E-Book, Deutsch, 170 Seiten
Scholz Der Fluch der göttlichen Gnade
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-96543-181-2
Verlag: Lehmanns Media
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 170 Seiten
ISBN: 978-3-96543-181-2
Verlag: Lehmanns Media
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Zu der Frage, warum gerade die Juden die Hassobjekte der christlichen Völker Europas sind, warum gerade die Anhänger der Mutterreligion des „einzig wahren Glaubens“ so ohne jegliches Mitgefühl und Erbarmen, so ohne Nächsten- und Feindesliebe verfolgt, ermordet und zu Tode gefoltert wurden – zu dieser Frage tritt seit dem Zweiten Weltkrieg eine andere hinzu: Warum sind es gerade die Deutschen, die diesen Hass mit unstillbarem Vernichtungswillen auf einen mit menschlichem Denken und Fühlen nicht fassbaren Höhepunkt trieben?
Der Antworten hierzu gibt es viele, auch sehr gute und von tiefem geschichtlichen Wissen geprägte. Doch es bleibt beim Studium dieser Analysen ein Gefühl, dass da etwas fehlt, dass etwas nicht gesagt werden darf, dass da ein Tabu im Hintergrund droht, das jedem „das Maul verbietet“, der es anzurühren sucht.
Doch genau diesem Unberührbaren wollen wir uns hier zuwenden, wollen es ohne Scheu vor religiösem Glauben und überkommenen Vorstellungen tun. Denn die Erwählung durch einen Gott kann zum furchtbaren Fluch, der begehrliche Neid darauf zum Verlieren alles Menschlichen werden.
Autoren/Hrsg.
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Apion – ein Ägypter, der Griechisch konnte
Und so war es einstmals gekommen, wie es damals hatte kommen müssen: Es war einmal in – Alexandria. Was heute unter der kühlen und klaren Oberfläche des Meeres liegt, das einmal das mare nostrum gewesen war, wo heute tauchende Archäologen von stummen Fischen neugierig angestaunt werden, da war einst das brodelnde, das heiße Herz der hellenistischen Welt. In den weiten Markthallen konnte man sein eigenes Wort kaum verstehen, so schnatterte das Gefeilsche der Händler in allen Sprachen des Orients über die ausgebreiteten Gewürze, über den duftenden Weihrauch hin; in den dämmrig kühlen Räumen der Bibliothek dagegen war nur geflüstertes Griechisch zu vernehmen und im Serapeum, dem Tempel des Stadtgottes Serapis, der hellenistischen Synthese aus griechischer und ägyptischer Frömmigkeit, waren griechische wie auch ägyptische Gebete zu hören. Die Söhne Abrahams aber blieben unter sich, im Stadtteil Delta, ihrem Viertel – in ihren Synagogen. Nur wenig drang von hier nach außen: neidisch-erlogenes und verleumderisches, von neugieriger Lüge erdachtes und vom Geheimnis umwittertes. Doch die Synagogen hatten ein Problem, ein Sprachproblem. Die Juden, die global tätigen Händler, die Handwerker und Künstler, die Wissenschaftler und Ärzte – sie alle sprachen die Universalsprache ihrer Zeit, das Englisch der Antike, das Griechische; die Sprache ihrer eigenen heiligen Schriften, das Hebräische, verstanden sie nicht mehr! Die Thora, die fünf Bücher Mose, waren für sie der „Pentateuch“! Also – heiliges Schriftbild hin oder her –, der Text musste ins Griechische übersetzt werden! Ab der Mitte des 3.Jh.v.u.Z. entstand die Septuaginta (angeblich waren es siebzig Übersetzer, die diese Leistung in siebzig Tagen vollbrachten!? Daher der Name.). Endlich konnten die Juden ihre eigenen heiligen Schriften wieder lesen, konnten den Worten ihrer Propheten lauschen, konnten die Gebote ihres Gottes wieder hören, der ihnen Bund und Treue versprach, und der dafür Gesetzestreue von ihnen verlangte. Sie konnten die glaubenden Worte des Entstehungsmythos ihres Volkes wieder nachvollziehen – die Befreiung ihrer Väter aus der Sklaverei, den Auszug aus dem Sklavenhaus Ägypten, aber