E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Schomburg Das Licht und die Geräusche
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-423-43189-7
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-423-43189-7
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jan Schomburg, geboren 1976, ist Filmemacher und Schriftsteller. Er inszenierte preisgekrönte Kinofilme und schrieb Drehbücher, etwa zu >Vor der Morgenröte< und >Ich bin dein Mensch<, beide zusammen mit Maria Schrader. 2017 erschien sein Romandebüt >Das Licht und die Geräusche< - »unaufgeregt, besonders, wirklich zeitgemäß« fand es Helene Hegemann in Die Welt. Jan Schomburg lebt in Berlin.
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I
»Ich kann sie nicht sehen«, sagt Boris, als die mattgrünen Milchglasscheiben auseinandergleiten. Eine Frau mit Kinderwagen kommt heraus, und wir können für kurze Zeit in die Halle mit den drei Gepäckbändern hineinsehen. Zwei stehen still, das dritte setzt sich gerade in Bewegung, und da stehen auch schon viele Passagiere, die auf ihr Gepäck warten, aber wir wissen ja noch nicht mal, ob das schon der Flug aus Lissabon ist.
»Sie wird schon kommen«, sage ich, und während sich die Türen wieder schließen, frage ich mich, wer wohl auf die Idee gekommen ist, für die Türen dieses grüne Milchglas zu benutzen. Als wäre die Gepäckabholung vom Band irgendwie ein intimer Vorgang, der mit Diskretion zu behandeln sei.
Ich drehe meinen Kopf zu Boris und sehe ihn an, und obwohl er das merkt, verzieht er keine Miene und starrt weiter abwechselnd auf das grüne Milchglas und sein Telefon, das stumm bleibt. Ich würde gerne Boris’ Gesicht sehen, wenn Ana-Clara zwischen den sich öffnenden Türen auftaucht: ob er dann lächelt.
Hinter Boris in einiger Entfernung sehe ich einen Mann stehen, er ist schwarz angezogen und sieht ein bisschen aus wie Boris in 35 Jahren. Er steht halb verborgen hinter einer Reklametafel, als wüsste er noch nicht genau, ob er gesehen werden will, und er hat eine rote Rose in der Hand, die er halbherzig hinter seinem Rücken verbirgt. Der Mann trägt spitze schwarze Lackschuhe und wippt von einem Bein auf das andere. Auch seine Haare sind sehr schwarz, unnatürlich schwarz, aus der Entfernung sehen sie gefärbt aus oder wie ein Toupet, aber das kann täuschen.
»Setzen Sie sich doch, Boris«, sagt meine Mutter zu Boris, mein Vater nickt zustimmend. Boris sieht mich fragend an, ich zucke mit den Schultern. Boris steht kurz da und setzt sich dann auf den schwarzen Ledersessel. Ich setze mich auf den Klavierhocker. Mit seiner rechten Hand berührt Boris die Lehne des Sessels, streicht darüber und nickt meinen Eltern ironisch anerkennend zu. Mein Vater legt seine Zeitung weg und hebt ebenso ironisch entschuldigend die Hände. Es ist das erste Mal, dass ein Junge, den ich mit nach Hause bringe, sich länger mit meinen Eltern unterhält.
Ich sehe der Unterhaltung zwischen Boris und meinen Eltern zu, von meinem Klavierhocker, und kann mich nicht gegen den Stolz darüber wehren, dass Boris von meinen Eltern ernst genommen wird, dass sie sich interessiert seine Ansichten anhören, über seine Witze lachen, auch wenn mir die heimlichen Blicke meiner Mutter, die Anerkennung ausdrücken sollen, auf die Nerven gehen. Ich tue so, als wüsste ich nicht, warum sie mich so anguckt.
Sie unterhalten sich über die Jugend, meine Eltern verstehen nicht, warum niemand mehr protestiert, wo die Missstände doch so offenkundig auf der Hand liegen, Globalisierung, ungerechte Verteilung, Überwachung, Rassismus. Keine Vision einer besseren Gesellschaft, keine Solidarität.
