E-Book, Deutsch, 232 Seiten
Schörkhuber Die Gerissene
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-99065-052-3
Verlag: Edition Atelier
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 232 Seiten
ISBN: 978-3-99065-052-3
Verlag: Edition Atelier
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mira hat genug vom Landleben. Schon seit ihrer Kindheit fühlt sie sich im Dorf fremd und unverstanden. Ohne einen Cent in der Tasche reist sie in die Welt hinaus, um ihren Platz darin zu finden. In Marseille macht sie sich mit dem Upcycling alter Kleidung einen Namen, in Oran näht sie aus Djellabas Minirocktaschen und in der Sahara schließt sie sich einer Reisekarawane an und arbeitet in einem Flüchtlingscamp mit. Stets begegnet Mira den Menschen und Umständen mit wachem, kritischem Blick und dem Drang, einen Beitrag zu leisten. Als in Havanna ihre Erwartungen auf eine echte, lebendige Revolution enttäuscht werden, gründet sie eine neue aufständische Bewegung. Wieder steht Mira vor einer Chance, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Doch diesmal muss sie alles riskieren.
Ein Roman mit feiner Ironie und sprachlicher Finesse, der sich mit dem Status quo nicht zufrieden gibt und eine zeitgenössische Schelmin zur Hauptfigur macht.
Eva Schörkhuber, 1982 in St. Pölten geboren, aufgewachsen in Oberösterreich. exil-literaturpreis 2012, Theodor-Körner-Preis 2013, Buchprämie der Stadt Wien 2015, author@musil in Klagenfurt 2020. Literaturwissenschaftliche Promotion über Archiv- und Gedächtnistheorien. Lebt und arbeitet in Wien. Konzeption und Durchführung der Wiener Soundspaziergänge. Redaktionsmitglied bei PS - Politisch Schreiben und Mitglied im Papiertheaterkollektiv Zunder. Zuletzt erschienen: 'Nachricht an den Großen Bären' (2017)
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2. KAPITEL
Wie Mira in Oran die Freiheit suchte und durch den Verkauf von Handtaschen Berge versetzen wollte So viele Wendungen mein Leben auch genommen, an wie vielen Fäden ich auch gezogen haben mag, es haben sich stets andere Bewegungen, andere Formationen ergeben als die, die ich beabsichtigt hatte. Etwas in Gang zu setzen, den Anstoß dafür zu geben, die gewohnten Bahnen zu verlassen, bedeutet nicht, alles im Griff zu haben. Der Griff nach den Sternen ist ein vager, ein tastender. Das leuchtende Ziel vor Augen kann, wenn man endlich so weit gekommen ist, schon erloschen sein. Es ist auch möglich, sich beim couragierten Eingriff in die Konstellation der Gestirne die Finger zu verbrennen. Die Haut ist nicht dick genug, der Handschuh löchrig, das Gehirn nicht in der Lage, den neuen Impulsen eine andere Bedeutung beizumessen als Schmerz – wo auch immer die Gründe für das Scheitern liegen, sie werden stets verkleidet. Meist werden sie mit viel Stoff, mit Fahnen und Wimpeln, mit Schulterklappen und Soldatenröcken versehen, um sie als unabdingbar und besonders wehrhaft auszugeben. Die Bedrohungen sind zahlreich, den äußeren Feinden folgen die inneren, und wenn gar nichts mehr hilft, wird der einstige Leitstern selbst zum Gegner erklärt, den es zu bekämpfen gilt. Am häufigsten hat dieses Schicksal einen Stern namens Freiheit ereilt. Je leuchtender er als Ziel vor Augen stand, desto vehementer wurde er kurze Zeit später verunglimpft und angegriffen. Wenn sich nun die Fäden aus den martialischen Verkleidungen ziehen ließen, die Gründe für die verbrannten Finger nackt dastünden und aufgerollt würden, vielleicht wäre es dann möglich, zu den vagen, tastenden Bewegungen zurückzukehren, mit denen ein Stern namens Freiheit nicht erobert, aber