Schörkhuber Quecksilbertage
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-903005-65-5
Verlag: Edition Atelier
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 200 Seiten
ISBN: 978-3-903005-65-5
Verlag: Edition Atelier
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In der blauen Morgendämmerung hängt eine Leuchtschrift: »Aufstehen!«
Vor den verdutzten Augen der Morgen- und der Spätnachtmenschen verwandelt sich die Schrift. Unzählige leuchtende Punkte wirbeln durcheinander und formieren sich neu. »Aufstand!« schwebt jetzt in der morgenfrischen Luft über dem Höchstädtplatz im 20. Wiener Gemeindebezirk. Die Menschen reiben sich die versandeten Träume und den letzten Schnaps aus den Augen.
Was soll das heißen?
Eva Schörkhuber, 1982 in St. Pölten geboren. exil-literaturpreis 2012, Theodor-Körner-Preis 2013. Studiert(e), arbeitet(e) und lebt(e) in Oran, Marseille und Wien (als freie Autorin, als Dramaturgin, Lehrbeauftragte, Lektorin und Redakteurin beim textfeld südost) und schreibt an ihrer Dissertation. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien, zuletzt: Der Stoff, aus dem (in: literatur exil preise 2012), Textadaptionen für die Bühne, zuletzt: Die Schmerzmacherin (Regie: Alex.Riener, Uraufführung 2012 im Theater Drachengasse). Gemeinsam mit Elena Messner Konzeption und Durchführung der Wiener Soundspaziergänge.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Valerie, eine Frau in den frühen Dreißigern, steht hilflos und auch ein bisschen trotzig vor einer ungewissen Zukunft. Sie will kein Mitglied der Generation Praktikum mehr sein - was aber bleibt ihr anderes übrig, scheint es von allen Seiten zu tönen. Valerie probt mutig den Widerstand und macht sich auf die Suche: Hellwach und zugleich traumwandlerisch streift sie durch Wien, überdenkt ihre Gegenwart und Vergangenheit sowie die ihres Landes. Eva Schörkhuber erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die lernt, ihre Sicht auf die Welt zu ändern und nichts mehr einfach hinzunehmen. Ein hochaktueller Roman, der die Zukunft einer alleingelassenen Jugend treffend beschreibt.
SCHERENSCHNITTE
Ziemlich verwickelt das Ganze. Wie sie da stand, in dieser Nacht, vor der Fassade des Gemeindebaus, am Rande des orangenen Lichtkegels. So stand sie da: eine schlanke, mittelgroße Gestalt in hellen Jeans und dunklem Shirt, in Betrachtungen vertieft, in Gedanken versunken. Der Abend, den sie hinter sich hatte, war nicht nur in ihrem Kopf, sie trug ihn auch auf ihrem Kopf, diesen Abend, an dem sie die vielen Schnitte gesetzt hatte. Schnitt für Schnitt für Schnitt waren sie gefallen, die langen braunen Haare, und herausgekommen war dieser Kopf mit den kurzen, borstigen Haarbüscheln. Ein einziges nur war lang und glatt geblieben. Und dieses hatte sie hierhergetragen, vor die Fassade des Winarskyhofes, der nur wenige Schritte von ihrer Wohnung entfernt lag. Hier stand Valerie nun. Sie stand da wie angewurzelt und drehte die eine Haarsträhne, die ihr noch verblieben, durch die sie noch verbunden war mit der Welt da draußen, da drinnen, so viel Welt, so viele Welten, die sich trafen, die sich kreuzten mit der Zeit, die vergangen war, mit der Zeit, die vor ihr lag wie ein toter Fisch. Ausnehmen konnte sie ihn nun, diesen Fisch, der die Zeit war, ausnehmen konnte sie ihn, entweder um ihn zu verzehren oder um in seinen Eingeweiden zu lesen, um aus ihnen herauszulesen, was noch kommen, was noch auf sie zukommen würde. Ziemlich verwickelt das Ganze. Die Sache mit der Vergangenheit, der Gegenwart, der Zukunft, die Sache mit der toten, kalten Zeit. Einmal war es die Gegenwart, einmal die Zukunft, das andere Mal wiederum die Vergangenheit, mit der Valerie nichts anfangen, zu der sie keinen Zugang finden konnte. Wenn