E-Book, Deutsch, 144 Seiten
Schreiber Zuhause
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-446-25634-7
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen
E-Book, Deutsch, 144 Seiten
ISBN: 978-3-446-25634-7
Verlag: Hanser Berlin in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Daniel Schreiber, geboren 1977, ist Schriftsteller, Übersetzer und Kolumnist bei WELTKUNST und ZEIT am Wochenende. Mit seinen hochgelobten und vielgelesenen Büchern Nüchtern (2014) und Zuhause (2017) hat er eine neue Form des literarischen Essays geprägt. Sein Buch Allein (2021) stand monatelang auf der SPIEGEL-Bestseller und Sachbuch-Bestenliste und war auch international ein großer Erfolg. Er lebt in Berlin.
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WOHER DIE SEHNSUCHT?
Nirgends ist der Frühling schöner als in London. Es gibt viele milde, sonnige Tage, oft schon sehr früh im Jahr. Überall ergrünen die gepflegten Parkanlagen der Stadt, und alles beginnt, in freundlichen Farben zu blühen, erst die Kamelienbüsche in Rosa und Elfenbein, dann die verschiedenen Narzissensorten, schattierte Felder in Gelb, die Anemonen, Tulpen und Magnoliensträucher und schließlich die Zierkirschen in ihrem ganz eigenen, gebrochenen Magentaton. Zwischendrin erwecken Mandarinenten, Blässhühner und Höckerschwäne, wie aus dem Nichts gekommen, die Kanäle und Teiche zu neuem Leben. Diese Zeit zieht sich über einige Wochen, manchmal Monate hin. Das Grün nimmt die Stadt mit einer solch sanften Bestimmtheit in Besitz, dass man glaubt, es könnte für immer so bleiben.
Ich hatte schon die Jahre zuvor relativ viel Zeit in London verbracht, dieses Mal würde ich gleich für ein paar Monate bleiben. Als mein Flugzeug in Heathrow landete, fühlte ich mich erleichtert. Eine anstrengende Zeit mit zahllosen Lesungen und Interviews lag hinter mir, und ich freute mich darauf, endlich wieder durchatmen und in Ruhe schreiben zu können. Zwei Freunde hatten mir ihr kleines Haus im Osten der Stadt überlassen, um das ich mich kümmern würde, während sie in Amerika an einem gemeinsamen Projekt arbeiteten. Es war ein fast schon familiäres Arrangement, wir hatten es auch in den vorangegangenen Jahren oft so gehalten. Im Laufe der Zeit war mir das Haus ans Herz gewachsen, das Stadtviertel war mir vertraut geworden, und ich hatte einige Freundschaften geschlossen. Inzwischen hatte ich sogar gewisse Routinen entwickelt: Nach Vormittagen am Schreibtisch joggte ich mit lauter Musik in den Ohren die Themse entlang, von der Tower Bridge bis zur Hochhausinsel von Canary Wharf oder in Richtung des Victoria Park mit seinen Teichen, Platanen und historischen Pagoden. Fast täglich besuchte ich Ausstellungen in den Galerien, Museen und Kunstsammlungen der Stadt. Am Abend traf ich Freunde und Bekannte.
Ich dachte bereits eine ganze Weile darüber nach, dauerhaft nach London zu ziehen, hatte hin und wieder sogar schon nach einer Wohnung Ausschau gehalten und meine finanziellen Möglichkeiten überschlagen. Allerdings hatte ich am Ende jedes Mal wieder Abstand von der Idee genommen – der exorbitanten Lebenshaltungskosten der Stadt wegen, aber auch, weil mich irgendetwas in Berlin hielt.
Das Frühjahr in London zu verbringen sollte auch bedeuten, dass ich regelmäßig einen Freund sehen würde, mit dem ich ein Jahr zuvor für wenige Monate zusammen gewesen war. Wir hatten eine komplizierte Beziehung geführt, und der Trennung waren viele Wochen bewussten Abstands gefolgt. Schließlich hatten wir entschieden, einfach befreundet zu sein. Allerdings waren wir nicht besonders gut darin gewesen. Mittlerweile schrieben oder sprachen wir uns wieder jeden Tag, hatten Weihnachten miteinander verbracht und waren kurz darauf für ein paar Tage gemeinsam ins Engadin gefahren. In vieler Hinsicht fühlte es sich an, als wären wir zusammen, ohne wirklich wieder zusammen zu sein.
