Schreiber | „Liebesverbrechen“, Zwangsarbeit und Massenmord | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Schreiber „Liebesverbrechen“, Zwangsarbeit und Massenmord

NS-Täter und Opfer in Tirol, Polen und der Sowjetunion
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7065-6288-1
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

NS-Täter und Opfer in Tirol, Polen und der Sowjetunion

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-7065-6288-1
Verlag: Studien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Horst Schreiber analysiert in vier Beiträgen über Opfer und Täter die terroristische Seite des Nationalsozialismus und ihre Aufarbeitung nach 1945.

Der Tiroler SS-Oberscharführer Josef Schwammberger leitete drei Lager in Polen. Er war sadistischer Exzesstäter, Massenmörder und Akteur des Holocaust. 1948 gelang ihm die Flucht aus dem Entnazifizierungslager „Oradour“ in Schwaz nach Argentinien. 1990 konnte er in Stuttgart vor Gericht gestellt werden.
Franz Hausberger, Bürgermeister von Mayrhofen 1968–1982, war Mitglied der 1. SS-Infanterie-Brigade, die in der Ukraine und Belarus tausende Jüdinnen und Juden erschoss. 1984 geriet eine touristische Werbefahrt von Hausberger und dem „Mayrhofner Trio“ nach Miami Beach zum Fiasko, als seine Zugehörigkeit zur 1. SS-Infanterie-Brigade aufflog.
1940 erhängte die Gestapo in Kirchbichl zwei polnische Arbeiter der TIWAG wegen verbotener Beziehungen. Die einheimischen Frauen deportierte sie in die KZ Ravensbrück und Auschwitz. Die Abläufe in Kirchbichl waren im Gau Tirol-Vorarlberg das Modell für weitere Exekutionen wegen „Liebesverbrechen“. Daher dokumentierte die Gestapo die Morde fotografisch.
Acht russische und ukrainische Zwangsarbeiter wurden 1944 im Arbeitserziehungslager Reichenau erhängt. Sie hatten nach ihrer Flucht Widerstand organisiert und waren im Arzler Wald bei Imst in eine tödliche Auseinandersetzung mit Einheimischen geraten.