»Tja«, sagt Boris, »wir haben halt noch nie was Schlimmes erlebt, das uns irgendwie verbinden würde. Kein gemeinsames Trauma. Außer unsere Familien natürlich.«
Meine Mutter und mein Vater lachen und drehen sich dabei zu mir um. Ich möchte eigentlich nicht, kann aber nicht verhindern, dass ich lächeln muss.
Boris’ Vater ist Entwicklungsingenieur bei Siemens, er hat eine »Fertigungsstätte für nachrichtentechnische Erzeugnisse« in Portugal mit aufgebaut, in einer Stadt namens Evora. Boris sagt das irgendwie abfällig oder ironisch, »Fertigungsstätte für nachrichtentechnische Erzeugnisse«. Er war vier oder fünf, als seine Eltern mit ihm nach Portugal gezogen sind.
»Nachrichtentechnische Erzeugnisse? Was soll das sein? Spionagesachen oder was?«, frage ich.
»Ja«, sagt Boris, »Abhörgeräte, Kugelschreiber mit Kameras, Wanzen, so Zeugs. Aber häng das nicht an die große Glocke. Mein Vater kann richtig Ärger kriegen, wenn das rauskommt. Das ist eigentlich alles geheim.«
Später erklärt mein Vater mir, dass Nachrichtentechnik nichts mit Nachrichtendiensten und Spionage zu tun hat, sondern ungefähr das Gleiche ist wie Kommunikationstechnik. Manchmal redet mein Vater wie ein Lexikon.
»Nachrichtentechnik umfasst alles, was mit der Übertragung und Verarbeitung von Informationen zu tun hat.«
Der Mann, der uns mitgenommen hat in seinem Auto, ist gar kein Schulbuchredakteur. Er exportiert Garagentore nach Russland, im Sommer per Lastwagen, im Winter »auf der Schiene«, weil dann kein Lastwagen mehr über den Ural kommt.
»So was habe ich ja noch nie gehört«, sage ich.
Boris ist schon wieder eingeschlafen, auf einem beigefarbenen Ledersofa, er kriegt nichts mehr mit. Ana-Clara sitzt neben ihm auf der vorderen Kante des Sofas, auch jetzt kein Zeichen von irgendeiner Anteilnahme in ihrem Gesicht, nur Gleichgültigkeit. Den Wein vor ihr auf dem gläsernen Couchtisch hat sie noch nicht angerührt. Um sie zu ärgern, schlendere ich mit meinem Weinglas in der kleinen Dachwohnung umher und gucke mir interessiert Dinge an, die mich nicht interessieren. Der Garagentorexporteur sammelt kleine Autos aus Blech.
»Immer auf Termin«, sagt er, »immer auf Termin. Bestechung habe ich nicht nötig. Weil ich immer auf Termin liefere. Egal, was passiert, ich liefere immer auf Termin, immer. Einmal habe ich ein Garagentor per Luftfracht verschickt, da hatten die bei der Montage Mist gebaut, was mit der Steuerung. Tja, LKW war weg, hätte auch nicht mehr rechtzeitig hingehauen. Klar, die Luftfracht war teurer als das Tor selbst, das Tor etwa 300, die Luftfracht zweieinhalb, dazu noch Importzoll und Gebühren, aber es war pünktlich da, das Tor. Immer auf Termin.«
»Wie heißt du eigentlich?«, frage ich.
»Das kennen die in Russland gar nicht«, sagt er. Und nach einer kurzen Pause:
»Frank.«
Ich deute auf die schwarze Stereoanlage, die verstaubt in einer Ecke steht.
»Hast du Musik?«
»Ich muss morgen früh raus«, sagt er.
»Müssen wir doch alle«, sage ich und lächle ihn an.