Doch je länger dieser Schwebezustand anhielt, je öfter wir uns in den ersten Tagen und Wochen jenes Frühjahrs sahen, desto schwieriger fühlte sich diese Freundschaft für mich an und desto stärker traten wieder jene Dinge in den Vordergrund, derentwegen unsere Trennung notwendig geworden war. Die Situation wurde bedrückend. Egal in welcher Konstellation, unser Bedürfnis nach Nähe schien immer wieder zu schmerzhaften Kollisionen zu führen. Irgendwann entschloss ich mich, ihn nicht mehr zu sehen, obwohl ich in seiner Stadt war.
Die Entscheidung, die einer erneuten Trennung glich, fiel mir schwer, sehr schwer. Ich hatte zwar nicht damit gerechnet, dass es mir danach blendend gehen würde, aber ich war auch nicht darauf vorbereitet, in welche Krise mich dieser Entschluss stürzen sollte. Er riss mir den Boden unter den Füßen weg. Nach unserem letzten Treffen hörte ich auf, regelmäßig zu essen und zu schlafen. Einige Tage später gab ich die fruchtlosen Versuche auf, an einem versprochenen Magazintext zu arbeiten. Ich war unfähig, auch nur eine Zeile zu schreiben. Obwohl ich wusste, dass es eine dumme Idee war, fing ich wieder mit dem Rauchen an. Das, was an Routine in meinem kleinen Londoner Alltag existiert hatte, verflüchtigte sich, als wäre es nie da gewesen. Alles, was ich tun konnte, war, ziellos durch die Stadt zu laufen, in Parks zu sitzen und mir mit einem unaufgeschlagenen Buch in der Hand die Wasservögel und das schöne Frühlingsgrün anzuschauen. An den Gesichtern einiger Freunde war abzulesen, dass sie anfingen, sich Sorgen um mich zu machen. Ich hatte mich schon lange nicht mehr so traurig gefühlt.
Jede Lebenskrise hat ihren eigenen Soundtrack, ihre ganz eigene Komposition aus Themen und Motiven. Jene Frühlingsmonate waren von einer intensiven Sehnsucht geprägt. Ich hatte gewusst, dass ich jenen Freund vermissen würde. Aber ich schien auch um etwas zu trauern, das ich nicht in Worte fassen konnte, um etwas, das sich wie das irrationale Versprechen auf eine Zukunft anfühlte. Noch viel mehr als jenen Freund schien ich das Gefühl einer gewissen Geborgenheit zu vermissen. Die Sehnsucht, die diese Krise bestimmte, war die Sehnsucht nach einem Aufgehobensein, nach einem Zuhause.
Diese Sehnsucht wurde im Verlauf der nächsten Wochen und Monate immer stärker. Das Bedürfnis nach einem Ort der Sicherheit empfand ich in dieser Zeit als nahezu überwältigend. Es war ein essentieller Wunsch, der sich damals seinen Weg bahnte, ein Wunsch, dem ich lange wenig Raum zugestanden hatte und der viel mit der inneren Ruhelosigkeit zu tun hatte, von der mein Leben in den vorangegangenen Jahren bestimmt gewesen war. Ein Wunsch, der sich in der Frage kristallisierte, wie und wo ich eigentlich leben wollte. Diese Frage hätte mich nicht völlig unvorbereitet treffen müssen. Fast alle meiner Freunde in Berlin hatten im Laufe der Jahre Familien gegründet. Wenn sie Partner hatten, bekamen sie Kinder, wenn sie noch keine Partner gehabt hatten, fanden sie plötzlich einen. Fast jeder, den ich kannte, hatte sich inzwischen eine Wohnung gekauft oder dachte darüber nach, es zu tun. Alldem hatte ich bis jetzt nie besonders große Bedeutung für mich und mein Leben beigemessen.
