Schönthaler | Das Schiff das singend zieht auf seiner Bahn | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 334 Seiten

Schönthaler Das Schiff das singend zieht auf seiner Bahn


1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-88221-167-2
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 334 Seiten

ISBN: 978-3-88221-167-2
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die Protagonisten des Debutromans von Philipp Schönthaler stellen sich den Herausforderungen, den Ansprüchen und Zumutungen unserer alltäglichen Arbeits- und Lebenswelten. Jeder Tag ist ein Kampf um optimiertes Aussehen, optimierte Arbeitsziele, optimierte Arbeitsplätze, optimierte Berufseinstellungen. Soll man nun daran scheitern oder darüber lachen? Schönthaler entscheidet sich in diesem außergewöhnlichen Roman für den feinen, leise ironischen Blick, den sanften und liebevollen Spott, geleitet von Neugier und Faszination, von Zuneigung und Verständnis. Offen bleibt nach der Lektüre, ob wir auf die Menschen in den Verhältnissen um uns oder ob wir bloß in einen Spiegel geschaut haben. 'Antiromantisches Erzählen auf der Höhe der Zeit.' - aus der Begründung für den Clemens-Brentano-Preis 2013

Philipp Schönthaler, 1976 in Stuttgart geboren, erhielt 2012 für sein Erzähldebüt Nach oben ist das Leben offen den Clemens-Brentano-Preis. Bei Matthes & Seitz Berlin sind bisher fünf Bücher erschienen, der Essay Portrait des Managers als junger Autor wurde 2016 mit dem Preis des Stuttgarter Wirtschaftsclubs ausgezeichnet. Sein Roman Der Weg aller Wellen. Leben und Dienste II setzt die im Erzählband Vor Anbruch der Morgenröte. Leben und Dienste I (2017) begonnene Auseinandersetzung mit der Technologie fort. Er lebt in Berlin.