auch die Erniedrigung der heidnischen Götter und des Pharao. Doch eines hatte niemand bedacht: Andere, jeder Andere, der das Griechische beherrschte, was alle Gebildeten des Imperiums waren, konnte das jetzt auch lesen! Die meisten wird es anfänglich nicht interessiert haben; was ging einen Verehrer des Iuppiter Optimus Maximus die seltsame Religion dieses orientalischen Volkes schon an! Doch bei einem Ägypter, der das Buch Exodus aufmerksam las – es werden am Anfang sicherlich nur wenige gewesen sein –, da schwoll der Kamm an, da kochte der Zorn hoch – es ist menschlich allzu verständlich! –, wenn er las, wie der Gott eines hergelaufenen Nomadenhaufens sich zum Herrn über Ägypten aufschwingt, wie er seinen König, seinen Herrschergott, zu einem lächerlichen Hampelmann in den angeblich allmächtigen Händen eines aufgeblasenen Wüstendämons werden lässt, wie dieser kultur- und geschichtslose Hirtenhaufen sich erhebt über die uralte Kultur am Nil. War doch das (hohe) Alter einer Kultur damals das höchste Signum ihrer Würde. Ein solcher Ägypter, der das Buch Exodus jetzt auf Griechisch las, der es verstehen konnte, der jetzt wusste, welche Texte in den Synagogen vorgelesen wurden, der den Triumph Israels über seine „Schwarze Erde“, über seine geliebte Heimat, auf ägyptischem Papyrus geschrieben, lesen konnte und las, der konnte nur Hass empfinden gegen dieses hochmütige Volk, gegen einen Gott, der sich zum Herrn der Welt aufspielte – und genauso gegen das Volk, das sich das seine nannte, dem er sich in besonderer Liebe und Gnade zuwendete. Einer dieser Ägypter hieß Apion. Apion war ein Großmaul. Aber er war keiner, von dem man sagen konnte: große Klappe, nichts dahinter. Nein, er hatte einiges dahinter! Aus der tiefen ägyptischen Provinz, irgendeiner Oase im Süden, war er in der Zeit, die wir heute das erste Jahrhundert der neuen Zeitrechnung nennen, in die damalige Metropole Ägyptens und eine der wichtigsten Zentren der hellenistischen Welt gekommen, hatte sich in Alexandria niedergelassen. Und er lernte und büffelte, büffelte und lernte, bis er es perfekt intus hatte, das Griechische, nicht nur die (Umgangs)Sprache sondern auch wie man sie lehrte, die Grammatik, und wie man mit ihr perfekt umging, wie man Schüler, Zuhörer, wie man andere Menschen mit Sprache, mit der Sprache Homers überzeugte, betörte – wie man sie einwickelte und auf seine Seite zog, wie die hohe Kunst der Rhetorik den geschliffenen Vortrag, die in den Bann ziehende Kraft der Sprache möglich machte. Bald war Apion Stadt-bekannt, so berühmt, dass er seinen Mitbürgern ihr Glück vor Augen hielt – große Klappe! –, einen solch bedeutenden Gelehrten wie ihn in ihren Reihen zu haben, und jedem, dem er seine Schriften widmen würde, versprach er Unsterblichkeit. Nun, seine Schriften selbst waren nicht unsterblich, es ist kaum etwas von ihnen erhalten, aber über ihn, da wissen wir einiges. Wir wissen, dass er sich in Rom als Lehrer der Grammatik und Rhetorik niederließ und sein Ruhm bis in den kaiserlichen Palast drang, denn Tiberius nannte ihn cymbalum mundi, die Trompete der (gebildeten) Welt, was Plinius in die „Posaune seines eigenen Ruhmes“ umdeutete. Heute würde man das alles Starrummel nennen, und Apion wäre ein Mann der Bild-Zeitung und gleichzeitig Träger des Georg-Büchner-Preises. Eine solche Stimme wurde gehört, seine Vorträge in allen Zentren des Imperiums waren Publikumsmagneten; in großen Städten machte man ihn zum Ehrenbürger und überschüttete ihn mit Lobpreisungen und Lobhudeleien – eine Art Mixtur aus Goethe und Grass, inklusive Nobelpreis. Und all diesen Ruhm, all diese Öffentlichkeitswirksamkeit nutzte Apion, um seinen persönlichen Hass gegen die Juden an den (antiken) Mann