E-Book, Deutsch, 287 Seiten
Scholl Transit Lissabon
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-86337-226-2
Verlag: Weissbooks Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 287 Seiten
ISBN: 978-3-86337-226-2
Verlag: Weissbooks Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Roman »Transit Lissabon« folgt einer Gruppe von Freunden auf der Flucht: Ava, schauspielernde Wienerin mit Berlinerfahrung. Billy, Berliner Autor, der nach einem Eklat wegen seines provokanten Theaterstücks die Stadt verlassen musste. Conrad, Möchtegern-Intellektueller und Frauenheld, Avas Freund in Wien, der sich in der Not als zupackender Helfer entpuppt. Beide Männer sind in Ava verliebt, mit geringem Erfolg.
In Paris bewegen sie sich in Künstlerkreisen, verkehren mit Joseph Roth, Franz Werfel und Max Ophüls, schreiben in Cafés, diskutieren in Restaurants oder im Jardin du Luxembourg. Bis die Franzosen den Deutschen nicht mehr standhalten und die Freunde über gefährliche Wege nach Lissabon gelangen, um eine Passage nach Übersee zu ergattern. Das bange Warten beginnt ...
»Zuletzt hat Herta Müller eindringlich ausgeführt, dass jene, die ins Exil gezwungen wurden von den Nazis, zu wenig Beachtung in der Erinnerungskultur finden: Sabine Scholls neuer Roman Transit Lissabon belegt dies auf ebenso eindringliche Weise.«
Katja Gasser
Sabine Scholl ist in Österreich geboren und aufgewachsen, hat in Wien studiert und lebte in Aveiro, Chicago, New York, Nagoya, wo sie an Universitäten lehrte. Nach ihrer Rückkehr in den deutschsprachigen Raum unterrichtete sie Literarisches Schreiben in Leipzig, Wien und Berlin. Für ihre Romane und Essays hat sie zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Anton-Wildgans-Preis der Österreichischen Industrie 2018, Landeskulturpreis Oberösterreich 2019 und den Literaturpreis der Stadt Wien 2022. Seit 2019 lebt und arbeitet sie wieder in Wien. Zuletzt erschienen ihr Roman »Die im Schatten, die im Licht« (2022) und ihr Beitrag zum Kollektivroman »Wir kommen« (2024).
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Wetterwarnung: Am Morgen positioniert sich eine riesige Niederdruckzone am Nordatlantik und zieht gegen Nachmittag in Richtung Paris.
LE FIGARO, 1. Juni 1938 »Für mich bitte blutig!« Conrad hatte sich die französische Art des Fleischessens angewöhnt. Obwohl der Wind bereits in heftigen Böen durch die Straßen sauste, speisten die Freunde auf der Terrasse des Polidor. »Schmeckt besser in frischer Luft.« Conrad rieb grobe Flocken aus der Pfeffermühle auf sein halbrohes Fleisch, tauchte einen Bissen in würzigen Senf. Billy hingegen rauchte während des Essens, vergaß zeitweise sein Entrecôte, gestikulierte, zündete sich neuerlich eine Zigarette an, hustete dann, säbelte einen Bissen ab, steckte ihn zwischen die Lippen, während der Stummel, zwischen seine Finger geklemmt, weiterglühte. Ava war nervös. Der Wind zerrte an ihrem breitkrempigen Hut. Ihr durchgebratenes Filet hatte sie in kleine Stücke geschnitten, das Fleisch war schwer zu kauen. Sie schob die zähen Fasern im Mund hin und her, konnte sie kaum hinunterschlucken. Noch hielten die knatternden Markisen den kräftiger werdenden Windstößen stand. Ava spülte mit Rotwein nach. Sie hoffte, dass Edmund unter den geänderten Umständen zur Vernunft kam und zurück zu ihr. Dann hätte dieser Aufenthalt in Paris endlich Sinn. Alle strampelten sich hier ab, um sich aus dem Nichts neu zu erfinden. Die Büros und Redaktionen, in denen sie bislang wie zu Hause waren, hatten sie zurückgelassen, genauso die täglich begangenen Straßen und ihre vertrauten Cafés. Stattdessen blieben ihnen nur ihre Köpfe als Gepäck, die trotz aller Ängste weitgehend eigenständig dachten, obwohl durch die politischen Verhältnisse bedrängt. Die meisten ihrer Bekannten