Die Tage wurden länger und wärmer, London erwachte immer mehr zum Leben. Die letzten Tulpen waren am Verblühen, und die Schwäne und Enten hatten kleine flauschige Küken bekommen. An einigen Tagen konnte man schon den Sommer in der Luft spüren, der bald über die Stadt kommen würde. Mir ging es immer noch nicht besser. Ich wollte nicht nach Berlin zurück, sosehr ich auch einige Freunde dort vermisste. Ich wollte nicht nach New York, wo ich zusammen mit meinem damaligen Partner den größten Teil meiner Zwanziger verbracht hatte. Und ebenso wenig wollte ich an der Mecklenburgischen Seenplatte sein, wo ich aufgewachsen war und wo meine Eltern leben. Ich sehnte mich nach einem Zuhause, jedoch ohne eine Ahnung davon zu haben, wo und was dieses Zuhause sein könnte.
Warum ist es überhaupt wichtig, ein Zuhause zu haben? Und was heißt es eigentlich, zu Hause zu sein? Das Gefühl des Zuhauseseins ist eine paradoxe Emotion. Es gehört so grundsätzlich zu unserem Leben, dass wir kaum je darüber nachdenken – es sei denn, wir sind dazu gezwungen. Es ist an einen festen Ort gebunden, manchmal auch an mehrere, aber zugleich ist es weit mehr als nur ein Ort. Das, was ein »Zuhause« ausmacht, evoziert so viele Bilder, Erinnerungen und Erwartungen wie wenig anderes, dennoch lässt es sich schwer benennen.
Schon in den frühesten indogermanischen Sprachen existierten Wörter, die einen Bedeutungskomplex von Zuhause, Siedlung, materieller und spiritueller Sicherheit umfassten. Der indisch-amerikanische Ethnologe Arjun Appadurai hat den Wunsch nach einem Zuhause als »ein menschliches Grundbedürfnis nach Verortung« beschrieben. Dieses Grundbedürfnis geht für ihn weit über den Umstand hinaus, dass Menschen sich an einem bestimmten Ort niederlassen; vielmehr umfasst es für ihn auch die wesentlichen Aspekte von Zugehörigkeit, Sicherheit und Gemeinschaft. Fast jeder von uns entwickelt irgendwann eine Sehnsucht nach Geborgenheit, nach einem Zuhause. Aus psychoanalytischer Sicht erfahren wir dieses Geborgenheitsgefühl zum ersten Mal als Kleinkind in den sicheren Armen der Eltern und verbringen dann oft unser ganzes Leben mit der Suche nach Möglichkeiten, diese Erfahrung von neuem machen zu können. In den Worten der französischen Philosophin Simone Weil ist die »Verwurzelung (…) wohl das wichtigste und am meisten verkannte Bedürfnis der menschlichen Seele«. Historisch und kulturell mag das, was wir als »Zuhause« verstehen, je nach Epoche, Land und Gesellschaftsform, unterschiedliche Formen angenommen haben, aber es ist eine unserer grundlegenden anthropologischen Konstanten. Der Wunsch nach einem Zuhause ist nicht nur tief in jedem Einzelnen von uns, sondern auch in unserem kollektiven Unbewussten verankert. Er bestimmt, wie wir unser soziales Leben organisieren, wie wir darüber denken, wer wir sind, und wie wir die Gesellschaft sehen, in der wir leben.
Vielleicht ist es diese tiefe psychische, historische und kulturelle Verankerung, die uns zu der Annahme führt, dass unser Zuhause auch heute etwas für uns sein sollte, das selbstverständlich ist. Bei genauerer Betrachtung ist jedoch das Gegenteil der Fall, denn die Beziehung zu dem, was wir als Zuhause bezeichnen, ist gegenwärtig für viele komplizierter, als sie es noch in der jüngeren Vergangenheit war, und alles deutet darauf hin, dass sich diese Entwicklung weiter verstärken wird. Immer weniger von uns leben heute noch...