E-Book, Deutsch, 212 Seiten
Schreiber Neues von Gestern
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7578-4481-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kurzgeschichtensammlung
E-Book, Deutsch, 212 Seiten
ISBN: 978-3-7578-4481-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Neues von Gestern ist eine Kurzgeschichtensammlung. Die Genres umfassen Science-Fiction, Fantasy und Zeitgenössisches. In einer Bandbreite von Themen werden aktuelle und zeitlose Fragen in spannenden, gruseligen, schrägen und humorvollem Geschichten neu gestellt, betrachtet und vielleicht sogar beantwortet. Das Tempo ist hoch und das Kopfkino wird bestens bedient.
Daniel Schreiber ist Autor und Friseurmeister. Durch viele verschiedene Begegnungen, die sein Beruf mit sich bringt, bekommt er neue Blickwinkel und Ideen für seine Geschichten. Im Ruhrgebiet aufgewachsen, lebt er seit 2015 in München und ist auf verschiedenen Lesebühnen unterwegs oder betreibt gelegentlich auch seine eigene. Mehr Infos und Content gibt es bei Youtube: "Textflix" und Instagram "Schreiber_und_Schneider"
Autoren/Hrsg.
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Ikigai
Stu folgte dem Unterricht interessiert, bis Regina ihre Hand hob, den Kopf zu ihm drehte und ihn mit leuchtenden Augen ansah. „Komm gleich mit“ hatte sie auf die Innenseite ihrer Hand geschrieben, Stu nickte und lächelte. Im nächsten Moment kreischte die Sirene und der Unterricht war beendet. Der 3-D-Projektor schaltete sich ab und ließ die Visualisierung des Lehrers verschwinden. Während alle anderen begannen, sich wieder in ihre Schutzanzüge zu zwängen, ging Stu sofort zu Regina. „Wo willst du denn hin?“, fragte er sie leise. „Das wirst du schon sehen.“ „Ist es etwas Gefährliches?“ „Sagen wir lieber, es ist etwas Spaßiges“, antwortete sie und grinste breit, dann öffnete sie ihre Tasche und zeigte ihm ein kleines Fläschchen mit einem transparenten Gel darin. Stu wusste nicht, was er da sah, und blickte sie nur fragend an. „Das wird super“, sagte sie voller Vorfreude. „Was wird super?“ „Es wäre super, wenn ihr euch endlich in eure Anzüge packt, damit wir nach Hause können“, meckerte ein alter Mann und ein paar andere hinter ihm nickten zustimmend mit grimmiger Miene. „Ja ja, der Sandsturm wird euch schon nicht weglaufen“, erwiderte Regina und begann gemächlich ihren Schutzanzug anzuziehen. Stu zog sich seinen ebenfalls über. „Ihr jungen Hüpfer habt gut reden. Werdet ihr erst einmal alt, dann sieht die Welt schon ganz anders aus“, mahnte der alte Mann. „Ich kann es kaum erwarten“, erwiderte Regina trocken, zwinkerte Stu zu und klappte ihr Helmvisier runter. Der Anzug machte aus ihr nur noch eine klobige und hässliche Gestalt, aber für Stu war sie selbst so immer noch wunderschön. Sobald sie ihren Anzug versiegelt hatten, leuchtete ein grünes Licht über der Tür, das Schloss entriegelte sich automatisch und der alte Mann drückte die Tür auf. Draußen heulte der Sturm und wehte Sand in alle Richtungen. Träge gingen die Alten voran und alle anderen folgten. Wortlos ging Stu hinter Regina her, als sie begann, vom üblichen Weg abzuweichen. Er bekam zwar ein mulmiges Gefühl, aber sagte nichts. Sie verließen die Koloniesiedlung, ohne dass sie von den anderen Schülern bemerkt wurden, und wanderten durch den Sandsturm. Der Sturm wurde immer stärker, sodass Stu ein wenig Angst bekam, doch kurze Zeit später zeichnete sich eine Kontur hinter dem wirbelnden Sand ab und er erkannte, dass sie auf einen Berg zuliefen. Als sie näherkamen, konnte man erkennen, dass sich dort eine Höhle befand. Stu fragte sich, ob Regina wohl ernsthaft da hineinwollte. Als sie sich umdrehte und darauf zeigte, seine Hand nahm und ihn weiterzog, war seine Frage beantwortet. Sie stapften in die Höhle und der Druck des Windes verschwand langsam. Regina nahm ihren Helm ab und Stu begann wild mit den Händen zu fuchteln, um sie daran hindern, aber sie reagierte nicht. Erschrocken sah er sie an, sie lächelte. „Los, nimm ihn ab! Ist kein Problem!“, rief sie ihm zu. „Mein Vater hat mir das früher gezeigt. Es ist toll, ungefilterte Luft zu atmen“, erklärte sie und atmete tief ein. Zögerlich nahm Stu seinen Helm ebenfalls ab und atmete vorsichtig durch die Nase. Es roch muffig in der Höhle, doch es war definitiv ein Erlebnis. Schließlich war er noch nie ohne Helm draußen gewesen. Solche Sachen erlebte er erst seit einem halben Jahr, seit Regina in seiner Kolonie lebte. Sie war als Waise in eine Pflegefamilie gekommen und er war seit dem ersten Tag fasziniert von ihr. Vielleicht lag es daran, dass sie schon 17 war, also zwei Jahre älter als er, oder weil sie klar sagte, was sie wollte und man mit ihr immer etwas Spannendes erlebte. Was ihm aber am besten gefiel, war, dass sie ihn ernst nahm und in ihm nicht nur einen kleinen Jungen sah. Er fühlte sich von ihr gleich behandelt und das tat gut, gerade wenn man gewohnt war, in einer Welt zu leben, in der nichts mehr im Gleichgewicht schien. Sie legte ihren Rucksack ab und hockte sich daneben, machte eine kleine Taschenlampe an, nahm erneut das Glas heraus und hob es in die Höhe wie einen Schatz. „Und was ist das jetzt?