waren entweder in billigen Pensionen gestrandet oder in mondänen Hotels abgestiegen, alle jedoch ungläubig und zögerlich, denn vielleicht wäre der Irrsinn bald vorbei und sie könnten sich wieder einfinden im Café Herrenhof in Wien, im Weinhaus Huth in Berlin und selbst bestimmen, wo sie wohnten, wie sie arbeiteten, wen sie liebten. Während ihres Aufenthalts in Paris bemühten sie sich nun zu tun, als hätten sie selbst entschieden, aufzugeben, was sie vorher waren, an den gewohnten Orten, wo sich nun die Ungeheuer versammelten, zum Schlachten aller Vernunft. »Messieurs dames, wird ein schweres Unwetter«, bemerkte der Garçon, als er Teller abräumte und Mokkatassen vor sie stellte. Er zog die rot-weiß karierten Decken von den geleerten Tischen. Kurbelte die Markisen hoch. Alle Aschenbecher sammelte er zuvor ein, bis auf den von Billy. Der bewahrte seinen mit der Rechten vorm Sturz aufs Trottoir. Kippe im Mundwinkel, fuchtelte er mit seiner Linken. Begleitmusik zum heftigen Gespräch. Auch Ava griff nach einer Zigarette. Conrads Feuerzeug klickte beflissen. Sie zog Rauch ein, um ihre Atemzüge mit Nikotin zu beruhigen. Dann, mit einem Mal, trommelte der Regen, platschte auf Tische, flutete kurzerhand den Gehsteig. Die Wasserrinnen am Straßenrand schwollen an, konnten nicht so rasch wieder abfließen. So schnell wie möglich liefen die Freunde in Richtung Café Le Tournon, hüpften über Pfützen und nahezu reißende Bäche. Ava hatte ihren brandneuen, schwarz-weißen Hut abgenommen, hielt ihn fest in der Hand, damit er nicht vom Wind davongetragen wurde. Fluchte auf ihr vom Regen zerrupftes Haar. Sie wollte schön sein. Für Edmund. Freunde und Bekannte drängten sich bereits im Gastraum des Cafés, als wären sie verabredet. Avas Kleid klebte an ihrem Körper. Billys Anzug roch in feuchtem Zustand noch mehr nach Tabak und abgestandener Luft. Conrad schälte sich aus dem durchnässten Jackett, krempelte seine Hemdsärmel auf, zog einen Kamm durchs Haar, reichte ihn Ava weiter. »Brauchst du?« Sie schüttelte den Kopf, eilte in Richtung Toilette. Edmund war nicht im Café, das hatte sie gleich bemerkt. Vorm Spiegel fuhr sie sich mit den Fingern durch die Locken, strich sie nach hinten. Sinnlos. Zurück im Gastraum verlangte Ava eine Gauloises von Billy. Normalerweise rauchte sie eine andere Marke. Sie saugte den Rauch ein, begann zu husten, Conrad musterte sie. Besorgt. Sein Blick schweifte durch den Raum. Er hob die Hand, um Bekannte zu grüßen, zwinkerte einer blonden Frau zu, die allein an einem Tisch saß. Ihr Haar war trocken. Sie war wohl bereits vor dem Regen untergekommen, schaute zur Seite, als sie Conrads neugierigen Blick bemerkte. Er sah derangiert aus. Dann fiel ihm Avas erstarrte Miene auf, und er wandte sich ihr zu. Immer noch krallte sich die Freundin an die Idee, eines Tages wieder mit Edmund zusammen zu sein. Stellte sich vor, als Paar wären sie von allem Unheil, das sie jetzt umgab, erlöst. Conrad wollte Ava ablenken von ihrem aussichtslosen Traum. »Konzentrier dich auf deine Arbeit! Als Schauspielerin hättest du in Paris wieder Chancen beim Film. Alles ändert sich und formiert sich neu, aus Not. Schau dich um! Berliner Filmleute tummeln sich hier. Curt Siodmak hat die Absicht, Edmunds Theaterstück zu verfilmen, mit Erich Pommer als Produzent. Vielleicht wäre eine Rolle für dich drin? Manchmal kommt sogar Max Ophüls hier vorbei. Gib dir einen Ruck!