E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-7317-6075-7
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Margit Schreiner wurde 1953 in Linz geboren. Nach längeren Aufenthalten in Tokio, Paris, Berlin, Italien und dann wieder in Linz lebt sie derzeit in Gmu?nd, Niederösterreich. Sie erhielt fu?r ihre Bu?cher zahlreiche Stipendien und Preise, u. a. den Oberösterreichischen Landeskulturpreis und den Österreichischen Wu?rdigungspreis fu?r Literatur. 2015 wurde sie mit dem Johann-Beer-Literaturpreis und dem Heinrich-Gleißner-Preis ausgezeichnet, 2016 erhielt sie den Anton-Wildgans-Preis. Mit Kein Platz mehr war sie 2018 fu?r den Österreichischen Buchpreis nominiert. www.margitschreiner.com
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Vor der Abreise Wahrscheinlich ist der Mensch von Natur aus ungeeignet für die Natur. Findet er nämlich ungestörte Natur vor, ist ihm das Leben in der ungestörten Natur zu mühsam, also zerstört er sie, um sie zu verbessern. Hat er sie verbessert, also zerstört, sehnt er sich nach unzerstörter Natur. Das Gleiche gilt für unsere Gefühle. Wir sind unfähig, damit umzugehen. Passiert nichts, ist uns langweilig, passiert etwas, sind wir gleich überfordert. Nehmen wir zum Beispiel die über Sechzigjährigen. Sie sind in der Regel froh, wenn die Kinder aus dem Haus sind, kein unangemeldeter Besuch erscheint und sie ihre Ruhe haben. Einerseits. Andererseits beklagen sie sich schnell über Langeweile. Sie wollen etwas erleben. Erleben sie etwas, ist es ihnen aber gleich zu anstrengend. Manche Sechzigjährige täuschen die unter Sechzigjährigen, indem sie mit einer Aktentasche unter dem Arm oder, wenn es sich um fortschrittliche und intelligente Sechzigjährige handelt, mit einem Rucksack auf dem Rücken durch die Stadt hetzen, was den Eindruck vermitteln soll, dass sie viel zu erledigen haben. Obwohl sie meistens nicht mehr arbeiten oder zumindest in Altersteilzeit gegangen sind, haben sie es ständig eilig und drängen sich grundsätzlich überall vor: beim Arzt, in der Straßenbahn, im Supermarkt. Sollen sie sich aber einmal an der Supermarktkasse beeilen, weil sich hinter ihnen bereits eine Schlange gebildet hat, ermahnen sie die hinter ihnen Wartenden zu mehr Gelassenheit im Alltag. Gelassenheit ist es aber gerade, was ihnen selbst am meisten fehlt. Sie jammern unentwegt über alles Mögliche: über Hüftgelenkschmerzen, Rückenschmerzen, Rheuma oder Gicht. Haben sie weder Kalkschultern, Arthritis, Arthrose, Arteriosklerose oder Osteoporose noch grauen oder grünen Star, so fürchten sie entweder ständig, dass sie kurz davor sind, daran zu erkranken, oder bereits längst unerkannt daran erkrankt sind. Den Arzt besuchen sie so oft wie möglich und begründen dies mit der Angst vor steigender Schlaganfall- und Herzinfarktgefahr aufgrund mannigfaltiger Verkalkungen und Verstopfungen. Wobei sie dem Arzt stets ankreiden, entweder eine falsche Diagnose zu erstellen oder ihren Zustand zu verharmlosen. Die Ärzte stöhnen, wenn die Sechzigjährigen ihre Wartezimmer verstopfen, weil sie an Blasenschwäche, Schwindel, Schwerhörigkeit leiden oder zu leiden glauben. Sind sie familiär vorbelastet, überhören sie geflissentlich die Warnung des Arztes, dass in nicht allzu weiter Ferne eventuell Alzheimer oder Parkinson droht. Sie ignorieren konsequent jedes Symptom. Sagt man ihnen, dass es schon nicht so schlimm werden wird, fühlen sie sich nicht ernst genommen, pflichtet man ihnen bei, fühlen sie sich bemitleidet. Man kann