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SMAART LÄSST IHREN auf dem Kissen lagernden Kopf – erschrocken über die dumpfe Finsternis trotz ihres weit geöffneten Auges – in sämtliche Richtungen kreisen, zwinkert, bevor sie verdrossen aufstöhnt, die Augenmaske von ihrem Kopf streift. Sie trägt gewöhnlich keine Schlafbrille und kann sich nicht daran erinnern, sie gestern Abend angelegt zu haben. Sie hebt ihren Kopf, ihr Auge scannt für einige Momente die fremde Umgebung, bleibt rätselnd an Decke und Wänden kleben, helle Sonnenstrahlen zwängen sich durch zwei geschmackvolle Gardinen. Überhaupt ist das Zimmer äußerst gemütlich eingerichtet, sinniert Smaart, lässt ihren Kopf zurück auf das Kissen sinken, schließt erneut die Augen – Nach der Irritation, die die Augenmaske ausgelöst hat, muss sie unwillkürlich an die Bilder eines wiederkehrenden Alptraums denken, der sie seit ihrer Kindheit verfolgt. Sie erwacht morgens, öffnet die Augen – und alles bleibt schwarz. Sie ist plötzlich blind. Auch ihr zweites Auge ist ihr aufgrund eines Missgeschicks, das sie zu rekonstruieren sucht, abhanden gekommen. Von einer panischen Angst ergriffen begibt sie sich auf die Suche, die sie an verschiedene Orte führt, die Träume enden stets im Unglück. Mal irrt sie durch große, baufällige Gebäudekomplexe mit windigen Korridoren und zerborstenen Glasscheiben, im Rohbau befindliche Schlaf- und Badezimmer, wo sie Zeugin wird, wie ihr Augenball in dem Moment, als sie von einer bestimmten Ahnung getrieben an eine Kloschüssel herantritt, von einer selbsttätigen Spülung in die Tiefe gerissen wird. Sie stürzt auf die Knie, ihre Fingerspitzen berühren den Augapfel, aber anstatt ihn zu fassen, stößt sie das Organ endgültig in die Tiefe. Ein anderes Mal sitzt sie an einer großen Tafel, blind, und doch hat sie plötzlich die Gewissheit, dass ihr Sehapparat in die dampfende Kasserolle gefallen ist, aus der sie soeben inmitten einer weitgehend fremden, irgendwie feierlichen Gesellschaft speist. Genau in diesem Moment spürt sie – als sei sie noch immer auf mysteriöse Weise mit ihrem Organ verbunden –, dass einer der Männer neben ihr das Auge auf seinem Suppenlöffel vorsichtig zum Mund führt. Bevor sie reagieren kann, schließt sich die dichte Reihe tabakbrauner Herrenzähne knackend um die gallertartige Masse, beißt zu. Der Mann flucht, spuckt den Bissen postwendend aus. Smaart zuckt zusammen, wagt jedoch nicht, sich zu erkennen zu geben. Smaart streift sich die Haare aus der Stirn, in letzter Zeit erlebt sie es öfter, dass sie morgens in einem Hotel erwacht und in den ersten Sekunden nicht sagen kann, wo sie ist, nur diese primitive Form eines Seinsgefühls, das ein Tier im Inneren verspüren mag: Erst mit der Erinnerung stellt sich die Orientierung ein. Eigentlich will Smaart ihre Außeneinsätze schon seit Längerem auf ein erträgliches Maß reduzieren, im Grunde hat sie es mittlerweile als Partnerin bei Rickert & Grünwald selbst in der Hand. Aber aus unerfindlichen Gründen schafft sie es nicht, ihren Rhythmus zu drosseln, meist ist sie nach wie vor vier Tage in der Woche unterwegs, arbeitet 14 bis 16 Stunden – als ihr Blick plötzlich auf die unscheinbare Wanduhr fällt und sie jäh aus ihren Gedanken reißt, sie schlagartig ihre Beherrschung verlieren lässt. Smaart springt fluchend auf, ein Schwarm farbiger Elektroden, zuvor auf Kopfhaut, Kinn und auf die Unterschenkel geklebt, wirbelt mit flaumigen Härchen gesäumt durch die Luft, ihr nach vorne schnellender Zeigefinger, der in einer verkabelten Plastikklemme steckt, lässt ein (dem dumpfen Aufprall nach zu urteilen gewichtiges) Gerät in ihrem Rücken zu Boden gehen. Ihr Bein verfängt sich im Laken, zwingt sie, kaum steht sie, wieder frontalgesichtig auf die Matratze, was sie im zweiten Anlauf nur noch energischer in die Höhe schnellen lässt. Diesmal befreit sie sich mit einem heftigen Armschwung von ihrer Fingerklemme, von zwei um ihren Oberkörper geschlungenen Gürtelbändern, ihre Brust blitzt aus dem derangierten Nachtkleid, sie tritt vom Bettgestell und direkt in die gefüllte Bettpfanne, hält sich jedoch schlingernd auf den Beinen, stürmt mit uringlitschigen Fußsohlen hinaus auf den Flur. Esser sitzt nur drei Türen weiter im Kontrollraum, bekommt von dem Tumult, der für Sekunden über den Monitor wirbelt, nichts mit, versunken in den vertrackten Kehrreim eines Vierzeilers. In nur einer Woche muss der Burschenschaftler und freie Mitarbeiter der BBl, Burschenschaftliche Blätter, beim Jahrestreffen des Dachverbands einen Toast auf die Frauen halten. Der Programmpunkt Lob auf die Frauen wird noch immer als der inoffizielle Programmhöhepunkt der Burschenschaftsfeier gehandelt und langsam schlägt der Stolz über die Auszeichnung, diese Rede halten zu dürfen, um und lässt nur das flaue Gefühl des diffusen Erwartungsdrucks im transversalen Kolon der studentisch-medizinischen Hilfskraft zurück. Zudem geht Esser partout eine bestimmte Frau nicht aus dem Kopf, von der er schon die ganze Nacht zu abstrahieren sucht. Dann projiziert er wieder abstraktes Gedankengut auf die Unbekannte, um dem Topos seiner Rede Fleisch auf die Knochen zu geben. Er befindet sich im Grunde noch im ersten Stadium seiner Arbeit, der inventio, damit beschäftigt, Material und Anregungen aus einem Stapel von Büchern zu sammeln, darunter Dantes Vita Nova in einer zweisprachigen Ausgabe, Thea Dorn: Die deutsche Seele, Moritz Freiherr Knigge: Spielregeln. Wie wir miteinander umgehen sollten, Ursula Frank: Deutsche Liebeslyrik, Brigitte Nagiller: Klasse mit Knigge. Stilsicher in allen Lebenslagen und Harenbergs Lexikon der Sprichwörter & Zitate. Obwohl er die inventio noch nicht abgeschlossen hat, versucht er ungeduldig vorab einige Verse zu schmieden, ist bisher jedoch nicht über wenige Zeilen hinausgelangt. Die meiste Zeit hat er darauf verwendet, auf einem der Kontrollmonitore die archivierte Videoaufzeichnung eben jener Patientin Jana A. anzusehen, die vor gut drei Wochen im Schlaflabor nächtigte, als er Nachtdienst leistete – aus Zufall (er hat eher das Wort Fügung im Sinn) war er damals kurzfristig für einen Kollegen eingesprungen, um dessen Schicht zu übernehmen. Inzwischen hat er eine Kopie des Schlafvideos angefertigt, volle sieben Stunden und 53 Minuten ist die Aufzeichnung lang, in der Jana die meiste Zeit in Löffelstellung mit angezogenen Beinen auf ihrer rechten Seite liegt. Nur anfangs ist sie für 21 Minuten in Rückenlage zu sehen, der Kopf seitlich abgewandt, sodass bis auf ein undifferenziertes Haarknäuel, zudem vereinzelt Kabel, die von dem schräg gelegten Kopf zu den Geräten hinter dem Kopfende des Bettgestells führen, kaum etwas unter der weißen Steppbettdecke zu identifizieren ist. Anfangs erzittert die Bettdecke als die Muskeln in der Einschlafphase in einem wohligen Schauder zucken, bevor Jana in Schlafphase 2 sinkt. Der EEG-Monitor zeichnet für Sekunden Schlafspindeln. Ausgehend vom Mittelhirn breitet sich ein winziger, von Nervenzelle zu Nervenzelle weitergeleiteter Erregungsschauer über das gesamte Gehirn aus. Nach 43 Minuten sinkt Jana in Schlafphase 3 und nur wenige Minuten später in Phase 4, Deltaschlaf, dass EEG zeichnet dichte, zackige Wellen, die ein wenig an den Performanceindex des DAX-Kurses während eines belebten Börsenjahres erinnern. Bei einer Stunde 32 Minuten folgt ein Arousal und Jana wälzt sich auf die linke Seite in eine Art Toter-Köter-Position, aus der sie acht Minuten später ein pavor nocturnus aufschreckt; sie schreit auf, blickt erschrocken um sich, beruhigt sich und bettet sich in eine rechtsseitige Löffelstellung. Hier muss Esser unwillkürlich an den oft zitierten Satz seines Chefs, Prof. Dr. Dr. Wiglaf Jünger, denken, dass der Schlaf eine hochsubjektive Lebens- und Ausdrucksform darstelle. Bei drei Stunden zwölf Minuten wendet sich Jana schließlich auf den Rücken, ihr abgeklärtes Gesicht im REM-Schlaf nahezu frontal unter dem schwarzen Auge der unter der Decke installierten Infrarotkamera: Hals, Schlüsselbein und ein Brustansatz der Patientin sind nun mehr oder weniger deutlich in der grobkörnigen Infrarot-Aufzeichnung sichtbar, der Brustkorb wölbt und senkt sich gerade wahrnehmbar, ihr Arm, der unter der Steppdecke auf dem Bauch aufliegt, verschwindet unkenntlich zwischen den Beinen. Dieser Moment ist Esser tatsächlich in die Eingeweide gefahren, den er in jener Nacht unter dem Einfluss einer spontan einsetzenden Oxytocin- und Vasopressin-Ausschüttung sogleich in seinem Moleskin-Heft notiert, während im Lautsprecher erste Schnarchgeräusche einsetzen, die langsam und gleichmäßig anschwellen und abklingen – bevor sie plötzlich aussetzen. Eine klassische Apnoe, die sich in diesem Fall direkt in den Kontrollraum überträgt, in dem Esser mit periodisch angehaltenem Atem kauert, sein Ohr auf den Lautsprecher ausgerichtet, bis das einsetzende Atemgeräusch aus dem Lautsprecher auch ihn wieder erleichtert aufatmen lässt. Von einer unbestimmten Ahnung geleitet wirft er jetzt einen Blick auf Monitor sieben, auf dem nur ein leeres, zerwühltes Bett zu sehen ist. Ein zweiter Blick auf den dazugehörigen Computermonitor zeigt nichts als eine Reihe flacher Linien: EEG, EOG, EMG, EKG, Luftfluss und Thorax: Alles tot. Hektisch lässt Esser seine Mahlzeit in einer Papiertüte verschwinden, sammelt seine Notizen und Bücher zusammen, fegt Salzstangenkrümel einschließlich zweier bis auf den Stumpf heruntergebrannter Zigaretten mit dem Handballen zusammen, zerdrückt eine Bierdose und feuert wild einige Spritzer Raumfrischer in die Luft. Von der Befürchtung erfasst, etwas gewaltig versaubeutelt zu haben, piepst er Jünger an. Anschließend erhebt er sich, geht an...