sich die Lebenszeit ausnahm wie ein kleines, mehrfach zusammengefaltetes Stück Papier, an dem sich die Zeit vergangen hatte, an dem sie sich verging, in das die Zeit ihre Zähne, ihre Krallen und Kerben schlug, und dieses kleine Stück Lebenszeit schließlich ausgebreitet, aufgefaltet würde, dann würden die Muster sichtbar werden, die durch die Schnitte, die Einschnitte entstanden waren. Wie ein Scherenschnitt würde dann das kleine Stück Lebenszeit vor einer liegen. Die nachfolgenden Generationen könnten daraus ablesen, wie sich die Zeit an den Vorfahren vergangen hat, welche Einschnitte, welche Verwundungen dazu geführt haben, dass … Sie könnten dann auch ablesen, wie sich die Zeit an ihnen selbst vergangen hat, an ihnen, die aufgewachsen sind in der Zeit, die vergangen war, die sich an ihren Eltern und Großeltern vergangen hatte. Wie nun, wie würde wohl Valeries kleines Stück Lebenszeit aussehen, so ausgebreitet, so aufgefaltet – welche der Schnitte und Einschnitte, welche der Verwundungen würden wohl später als symptomatisch für diese Zeit, für ihre Zeit betrachtet werden? Ziemlich verwickelt das Ganze. Noch immer stand Valerie da, vor der Fassade des Winarskyhofes, die eine Hand in der Hosentasche, die andere mit der letzten langen Haarsträhne befasst. Die Schnitte und Einschnitte ihrer Zeit, wütend und willkürlich müssten diese gesetzt sein, kreuz und quer über das Ganze, das ganze Blatt verteilt, und in dem Muster, in dem Scherenschnittmuster müssten sich die Brüche, die Unstetigkeiten, müsste sich das Halbfertige, das Unausgegorene zeigen. Aber wer konnte das schon wissen, wer konnte wissen, was daraus zu lesen, was herauszulesen sein würde aus den Einschnitten und Eingriffen dieser Zeit, die ihre Zähne, ihre Krallen und Kerben gerade in ihre Lebenszeit schlug. Valeries Haarschnitt zum Beispiel: Die meisten würden das wohl als eine Reaktion, eine Überreaktion auf ihre Trennung von Roland betrachten. Ein neues Leben. Eine neue Freiheit. Whatever. Dass es eine Art Fluch, eine Art Voodoo-Zauber hatte sein sollen, darauf würde niemand kommen, wie denn auch, wozu denn auch, schließlich ist sie doch eine aufgeklärte, eine gut ausgebildete junge Frau, die ihr Leben schon machen, die ihr Leben schon in den Griff bekommen würde, wenn – wenn sie endlich aufhören würde, sich selbst im Weg zu stehen (so Georg), wenn sie sich endlich aufraffen würde, sich einen angemessenen Job zu suchen (so die Eltern), wenn sie nur ein wenig ehrgeiziger wäre (so Doris und in ihrem Windschatten auch Evelyn), wenn sie nur ein wenig anschlussfähiger wäre (so Rita und Fred). Und Roland? Der hatte sich kaum Gedanken über ihre Zukunft gemacht, der wollte etwas aus sich machen, und in seinem Gefolge, als seine Gefährtin, hatte er auch sie ein wenig mitbedacht, miteingerechnet. Was der wohl gerade? Wo der wohl gerade? Wahrscheinlich war er in Salzburg, bei einem Meeting, einem Vernetzungstreffen, schließlich gehe es ja jetzt um alles, um alles, was ihm möglich sei nach dieser Ausbildung. Fünf Männer im Anzug, alle jung und dynamisch und ehrgeizig, und eine Frau im Kostüm, die am jüngsten, am dynamischsten, am ehrgeizigsten war, da sie schon eine Ahnung von der gläsernen Decke hatte und Erfahrung mit den informellen Bierglas-Absprachen unter den Kollegen. Und wenn Valerie jetzt einfach so stehen blieb? Hier, vor dem Winarskyhof, unter dem Leintuchtransparent, und sich ausmalen würde, wohin das alles führen würde, das ›Alles‹, was zu tun wäre, wenn sie sich eine Tat überlegen und in allen Details mit allen Konsequenzen ausmalen würde, dann würde sie den Rest ihres Lebens einfach hier stehen bleiben und sich überlegen, was zu tun, wie das zu tun, wohin das, was zu tun wäre, führen würde. Jede kleinste Bewegung, jeder