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„… weil sie sich mehrmals
mit deutschen Frauen geschlechtlich eingelassen haben“
Die Exekution von Stefan Widla und Jan Kosnik in Kirchbichl
  Am 9. Juni 1940 ging der Blockleiter von Kirchbichl, Rudolf Lichtmanegger, mit seiner Frau Berta im Haidererwald (Haidach, Hoadara Weidl) spazieren. Gegen 20 Uhr sahen sie zwei Frauen: Annemarie Edenhauser und Hedwig Schwendter. Sie waren nicht allein, zwei Männer standen neben ihnen. Das Kennzeichen auf ihrer Kleidung identifizierte sie als Ausländer, „P“ stand für Polen.76 Kurze Zeit nach dieser Begegnung fand eine Versammlung der Ortsgruppe der NSDAP Kirchbichl statt. Ortsgruppenleiter Ing. Franz Tröstner verlas eine Anordnung, die den Umgang Einheimischer mit Fremden streng verbot und mit schweren Strafen ahndete. Polnischen Männern, die sich mit Tirolerinnen einließen, drohte die Todesstrafe. Blockleiter Lichtmanegger meldete sich zu Wort und berichtete von seinen Wahrnehmungen im Wald. Auch SS-Obersturmführer Johann Huber aus Kirchbichl gab bekannt, die beiden Frauen gesehen zu haben: im Moorstrandbad, wie sie sich mit Ausländern unterhalten hatten.77 Ortsgruppenleiter Tröstner notierte die Mitteilungen gewissenhaft, in seiner Vernehmung nach dem Krieg hielt er fest: „Wie es meine Pflicht war[,] habe ich wahrscheinlich kurz darauf dem Gendarmeriepostenkommandanten von diesem Vorkommnis Mitteilung gemacht. Ich war zu jener Zeit mit derartig vielen Angelegenheiten beschäftigt[,] dass ich mich mit bestem Willen an genauere Daten nicht erinnere[,] zumal 8 ereignisreiche Jahre hinter mir liegen.“78 Ortsgruppenleiter Tröstner war ein fanatischer Nationalsozialist, der „zu allen möglichen und nichtigen Gelegenheiten“ in die Kanzlei des Posten-Kommandanten Otto Mattausch in Kirchbichl ging und ein Vorgehen der Gendarmerie gegen Personen verlangte, die er als Regimegegner einstufte. Mattausch hielt Tröstner für einen Wichtigtuer; wo er konnte, übte er Druck auf den Gendarmen aus. Am Morgen des 15. Juni erschien er wieder einmal am Posten Kirchbichl und breitete seine Notizen aus. Detailliert ging der Ortsgruppenleiter auf die Beobachtungen des Blockleiters und von SS-Obersturmführer Huber ein; vor allem aber meldete er die Namen der einheimischen Frauen. Tröstner forderte den Posten-Kommandanten eindringlich auf, seiner Anzeige nachzugehen. Mattausch leitete sie auf dem für Verwaltungsstrafen vorgesehenen Formblatt an den Landrat Kufstein weiter. Es dauerte nicht lange und Regierungsoberinspektor Martin Maier aus dem Landratsamt Kufstein rief an. Er hatte die Gestapo eingeschaltet und forderte Mattausch auf, die zwei Frauen, die mit polnischen Arbeitern intimen Umgang pflegten, auszuforschen und schließlich in den Arrest des Amtsgerichts Kufstein einzuweisen.79 Der Posten-Kommandant von Kirchbichl gab 1948 an: „Ich selbst hielt damals die Sache für völlig unwesentlich, wusste wohl[,] dass es sich um eine Verwaltungsübertretung handle[,] und erwartete eine geringfügige Bestrafung der beiden Frauen. (…) Ich hatte nicht erwartet[,] dass aus dieser Angelegenheit ein so grosser Fall entstehen würde[,] der sogar die Erhängung der beiden Polen nach sich zog.“80 Die Polizeiverordnung vom 8. März 1940 verpflichtete polnische Männer und Frauen, auf der rechten Brustseite ihrer Kleidung ein Kennzeichen zu tragen. Innsbrucker Nachrichten, 21.5.1940, S. 4 Die NS-Behörden informierten in Zeitungen, wie die Bevölkerung sich gegenüber den polnischen Arbeitskräften verhalten sollte. Bäuerinnen und Landwirte mussten eine Erklärung unterschreiben, die sie anwies, intime Verhältnisse zwischen Einheimischen und ausländischen Arbeitskräften sofort zu melden. (Stadtarchiv Wörgl) Auslöser der dramatischen Ereignisse, die folgten, war zweifellos eine Initiative von unten: das eigenmächtige Handeln des Ortsgruppenleiters, aber auch des Blockleiters und des SS-Sturmbannführers, allesamt aus Kirchbichl. Ihre Pflichterfüllung rief die staatliche und staatspolizeiliche Macht auf den Plan. „Das Verhalten der Frauen verletzte das gesunde Volksempfinden gröblichst und erregte öffentliches Ärgernis.“