berührt werden könnte, ohne dass dafür besonders dicke Haut, feuerfeste Handschuhe oder sagenhafte Schmerzunempfindlichkeit benötigt würden. Die Fäden jedenfalls, die ich in Oran gezogen habe, haben sich zu guter Letzt in Fallstricke verwandelt, nicht so sehr für mich wie für jene, denen ich ein Stück Freiheit schenken wollte. Das Ankommen aber ist berauschend gewesen. Schon bei meiner Ankunft habe ich viel von jenem Stoff gesehen, der wehrhaft die Freiheit von der Freiheit abschirmte. Die Bahnhofshalle mit ihren großzügig geschwungenen Bögen war voller Menschen. Stimmen schwirrten durch den Raum, kehlige Laute, mit nasalen durchsetzt, schwangen sich auf, füllten die Ecken, prallten ab von den Wänden und umkreisten die geschnürten Pakete und Ballen, die auf dem Boden standen, auf Rücken gehievt oder mit den Armen gestemmt wurden. Überall hingen Fahnen, grün-weiß, ein flatterndes Empfangskomitee schwang seine roten Mondsicheln über den Köpfen der An- und der Abreisenden und warf seine roten Sterne in die Menge. Dazwischen segelten weiße, blaue und gelbe Kopftücher, rote, braune und grüne Kleider schlackerten um Arme und Beine. An manchen Stellen ein schwarzes Aufflattern, wie große Raben schoben sich Gruppen von Menschen durch die Halle, die von Kopf bis Fuß in schwarzen Stoff gehüllt waren, nur das Gesicht hob sich ab als ein helles Oval. Ich hatte all diese Kleidungsstücke, die Hijabs, Djellabas und Tschadors in all ihren Farben und Varianten schon in Marseille gesehen, allerdings noch nie so dicht beieinander, auf so engem Raum. Ich stand in einem Farb-, in einem Stoffrauschen, das mich gebannt hielt. Ich folgte mit den Augen, so gut es ging, einmal der Gruppe im Tschador, dann wieder einem alten Mann in seiner filzigen braunen Djellaba. Ich hängte meinen Blick an einen weißen Hijab, der kunstvoll geschwungen auf dem Kopf einer jungen Frau saß, die sich hektisch ihren Weg durch die Herumstehenden bahnte. So vertieft war ich in das Kommen und Gehen, in das Flattern und Rauschen, dass ich erschrocken zusammenfuhr, als mich eine Frau auf Französisch ansprach. »Mademoiselle«, sagte sie, nahm mich am Arm und ging mit mir aus dem Bahnhofsgebäude. Hier werde ich wohl gleich abgeholt werden, meinte sie, und ich erwiderte, dass ich nicht wisse, wer mich hier abholen solle. Sie kniff die Augen zusammen und runzelte die Stirn. Wohin ich denn wolle, fragte sie schließlich. »Je ne sais pas«, antwortete ich schlicht. Ihre Augen wurden groß, dunkle, sehr lebhafte Augen huschten unter den mahagonirot gefärbten Haarsträhnen hin und her. Sie schüttelte den Kopf. Das blaue Tuch, das lose auf ihrem Kopf gelegen hatte, fiel auf ihre Schultern. »Mais …«, sie beendete den Satz nicht. Sie streckte mir die Hand entgegen. »Mayya«, sagte sie, und »Mira«, sagte ich. Sie nahm mich wieder am Arm und zog mich zu einem der Taxis, die auf dem Platz vor dem Bahnhof standen. Eine der hinteren Türen öffnete sie und bedeutete mir, einzusteigen. Nachdem sie neben mir Platz genommen hatte, begann Mayya mit dem Fahrer zu diskutieren. Nach einem Wortwechsel, der in meinen Ohren heftig, ja beinahe nach einem Streit geklungen hatte, legte der Fahrer den Gang ein und fuhr los. Mayya lehnte sich zurück. Wir würden jetzt einmal zu ihr fahren, erklärte sie, alles Weitere werde sich schon finden, inschallah. Das Taxi fädelte sich in den Verkehr auf einer breiten Straße ein. Alle möglichen Gefährte waren unterwegs, fabrikneue Autos, Schrottkarren und Pferdewägen. Bei den Bussen drängten sich junge Männer auf den Trittbrettern der Vordertüren, die auch