In den letzten Sommerferien haben Boris und ich eine Radtour gemacht, an die Nordsee. Eine Woche lang haben wir in einem Zelt übernachtet. Und wir haben uns so gut verstanden, dass ich die ganze Zeit dachte, dass das doch alles gar nicht sein kann. So verhalten sich keine Freunde, dachte ich, es kann ja nicht sein, dass Boris das nicht merkt. Ich meine, natürlich wusste ich, dass er eine Freundin hat in Portugal, aber ich konnte das nicht so richtig ernst nehmen, weil er später nie mehr von ihr erzählt hat und die ja auch noch gar nicht so lange zusammen waren. Sie war in seiner Klasse in Portugal, aber während Boris noch in Portugal wohnte, war da wohl nichts. Erst als Boris in den Herbstferien nach dem Umzug noch mal für zehn Tage in Portugal Urlaub gemacht hat, waren sie zusammen auf einer Party am Strand, und da ist es dann irgendwie passiert. Aber Boris hat mir auch nie ein Foto gezeigt oder so, und irgendwann hatte ich sie dann quasi vergessen.
Am letzten Abend lagen wir zusammen im Zelt, und plötzlich haben sich zufällig unsere Hände berührt. Dann haben sie sich noch mal berührt, und wir haben angefangen, unsere Hände zu streicheln. Vielleicht habe ich nicht gezittert, aber ich hatte das Gefühl, ich würde zittern, und dachte, dass das irgendwie peinlich ist, wenn Boris merkt, dass ich zittere, und habe mich ganz darauf konzentriert, nicht zu zittern. Ich glaube, das hat auch funktioniert, aber ganz sicher bin ich mir natürlich nicht. Und dann irgendwann, ich weiß gar nicht mehr, wie das genau kam, lagen wir beide auf der Seite, und unsere Gesichter waren so nah, dass ich seinen Atem spüren konnte. Der Atem von Boris roch leicht nach Bier, was ich aber nicht unangenehm fand. Unsere Nasenspitzen haben sich berührt, und vor Schreck hätte ich beinahe gezuckt, aber ich habe mich zusammengerissen. Und ich dachte, wenn wir uns jetzt nicht küssen, dann weiß ich auch nicht mehr.
Bis heute verstehe ich nicht, wie es dazu kommen konnte, dass wir uns nicht geküsst haben. Da fehlten wahrscheinlich nur drei Zentimeter oder so. Und ich dachte die ganze Zeit, dass ich ihn jetzt küssen , aber ich habe es nicht gemacht, und Boris hat es auch nicht gemacht, und irgendwann haben sich unsere Nasenspitzen dann nicht mehr berührt. Ich glaube, dass ich die ganze Nacht nicht geschlafen habe. Ich lag da mit aufgerissenen Augen, habe immer wieder den Kopf geschüttelt und mich von oben angeguckt, wie ich da unten liege und den Kopf schüttle. Da ist man so kurz vor dem Ziel, und dann vermasselt man das noch.
Wenn ich Ana-Clara lieben kann, wenn ich etwas Liebenswertes an ihr entdecken kann, dann kann ich Boris weiter lieben. Wenn ich nichts finde, was sich lieben lässt, kann ich Boris nicht mehr lieben. So einfach ist das, sage ich mir.
Ana-Clara nervt aber. Es ist mir schleierhaft, was Boris an ihr findet, und ich strenge mich wirklich an, sie zu mögen. Wenn sie sich nur ein bisschen bemühen würde, könnte sie mich sofort für sich einnehmen, aber es scheint da bei ihr überhaupt kein Interesse zu geben. Dabei müsste es doch auch für sie von Bedeutung sein, dass die beste Freundin von Boris sie gut findet. Ich habe mich zum Beispiel ein bisschen vorbereitet und ein paar Artikel über Portugal gelesen, damit Ana-Clara nicht das Gefühl bekommt, ich würde mich nicht für sie interessieren.
Sie spricht kein Wort Deutsch, und sie versucht es auch gar nicht erst. Ich verstehe das nicht. Wenn man in einem fremden Land ist, dann gebietet es doch die Höflichkeit, dass man wenigstens »Bitte«, »Danke«, »Guten...