ihnen grundsätzlich nichts recht machen: Ein Besuch erfolgt nie zur rechten Zeit. Sie wollten gerade aufs Amt gehen, ein Mittagsschläfchen halten oder etwas Wichtiges erledigen. Besucht man sie nicht, beklagen sie sich über zunehmende Einsamkeit. Sie pochen immer darauf, respektiert zu werden, sie selbst respektieren aber niemanden. Und schon gar nicht Menschen mit Tattoos, Ringen in der Nase oder der Zunge und zerrissenen Jeans, Leute, die auf der Straße mit dem Handy telefonieren oder MP3-Stöpsel in den Ohren tragen sowie Punks mit großen Hunden. Sie wissen grundsätzlich immer alles besser, sind dabei aber ständig unzufrieden: Sie hassen den Lärm und fürchten die Stille. Bruno und ich waren zwar auch über sechzig, fühlten uns aber noch immer relativ jung, dynamisch, neugierig, aufgeschlossen. Die Jugend war für uns keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung, von der wir uns neue Impulse erhofften. Der Umgang mit Jüngeren hält uns selbst jünger und flexibler. Dennoch nahmen wir die Mitteilung unserer Kinder, dieses Jahr nicht auf die Insel mitzufahren, sondern eigene Ferienpläne zu verfolgen, insgeheim erleichtert auf. Keine Lärmbelästigungen durch laute Musik, keine Streitereien beim Kochen und vor allem Platz. Wir würden das kleinere der beiden Fischerhäuschen alleine beziehen. Ich würde allein im Geräteschuppen am Fenster mit Ausblick aufs Meer sitzen, täglich eine Stunde oder zwei Stunden in aller Stille konzentriert an meinem Roman schreiben und mich ansonsten erholen. Wir fahren seit mittlerweile sechs Jahren jeden September mit unseren Freunden und unseren Kindern auf eine einsame Insel in Kroatien. Es gibt keine Autos auf unserer Insel, keine bewohnten Häuser, keine Bars oder lauten Cafés, keine Geschäfte, geschweige denn einen Supermarkt. Es gibt auch keinen Strom, kein Radio und keinen Fernseher. Nicht einmal fließendes Wasser. Die spärliche Beleuchtung nachts wird von einem Windrad erzeugt. Es gibt nur zwei nebeneinanderstehende ehemalige Fischerhäuser – eins für die befreundete Familie, eins für uns –, viel Meer, viele Felsen, Steine, wenig Bewuchs. In beiden Häusern zieht man in der Küche mit einem Eimer, der an einer Leine befestigt ist, Wasser aus den tief gelegenen Zisternen. Um unsere Häuser herum haben die Besitzer vor vielen Jahren einen Limetten- und einen Zitronenbaum, mehrere Rosmarinsträucher, einen Feigenbaum und zwei Palmen gepflanzt. Im September wuchert wilder Rucola hinter dem Haus. Wildkräuter wie Thymian, Majoran, Salbei etc. wachsen immer überall. Viel mehr Sinnesreize gibt es nicht. Die vorhandenen reichen völlig aus. Es gibt ja den sich immer verändernden Himmel, das immer im Wandel befindliche Meer, den Wind und sein Spiel. Vögel, Fische, Mäuse, Spinnen, Geckos, Schmetterlinge, Gottesanbeterinnen. Der nervlich zerrüttete Sechzigjährige findet hier in der technikfernen Abgeschiedenheit seine Ruhe. Ruhe und Abgeschiedenheit haben natürlich ihren Preis. Wir müssen sowohl Nahrung als auch Trinkwasser, Alkohol, Zigaretten, Zündhölzer, Abfallsäcke, Abwaschschwämmchen, Klopapier und so weiter zuerst beschaffen und dann auf die Insel mitnehmen. Und das alles für einen Monat Aufenthaltsdauer. Das kostet Jahr für Jahr mehr Kraft. Das meiste karren wir aus Österreich an. Bestimmte Grundnahrungsmittel sind in Österreich billiger. Vor allem guter Wein. Anfangs hatten wir nur ein paar Flaschen mit, inzwischen sind es um die siebzig. Und drei Paletten Bierdosen, fünf Stangen Zigaretten. Auch