« Ava hätte nur ein paar Schritte bis zu den Tischen der Regisseure aus Babelsberg. Da wäre noch Platz frei. Doch sie war durcheinander wegen ihrer Frisur und weil Edmund nicht kam, wie versprochen. Also nickte sie den wichtigen Männern bloß zu, setzte sich lieber zum Roth, der sich freute, sie zu sehen. »Ich habe halt eine Vorliebe für Dichter mit einsilbigen Namen«, beteuerte Ava, zahlte dem Dichter eine Flasche vom Roten, die er mit seinen Freunden teilte. Sie strengte sich an, über die Witze der Keun zu lachen, deren Romane sie bewunderte, und wünschte, sie hätte diese bewegte Zeit in Berlin miterlebt. Aber sie war erst später dazugestoßen und zu kurz in der Hauptstadt geblieben. Das Wienerische hatte sie sich nie abgewöhnt. Ava kam nicht an gegen die schlagfertige Keun. Ein paar Zigaretten und viele Gläser Wein später und weil Edmund unbegreiflicherweise noch immer nicht aufgetaucht war, wechselte die Gruppe vom Tournon in die Laterne, ein deutschsprachiges Kabarett, wo neuerlich Bekannte aufeinandertrafen, um zu tun, als könnten sie in Paris doch irgendwie so leben wie früher in Berlin oder auch in Wien. Aber wo sollten sie, einmal vertrieben, sonst hin? Dabei war kaum einer von ihnen mit seinen Werken ins Französische übersetzt, und die Pariser besuchten ihre eigenen Etablissements. Manchmal, spätnachts, sang Ava sogar, wenn sie die Schwermut nicht mehr ertrug. Der Friedrich Holländer am Klavier forderte sie auf. Sie konnte nicht sitzen bleiben, wenn er das tat. Er mochte ihre dunkle Stimme. Alles in allem dilettierten sie herum, verdienten kaum etwas, lebten von Erspartem oder von der Hand in den Mund. Nur Avas Bruder schickte ihr Geld aus der Schweiz. Das Dinner im Polidor bezahlte meist sie für die Freunde. Sie unterhielten sich, lachten und rauchten. Edmund kam und kam nicht. Ava stürzte einen Rouge nach dem anderen hinunter. Billy klammerte sich an seinen Pastis. Conrad trank vorsorglich Wasser. Einer musste ja nüchtern bleiben in diesem Welttheater. Er fühlte sich verpflichtet, aufzupassen auf die beiden Freunde, die immer wieder zurückrutschten in die Vergangenheit, während er selbst sich bemühte, vorauszusehen und zu planen. So wie jetzt. Wie sollte er die beiden Betrunkenen zurück ins Hotel bugsieren, während der Sturm draußen tobte? Dann stimmte der Pianist ein Lied an, das alle kannten. Kurt Weill hatte es vertont. Ihrer aller Hymne. Ich will’s dir gestehn Es war eine Nacht Da hab ich mich willig Dir hingegeben Du hast mich gehabt Mich von Sinnen gebracht Ich glaubte, ich könnte Nicht ohne dich leben. Wann kommt der Tag, ach der Tag, nach dem ich bange? Wie lange noch? Wie lange noch? Wie lange? Ava sang, traf die Töne nicht mehr ganz. Edmund würde nicht mehr erscheinen, wahrscheinlich erschöpft von den Theaterproben, das wurde Conrad nun klar. Das Orchester spielte laut und lauter, der Rauch von Zigaretten wurde dichter, und Avas Kummer nahm zu. Ihr Glaube an die Liebe war ungeheuer groß. Sie fühlte sich nicht lebendig, ohne gesehen zu werden, berührt und verehrt, brauchte eine Bühne, den Laufsteg, die Szene. Abgeschnitten davon drohte sie zu verkümmern. Dabei hatten sie doch die literarische Agentur gegründet. Billys Idee. Sie ließen sich nicht unterkriegen. Könnten von Paris aus weiteragieren! Alle hier Gestrandeten hofften zu veröffentlichen, um zu überleben, um weiterzudenken, den freien Geist zu erhalten, den die Zurückgebliebenen so dringend benötigten. Aber die meisten Verlage und Zeitungen trauten sich nicht mehr, Aufsätze von aus politischen Gründen Vertriebenen zu drucken und ihre Meinungen, weil sie den offiziell verordneten widersprachen, zu veröffentlichen. Sie befürchteten, endgültig eingestellt zu werden, von Klagen belangt, mit Strafen belegt. Sofort nach der Machtübernahme der Nazis wurden Verleger durch Parteitreue ersetzt, manche gar verhaftet, manchen gelang es rechtzeitig zu fliehen. Bücher waren verbrannt worden, Bücher waren Asche und die Namen ihrer Verfasser zerstört. Einmal aufgenommen in die Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums, waren die Existenzen von Journalisten und Autoren restlos getilgt. Allein der Besitz ihrer...