Mattausch bestellte die verdächtigen Frauen noch am 15. Juni 1940 für 14 Uhr auf den Posten Kirchbichl ein, ebenso das Ehepaar Lichtmanegger. Er platzierte den Blockleiter und seine Frau vor ein Fenster, durch das sie Hedwig Schwendter und Annemarie Edenhauser bei ihrer Ankunft unbemerkt beobachten konnten. Sie erkannten die beiden sofort wieder als diejenigen, die sie im Haidererwald in Begleitung der polnischen Männer gesehen hatten. „Ich tat dies[,] um jeden Irrtum auszuschließen“, betonte Kommandant Mattausch. Er vermied eine direkte Gegenüberstellung, weil politische Hoheitsträger der NSDAP den Personen, die sie denunzierten, verborgen bleiben mussten.81 Nach der Identifizierung verhaftete der Posten-Kommandant die beiden Frauen und nahm die Strafverhandlungsschriften auf. Hedwig Schwendter, geborene Edenhauser, römisch-katholisch, aber nicht praktizierend, kam am 19. Juli 1906 in Häring zur Welt und wohnte Häring-Schönau Nr. 17. Sie war seit 1933 mit Leonhard Schwendter verheiratet, hatte keine Kinder, ihr Mann diente in einer Wehrmachtseinheit in Wien. Hedwig Schwendter führte den Haushalt und versorgte die vier Kinder ihres Bruders Johann Edenhauser, dessen Ehefrau sich in der Lungenheilanstalt Hochzirl aufhielt. Von Beruf war sie Fabrikarbeiterin. Ihre Schwägerin Annemarie Edenhauser, laut Heiratsurkunde Anna Maria, in den Akten auch Annemaria und Annamaria, hieß mit ledigem Namen Belfin. Sie wurde am 21. Mai 1912 in Kirchbichl geboren, war römisch-katholisch, wohnte Häring-Osterndorf 4 und war seit Mai 1936 mit Peter Edenhauser verheiratet, dem Bruder von Hedwig Schwendter. Er war an die Front nach Norwegen einberufen. Das Paar hatte keine Kinder. Der Posten Kirchbichl beschrieb beide Frauen als politisch desinteressiert, sie hatten auch keine Mitgliedschaft in der NSDAP.82 Schwendter und Edenhauser schilderten detailreich ihren Fahrradausflug vom 9. Juni 1940 mit dem Besuch eines Vergnügungsparks in Wörgl und eines Gasthauses in Angath. Schwendter erwähnte zwei Männer am Tisch gegenüber, die sich mit ihr und ihrer Schwägerin kurz in schlechtem Deutsch unterhalten hatten. Einen von ihnen hatte sie in einem Wunschkonzert des Winterhilfswerks und im Moorstrandbad in Kirchbichl gesehen; eine nähere Bekanntschaft habe aber nicht bestanden. Schwendter betonte, nicht gewusst zu haben, dass die Männer „Zivilpolen“ waren: „Ich stelle entschieden in Abrede, dass ich auf dem Rückwege von Angath nach Kirchbichl und bei der Durchquerung des Haidererwaldes in Männerbegleitung war.“83 Ähnlich argumentierte Edenhauser: „Mir ist nicht erinnerlich auf dem Weg von Angath nach Wörgl mit einem Polen oder mit einem andern Mann gesprochen zu haben. Auch ist mir nicht erinnerlich jemals mit Polen im Moorstrandbad gewesen zu sein.84 In seiner Ereignismeldung gab der Gendarmerie-Posten Kirchbichl als Grund der Festnahme der beiden Frauen an: „Umgang mit Zivilpolen in Kirchbichl; Pflege von geselligem Verkehr und abendlicher Spaziergang mit diesen im Haidererwald in Kirchbichl.“85 In der Strafverhandlungsschrift notierte der Posten: „Übertretung nach Art. VIII, Pkt a des E.G.V.G. im Sinne des Merkblattes über das Verhalten der Zivilpolen während ihres Aufenthaltes im Reich, Pkt. 6.“ Die Gendarmen waren bemüht, die Frauen und ihre Familien in schlechtes Licht zu rücken, um den Verdacht gegen sie aus Ermangelung an Beweisen erhärten zu können: „Die Edenhauser steht in sittlicher Aufführung nicht in einem guten Ruf, doch können ihr konkrete Tatsachen nicht angelastet werden.“ Sie hatte nur zugegeben, so der Posten Kirchbichl, „in der Nähe des Tatortes (Treffort mit den Polen)“ gewesen zu sein: „Sie ist sich der Strafbarkeit bewusst, daher stützt sie sich auf ihre Vergesslichkeit.“86 Schwendter bestritt, sich in Männerbegleitung befunden zu haben, doch in ihren Aussagen stimmten die örtlichen und zeitlichen Angaben mit jenen der Denunzianten überein: „Aus diesen zwei Indizien und weil die Konfrontierung einen einwandfreien Beweis des Tatbestandes erbrachte, ist an der Wahrheit der Anzeige kein Zweifel.“ Der Gendarmerie-Posten Kirchbichl erhärtete seine Schlussfolgerungen, indem er die moralische Integrität der Häringerinnen in Frage stellte, besonders jene Schwendters: „Der Tatbestand wird dadurch verschärft, weil sich ihr Mann bei der Wehrmacht in Kriegsdienst befindet.“87 Und weiter: „Die Schwendter stehen im üblen Leumund und ist schon öfters vorbestraft. (…) Die Schwendter wurde erst kürzlich vom Sonder- oder Landgericht Innsbruck zu einem Jahr Zuchthaus wegen begangener Wirtschaftssabotage im Betriebe der Perlmooser Zementwerke A.G. in Kirchbichl verurteilt.“88 Der Hintergrund des Vorfalls in der Zementfabrik war folgender: Im Mai 1940 wurde Posten-Kommandant Otto Mattausch ins Unternehmen gerufen, jemand hatte ein Eisenstück in das Gangwerk einer Presse geworfen, die Maschine fiel daraufhin...


Horst Schreiber, Mag. phil., Dr. phil., Dozent am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck; Lehrer für Geschichte und Französisch am Abendgymnasium Innsbruck; Leiter von erinnern.at Tirol, Institut für politisch-historische Bildung über Holocaust und Nationalsozialismus des BMBWF; Obmann der Michael-Gaismair-Gesellschaft, Herausgeber der Studien zu Geschichte und Politik sowie der Reihe Nationalsozialismus in den österreichischen Bundesländern; Mitherausgeber der Gaismair-Jahrbücher und der sozialwissenschaftlichen Reihe transblick.
www.horstschreiber.at; www.erinnern.at; www.heimkinder-reden.at



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