeit, die Bildung, den Rang zu präsentieren. In Wien, wo du immer noch eine Wohnung hast, lassen die Menschen sich gehen. Sie nörgeln, jammern und schimpfen über die Tauben, die Ausländer, die Jugend. Der Kampf um einen freien Parkplatz kann zur Schlägerei führen. In Paris hingegen geht es wirklich ums Überleben. Zum Überleben aber gehört Glück, das in Momenten aufblitzt, die es wahrzunehmen gilt. Und an diesem Glück nimmst du teil. Deine Nachmittage verbringst du mit der Beobachtung der Tierpopulation von Paris. (Projekt: »Die Tiere von Paris«)

Die Riesenschildkröte im Jardin des Plantes zum Beispiel ist hundertfünfzig Jahre alt. Der schwarze Wärter mit der prächtigen Fantasieuniform im kleinen Zoo des Jardin des Plantes erklärt dir, dass sie die zweite französische Revolution noch miterlebt hat. Und beide Weltkriege. Er hat großen Respekt vor der Riesenschildkröte. Im Winter gräbt sie sich in die Erde und im Frühling buddelt sie sich wieder aus. Sie wird uns alle überleben, sagt der schwarze Wärter und lacht, dass die Fantasieorden seiner Fantasieuniform nur so scheppern.

Die Maus von Bercy lebt in einem der neu eröffneten Einkaufszentren. Wenn du alle sechs Stockwerke mit dem gläsernen Lift inmitten des Rondells hinauffährst und dann von der Galerie auf das Erdgeschoss des Einkaufszentrums hinunterschaust, wo ein kleiner Teich angelegt ist, in den ein Wasserfall plätschert, siehst du sie geschäftig zwischen Farnen, fleischigen Pflanzen mit dunkelgrünen Blättern, Palmen und Kakteen hin und her laufen. Du weißt, dass sie hinter dem Schleier des Wasserfalls ihr Nest mit unzähligen Jungen versteckt.

Einmal wöchentlich besuchst du den Vogelmann vom Montmartre. Du setzt dich in ein Café. Sein Stammplatz ist auf einer Bank unter einem Baum gegenüber. Wenn er dich sieht, steht er nach einer Weile auf, streckt die Arme aus und pfeift, und die Spatzen kommen von überall her und setzen sich auf seine ausgestreckten Arme, auf die Hände, die Schultern, den Kopf, bis der Vogelmann ganz unter den flatternden Spatzen verschwunden ist. Nur das Gesicht und der Unterleib sind menschlich. Nach etwa einer halben Stunde und zwei Tassen Kaffee gehst du wieder und er bleibt so stehen, die Arme ausgestreckt, den Kopf gesenkt von dem Gewicht der Vögel. Bevor du nach der nächsten Ecke verschwindest, drehst du dich ein letztes Mal nach ihm um. Ihr sprecht nie miteinander.

Um Notre Dame kreisen die Turmfalken. Wenn sie auf den Türmen und Spitzen oder Zinnen der Kirche sitzen, sind sie nicht zu unterscheiden von den Fabelwesen der Dachränder, die Wasser speien, wenn es regnet, von den Basilisken, Dämonen, Echsen und Teufeln. Wenn sie fliegen, haben sie etwas Göttliches. Sie sind die starken, glänzend kräftigen Dornen in der Märtyrerkrone des Königs der Juden.

Die Mauersegler kommen im Sommer. Es ist nicht weit von Afrika. Sie nehmen die lehmbraunen Häuserfronten hin wie die Höhlen und Vorsprünge ihrer heimischen Klippen und Felsküsten. Nichts stoppt ihren schnellen, präzisen Flug. Sie schlafen aufrecht, an winzigen Hausvorsprüngen festgekrallt.

Einmal verirrt sich eine Fliege in dein Appartement. Eine Sensation! Sie sitzt auf...


Schreiner, Margit
Margit Schreiner wurde 1953 in Linz geboren. Nach längeren Aufenthalten in Tokio, Paris, Berlin, Italien und dann wieder in Linz lebt sie derzeit in Gmu¨nd, Niederösterreich. Sie erhielt fu¨r ihre Bu¨cher zahlreiche Stipendien und Preise, u. a. den Oberösterreichischen Landeskulturpreis und den Österreichischen Wu¨rdigungspreis fu¨r Literatur. 2015 wurde sie mit dem Johann-Beer-Literaturpreis und dem Heinrich-Gleißner-Preis ausgezeichnet, 2016 erhielt sie den Anton-Wildgans-Preis. Mit Kein Platz mehr war sie 2018 fu¨r den Österreichischen Buchpreis nominiert.
www.margitschreiner.com

"Margit Schreiner wurde 1953 in Linz geboren, wo sie nach Aufenthalten in Tokio, Paris, Berlin, Italien und dann wieder in Linz lebt sie heute mit ihrem Mann in Gmünd. Seit 1983 tätig als freie Schriftstellerin, erhielt sie für ihre Bücher zahlreiche Stipendien und Preise, u.a. den Oberösterreichischen Landeskulturpreis und den Österreichischen Würdigungspreis für Literatur. 2015 wurde sie mit dem Johann-Beer-Literaturpreis und dem Heinrich-Gleißner-Preis ausgezeichnet, zuletzt erhielt sie den Anton-Wildgans-Preis (2016). Mit "Kein Platz mehr" war sie 2018 für den Österreichischen Buchpreis nominiert."



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