“, fragte Stu. „Das ist reines Ikigai“, sagte sie und sah ihn wieder mit leuchtenden Augen an. „Was willst du denn damit? Du willst das doch nicht benutzen, oder?“ „Na, du doch auch. Wir machen das zusammen“, sagte sie ganz selbstverständlich. Stu bekam Angst. Ikigai war ein weitverbreitetes und verbotenes Rauschmittel unter Koloniebewohnern. Kindern wurden Gruselgeschichten darüber erzählt, in denen die Substanz als Monster auftrat und diejenigen holte, die es zu sehr lockten. Wurde man vom Monster gefangen, musste man ewig damit umherwandern und man vergaß, wer man war. In der Schule hatten sie erklärt, dass es den Organismus veränderte, wenn man es zu hoch dosierte. Es rief Wahnvorstellungen hervor und machte den Geist krank. Was man angeblich dafür bekam, war eine Mutation. Wenn man etwas in Ikigai tunkte, übertrug es die Eigenschaften dessen, was vorher damit verbunden war. So konnte man damit in sich selbst alles wiederbeleben, was bereits verloren schien. „Aber das ist gefährlich! Du hast doch gehört, was sie uns in der Schule darüber gesagt haben“, protestierte Stu. Regina ging nicht auf ihn ein und nahm eine kleine Phiole von ihrer Halskette. Darin war ein fast kaum zu erkennender schwarzer Punkt. „Und was soll das sein?“ „Das ist ein Bienenstachel. Man muss ganz vorsichtig damit sein, weil er so winzig ist“, erklärte Regina und legte beides auf ihren Rucksack. „Gib mir dein Taschenmesser“, sagte sie. Es klang wie ein Befehl. „Ich brauche dieses Pinzettending, was da dran ist.“ Stu zögerte. Er überlegte, was er sagen konnte, aber er war zu perplex. Fordernd sah sie ihn an und streckte ihre Hand aus. Fast automatisch griff er nach dem Messer und gab es ihr, obwohl sich alles in ihm dagegen sträubte. „Weißt du denn überhaupt, wie man das benutzt? Was ist, wenn du zu viel nimmst?“ „Hast du schon mal von Bienen gehört, Stu?“, stellte sie eine Gegenfrage. Stu musste überlegen. Er kannte das Wort, aber wusste nur, dass es mal ein sehr kleines Lebewesen gewesen war. Also zuckte er mit den Schultern. „Bienen waren Insekten. Sie gab es früher fast überall und sie waren gerade so groß wie dein kleiner Zeh, aber als sie starben, wurde das eine Katastrophe für das Ökosystem. Der Tod dieser winzigen Insekten war der Anfang vom Ende. Sie waren ein unglaublich wichtiger Bestandteil vom großen Ganzen“, erklärte Regina, während sie ganz vorsichtig mit der Pinzette den Stachel aus der Phiole zog. „Du willst das mit dem Ikigai verwenden? Was soll das bringen? Wo hast du diesen Stachel überhaupt her?“ „Mein Vater hat ihn mir geschenkt, bevor er gestorben ist. Ich will wissen, wie sich das anfühlt, Stu. Ich will wissen, wie es ist, wenn man wichtig ist, wenn man einen Nutzen hat und gebraucht wird, aber natürlich ist es auch bestimmt einfach nur ein Riesenspaß“, antwortete sie selbstsicher und brauchte dann all ihre Konzentration, um den Stachel richtig zu greifen. Stu starrte sie an und dachte, dass er sie brauchte und sie für ihn wichtig war, aber er traute sich nicht, es auch auszusprechen. Vorsichtig hielt Regina die Pinzette mit dem Stachel und öffnete das Glas mit dem Ikigai. „Sollten wir uns nicht lieber vorher einen Rat einholen oder jemanden fragen, der sich damit auskennt?“, versuchte Stu es mit Vernunft, aber es war zu spät. Regina hatte den Stachel einfach in das Glas getunkt und presste ihn sich auf den Arm. „Komm schon! Gib dir deinen Arm, bevor es bei mir losgeht. Lass uns das zusammen erleben“, sagte Regina aufgeregt und lächelte. Stu war immer noch verwirrt und verunsichert, aber genauso automatisch, wie er ihr das Messer gegeben hatte, streckte er nun seinen Arm zu ihr aus. Sie tunkte erneut den Stachel ins Ikigai und drückte es auf seine Haut. Es dauerte, bis er etwas spürte, aber dann war es wie ein Nadelstich, dessen Spitze sich brennend in seinem Arm ausbreitete. Vorsichtig zog sie den Stachel heraus und verstaute ihn wieder sicher in der Phiole. „Setz dich zu mir, Stu. Das wird nur ein kleines Abenteuer“, sagte sie und nahm wieder seine Hand. Er spürte, wie sein Herz begann, schneller zu schlagen und die Hitze sich überall in seinem Körper ausbreitete. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Benommen drehte er seinen Kopf und sah, dass Reginas Augen bereits zugefallen waren, aber noch immer lächelte sie, dann wurde ihm ebenfalls schwarz vor Augen. Als Stu wieder zu sich kam, war ihm schwindelig. Nur grob konnte er etwas sehen. „Regina!“, rief er noch immer leicht benommen, aber bekam keine Antwort. Sie war weg. Er tastete den Boden ab, aber auch da fand er nichts außer ihrem Rucksack. „Regina, wo bist du?“, fragte er noch einmal lauter. „Hier drüben. Komm her, das musst du dir anschauen“, hörte er...