Schönthaler, Philipp
Philipp Schönthaler, 1976 in Stuttgart geboren, erhielt 2012 für sein Erzähldebüt Nach oben ist das Leben offen den Clemens-Brentano-Preis. Bei Matthes & Seitz Berlin sind bisher fünf Bücher erschienen, der Essay Portrait des Managers als junger Autor wurde 2016 mit dem Preis des Stuttgarter Wirtschaftsclubs ausgezeichnet. Sein Roman Der Weg aller Wellen. Leben und Dienste II setzt die im Erzählband Vor Anbruch der Morgenröte. Leben und Dienste I (2017) begonnene Auseinandersetzung mit der Technologie fort. Er lebt in Berlin.

Philipp Schönthaler, 1976 in Stuttgart geboren, erhielt 2012 für sein Erzähldebüt Nach oben ist das Leben offen den Clemens-Brentano-Preis. Bei Matthes & Seitz Berlin sind bisher fünf Bücher erschienen, der Essay Portrait des Managers als junger Autor wurde 2016 mit dem Preis des Stuttgarter Wirtschaftsclubs ausgezeichnet. Sein Roman Der Weg aller Wellen. Leben und Dienste II setzt die im Erzählband Vor Anbruch der Morgenröte. Leben und Dienste I (2017) begonnene Auseinandersetzung mit der Technologie fort. Er lebt in Berlin.



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