kleinste Schritt hätte eine unüberschaubare Anzahl an möglichen Konsequenzen. Auch der Entschluss, hier stehen zu bleiben, würde vieles mit sich bringen, würde vieles nach sich ziehen. Valerie könnte verhungern, sie könnte erfrieren dabei, bei dieser Aufgabe, dieser Lebensaufgabe, wenn sich nicht Menschen finden würden, die ihr etwas zu essen bringen würden, zum Beispiel Wurstsemmeln, wie in dieser Geschichte, die sie einmal gelesen hatte, diese Geschichte, in der eine junge Frau am Karlsplatz gesessen war und nicht mehr von ihrem Hintern hochkommen wollte. Auch wenn sie nicht verhungern würde, sondern bis in ein hohes Alter hinein einfach stehen blieb, so stehen blieb, selbst dann würden sie wahrscheinlich in ihren Grabstein diesen Satz meißeln, den Satz mit allen Möglichkeiten: »So schade um sie, ihr wäre doch wirklich alles möglich gewesen. Talent hatte sie zwar keines, aber eine gute Ausbildung und ein solide gebildetes Elternhaus.« So oder so ähnlich. Sie aber würde in ihrem Testament darauf bestehen, dass dieser Scherenschnitt, der in ihre Lebenszeit schon eingelassen war, auch in den Grabstein eingelassen werden würde, als Zeichen, als Ausdruck dafür, wie diese Zeit, in der ihr angeblich so vieles möglich gewesen, mit ihr verfahren war, wie diese Zeit sich an ihr vergangen hatte. Und überhaupt! Was sollte das alles hier? Betrunken war sie und selbstmitleidig. Und desorientiert, obwohl nur wenige Schritte von ihrer Wohnung entfernt. Was machte sie hier? Valerie stand da wie angewurzelt und starrte auf dieses Transparent, auf dieses Leintuchtransparent, das nichts zu sagen, das ihr nichts zu sagen hatte. Was tun! Sie, sie tat ja gar nichts. Sie stand hier seit geraumer Zeit und ließ sich alles Mögliche durch den Kopf gehen. Oder nein. Nicht alles Mögliche. Nur Fragmente, Bruchstücke aus dem Leben, aus den Leben, die vor ihr, die hinter ihr lagen. Was wusste sie. Was wusste sie denn schon. Aber. Wäre das nicht der Ort, wäre das nicht der Moment, um endlich – endlich! – alles Mögliche zu begraben? Wie wäre es, wenn. Wenn sie sich jetzt, hier, endgültig von der Welt abnabeln würde. So viele Schnitte heute schon. So viel Zauber, fauler Zauber. Warum denn nicht. Warum nicht hier, unter diesem Leintuchtransparent, die Nabelschnur begraben? Kein geeignetes Werkzeug war in ihrer Tasche. Was tun also? Ein paar Schritte zur Seite. Dort stand diese Frau mit dem Hunde-Schatzi. Wie lange redete die schon auf dieses Schatzi ein. Egal. Sie rauchte. Hatte also wahrscheinlich ein Feuerzeug. Oder Zündhölzer. »Entschuldigen Sie. Haben Sie vielleicht Feuer?« Der mürrische Griff in die Rocktasche. »Da habn S’!« »Ich bring’s gleich zurück.« Schnell weg. Wohin, damit die Hunde-Schatzi-Frau nicht sah, wie sie verschwand. Dorthin, ins Dunkle, ganz nah an die Mauer. Ein blinder Fleck. Sehr gut. Mit der linken Hand die Haarsträhne hochgezogen, mit der rechten das Feuerzeug bedient. Die Flamme groß genug. Hier ungefähr die Stelle. Mit dem Daumen und dem Zeigefinger diese Stelle festhalten. Die Flamme direkt darunter ansetzen. Nur nicht die Finger verbrennen, nur nicht die Finger verbrennen. Wie das stank. Versengtes Haar. Mit den Fingerspitzen die Ränder abtasten, die Glut ausdämpfen. Schon vorbei. In der einen Hand die lose Haarsträhne, in der anderen das Feuerzeug. Das Feuerzeug der Frau zurückgeben. »Danke.« Dieser Blick. Verständnislos. Misstrauisch. Wofür die wohl das Feuerzeug gebraucht hatte. Rauchte ja gar nicht, et cetera et cetera. Was kümmert’s sie. Und nun. Direkt unter das Fenster mit dem Leintuchtransparent. Was tun! Ja. Die Erde ein wenig aufwühlen. Hoffentlich kein Hundedreck. Nein. Nur das trockene Gras. Mit den Fingernägeln in den Boden. Trockene, steinige Erde in der Hand, unter den...