die Sportausrüstung wird jedes Jahr mehr. Auf dem Dach unseres Autos befestigte Bruno nach einem ausgeklügelten System in stundenlanger Arbeit nicht nur einen Dachkoffer, vollgestopft mit Neoprenanzügen, Taucherbrillen, Schnorcheln, Badeschuhen, Paddeln, Schwimmflossen, sondern auch einen neuen, zusätzlichen Thule-Koffer, in dem ein Zweier-Faltboot, aufgeteilt in drei Säcken, verstaut ist. Außerdem wie in den Vorjahren ein Schlauchboot, ein Surfbrett mit zwei Segeln unterschiedlicher Segelfläche und passenden Masten, fünf Schwimmschlangen und, ein Neuerwerb von vor zwei Jahren, drei Solarpaneele, die Strom für den Laptop, das Handy für den Notfall und seit Neuestem auch für einen Mixer, einen Pürierstab und Föhn liefern sollen. Denn die Einfachheit des Lebens auf der technikfreien Insel ist die eine Sache, Bequemlichkeit, sportliche Betätigung und zeitgemäße Arbeitsbedingungen die andere. Bruno hat beim mühsamen Beladen des Autos sogar davon gesprochen, nächstes Jahr eventuell einen Anhänger anzuschaffen. Alles ist von langer Hand vorbereitet. Die Logistik der Einkäufe für einen vierwöchigen Aufenthalt auf einer unbewohnten Insel, von der wir auch mit dem lediglich mit vier PS ausgestatteten klapprigen Holzboot, das am Steg für uns bereitliegt, nicht das Festland erreichen können, ist kompliziert. Wer kocht wann welche Speisen, wer kauft welche Nahrungsmittel ein, welches Gemüse, welches Obst ist haltbar? Ist genug Mehl und Hefe zum Brotbacken da? Welche Gewürze sind nötig? Wie viel Kaffee, wie viel Salz, wie viel Milch, wie viel Öl und Essig verbrauchen acht Personen in einem Monat? Es darf auch nichts Gefährliches passieren. Kein Hornissenstich, kein Beinbruch, kein Schlaganfall, kein Herzinfarkt. Die Insel ist felsig und steinig. Niemand darf auf den Hinterkopf fallen oder auf das Gesicht. Im Meer gibt es Seeigel, deren Stacheln bekanntlich umgehend gezogen werden müssen, wenn sie nicht wochenlang von selbst herauseitern sollen. Für fast alles, was sonst noch passieren kann, sind wir gerüstet: Tabletten gegen Kopfschmerzen und grippale Infekte, Salben gegen Hautaufschürfungen, Bindehautentzündungen, Rheumaanfälle, Breitbandantibiotika gegen Magen-Darm-Infektionen oder Lungenentzündungen. Alles schon da gewesen. Sind die anstrengenden Vorbereitungen, der Einkauf, das Bepacken des Autos, die nächtliche Anreise und die anschließende morgendliche Überfahrt mit einem schwer beladenen Fischerboot erst einmal geschafft und alle Vorräte in den beiden Häusern untergebracht, gibt es endlich keine Telefonanrufe, E-Mails, überraschende Besuche oder brandneue Tatorte im Fernsehen mehr. Paradiesische Bedingungen, sollte man meinen, um den Stress eines ganzen Jahres abzulegen, den ganzen Tag zu schwimmen, zu surfen oder zu paddeln und am Abend, zur weiteren Entspannung, gemeinsam zu kochen, zu essen, zu trinken und zu spielen. Und hin und wieder ganz entspannt ein paar Zeilen zu schreiben. Ehrlicherweise muss ich aber zugeben, dass es mit dem entspannten Schreiben bisher noch nie so richtig geklappt hat. Was unter anderem an dem vielen Essen, dem vielen Alkohol und dem vielen Rauchen liegt. Übermäßiges Essen, Trinken und Rauchen erschöpfen. Und Ablenkungen gibt es überall. Kaum hatte ich in den vergangenen Jahren begonnen, ein paar Zeilen zu schreiben, kamen plötzlich entweder Delfine vorbeigeschwommen, oder ein Segelboot kreuzte in unserer Bucht auf, eine merkwürdige, gelb-schwarz gestreifte Spinne saß unter der Dusche im Freien,...