zu bringen. Er ist sicherlich nicht der erste, vielleicht auch nicht der wirkungsvollste, aber aus heutiger Sicht der bekannteste Antijudaist der noch nicht christlichen Antike. Er hat in seinen Reden und Schriften ein Bild von Ahasver, dem ewigen Juden, geschaffen, das bis heute nichts von seiner Kraft verloren hat, das – durch das Christentum gestärkt und mit neuen Ideen aufgeladen – in den Gedächtnisspuren des nun christlich gewordenen Abendlandes sich über das Mittelalter und Luther bis in Neuzeit und Gegenwart zieht, das im Deutschland der NS-Zeit seinen Höhepunkt fand aber auch heute noch quicklebendig ist. Doch Apion war nicht nur ein Mann des (literarischen) Wortes sondern auch einer der Tat. Als in Alexandria wieder einmal Unruhen ausbrachen, als lächerliche Ursachen – ein Römer (oder Jude?) habe eine (heilige) Katze erschlagen – die Stimmung des Pöbels anheizten, als man jüdische Rabbiner durch die Straßen der Stadt schleifte, als man sie erschlug und ihre heiligen Bücher schändete, als man ihre würdigsten Vertreter öffentlich demütigte, da versuchte eine Delegation der in große Bedrängnis geratenen Minderheit beim Caesar in Rom mehr Bürgerrechte für die Juden zu erbitten, für Bürger, die erheblich zum Wohlstand der Stadt beitrugen und deren Treue zur pax romana erwiesen war. Den würdigsten unter den Söhnen Abrahams hatte man als Sprecher der Bittsteller erkoren – Philon, den größten Gelehrten, den man aufbieten konnte, das Musterbeispiel eines Juden, der jüdische Schriftweisheit und hellenistische Gelehrsamkeit zu vereinen suchte. Doch die andere Seite schlief nicht. Wer die Gegendelegation leitete, ist unschwer herauszufinden; natürlich war es Apion. Und genauso leicht können wir erraten, wie das Ganze vor dem irren Blick des Caligula ausging, dem Caesar, der seinen Wahnsinn für göttlich hielt. Doch nicht um dieser Auseinandersetzung willen, die ihm den Ehrentitel „der Siegreiche“ einbrachte, ging Apion in die Geschichte ein, es war vielmehr der jüdische Historiker Josephus, der sich durch diesen Antijudaisten herausgefordert fühlte, sein Volk zu verteidigen, dessen altehrwürdige Religion zu rechtfertigen und die Schmähvorwürfe Apions zu widerlegen. Nur in diesem Spiegel kennen wir die Hetze, die dieser Ägypter über die Juden goss, nur die Apologetik des Josephus ist die Quelle unseres Wissens über den Ursprung eines Judenhasses, der in der Wut eines beleidigten Ägypters seine giftige Quelle hatte, eines Mannes, der sein Vaterland als gedemütigt ansah durch einen unwürdigen Gegner, den es darum zu vernichten galt. Josephus geht in seiner Schrift in zwei Schritten vor: Einmal sucht er das begreiflich zu machen, was wir heute jüdische Kultur nennen würden und – dieses ist in der damaligen Zeit ein besonders gewichtiges Argument – verwendet große Mühe darauf, das hohe Alter des jüdischen Volkes zu beweisen. Und zweitens lässt er sich auf die Verleumdungen des Apion ein, die wir auf diese Weise kennenlernen, und kämpf dagegen an. Vergeblich, wie wir heute wissen, denn die Verbohrtheit und Albernheit der Vorwürfe hat die Zeiten überdauert – je lächerlicher und dümmer umso dauerhafter und unausrottbarer! Doch zuerst wollen wir uns dem zuwenden, was Josephus über die Kultur seines Volkes schreibt, und das heißt über das jüdische Gesetz, denn das ist Zentrum und Dreh- und Angelpunkt allen jüdischen Lebens. Im vierundzwanzigsten Kapitel des zweiten Teiles seiner Schrift „Über das hohe Alter des jüdischen Volkes, gegen Apion“ – und dies sei als Musterbeispiel herausgegriffen – stellt er die Frage nach den „Bestimmungen über die Ehe“. Und da geht es gleich und völlig unverblümt um den Sex: „Das Gesetz erkennt nur den naturgemäßen Verkehr mit...