während der Fahrt offen standen. Sie rauchten, gestikulierten mit den Armen und riefen einander etwas zu. Wir erreichten einen Kreisverkehr, dessen Bordsteine rot-weiß-rot gestrichen waren. Zwischen den Palmen schaukelten wieder die Flaggen, grün-weiß mit der roten Mondsichel und dem roten Stern. Wir bogen ein in eine etwas schmalere Straße, und ich erwartete, dass wir ins Stadtzentrum, Richtung Meer fahren würden. Doch unseren Weg säumte kein innerstädtisches Gassengewirr, sondern Brachland, auf dem wie ziellos hingewürfelt sandsteinfarbene Wohnblöcke standen. Von den Balkonen winkten bunte Laken, von den Laternenpfählen die Fahnen. Wir passierten einen großen, graubraunen Gebäudekomplex. Viele, zumeist junge Menschen standen vor den Gittertoren, lachten und unterhielten sich. Ein paar Meter weiter bog das Taxi auf eine unbefestigte Straße ein, die geradewegs zu einer der sandsteinfarbenen Wohnanlagen führte. Das Fahrzeug hielt, wir stiegen aus. Mayya führte mich durch das Häuserlabyrinth, vorbei an den bunt bemalten, mit großen arabischen Schriftzeichen versehenen Fassaden der Gassenlokale, vor denen sich Obstkörbe, Wasser- und Limonadenflaschen stapelten, vorbei an den schattigen Eingängen, die in den hellen Tag hineingähnten, sie führte mich zwischen den Wohnblocks hindurch, auf halb betonierten Wegen, auf denen Kinder hüpften und Ball spielten, um dunkle Ecken herum, in denen junge Männer standen und rauchten, bis wir schließlich in eines der Häuser hineingingen, die Treppen hochstiegen und vor einer Tür stehen blieben. Mayya nestelte aus ihrer Tasche drei Schlüssel. Es dauerte einen Moment, bis sie die Wohnungstür geöffnet hatte. Etwas unbeholfen stand ich im Vorraum, während Mayya geschäftig von einem Zimmer ins nächste eilte. An den Garderobenhaken hingen ein Staubmantel und Kinderjacken, Wollmützen und verschiedenfarbige Schals stapelten sich auf der Ablage. »Tu veux du café?«, frage mich Mayya im Vorübergehen. Ich nickte und folgte ihr in die Küche. In eine blecherne Kanne goss sie Wasser aus einem der großen Kanister, die bei der Spüle standen, schüttete Kaffee hinein und rührte um. Sie stellte die Kanne auf den blau-weißen Feuerkranz, den sie zuvor mit einem Streichholz entfacht hatte. Ich nahm an dem kleinen, gelb lackierten Tisch Platz und ließ meine Blicke über die Zeitungen schweifen, die darauf lagen. Von den Titelseiten strahlten mir die rote Mondsichel mit dem roten Stern auf grün-weißem Hintergrund entgegen. Schwarz-Weiß-Fotos umrankten die Fahnen. Auf manchen waren Männer mit Militärkappen zu sehen, auf einem anderen zwei Kinder und eine Frau mit weißem Schleier, die eine Hauswand entlanggingen, auf die »Un seul héros le peuple«, »Ein einziger Held, das Volk« gepinselt worden war. Wieder andere zeigten jubelnde Menschen, die Fahnen schwangen. Mit dem Zeigefinger fuhr ich die arabischen Schlagzeilen nach, zuerst verkehrt, in gewohnter Weise von links nach rechts, bis mir einfiel, dass diese Schrift andersherum verlief. Ich verstand nicht nur kein Wort, ich konnte auch kein einziges lesen. Die französischsprachigen Schlagzeilen klärten mich zumindest darüber auf, dass die Titelseiten dem »50ème anniversaire de la Guerre d’indépendance« gewidmet waren, dem fünfzigsten Jahrestag des Unabhängigkeitskrieges. Ich wusste zwar, dass Algerien eine französische Kolonie gewesen war, dass auch deshalb so viele Menschen sich von hier aufgemacht hatten, um in Marseille ein besseres Leben zu finden. Ich hatte mir aber bislang keine Gedanken darüber gemacht, wie die Kolonialzeit beendet worden war. In Marseille...