E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Schoder Immer ist ein verdammt langes Wort
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7336-5171-8
Verlag: Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-7336-5171-8
Verlag: Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sabine Schoder, Jahrgang 1982, hat Grafikdesign in Wien studiert und sich dort Hals über Kopf verliebt. Heute lebt sie mit ihrem Mann in Vorarlberg und widmet sich nach dem Erfolg ihres Jugendromans ?Liebe ist was für Idioten. Wie mich.? hauptberuflich dem Schreiben. Literaturpreise: ?Immer ist ein verdammt langes Wort? - Delia Jugendliteraturpreis 2021 ?Liebe ist was für Idioten. Wie mich.? - Nominiert für den Buxtehuder Bullen
Autoren/Hrsg.
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Bevor ich dich treffe
»Du willst doch nicht etwa da runterspringen, Knastschwester?«
Die Stimme einer Frau reißt mich aus meinen Gedanken. Ich öffne die Augen und blinzle ins makellose Blau des Himmels über mir. Der warme Sommerwind muss mir schon eine ganze Weile ins Gesicht wehen, aber erst jetzt wird mir das zarte Gefühl auf meiner Haut bewusst. Als ich den Kopf senke, höre ich das protestierende Knirschen meiner Wirbelsäule. Keine Ahnung, wie lange ich in die Luft gestarrt habe. Um genau zu sein, weiß ich nicht mal, seit wann ich hier draußen auf dem Balkon des Krankenhauses stehe.
Meine Hände klammern sich um das Geländer, doch meine nackten Füße balancieren lebensmüde auf der untersten Sprosse. So als hätte mich tatsächlich die Versuchung gestreift, dieses Gefängnis auf die schnellste Art und Weise zu verlassen, die es gibt. Was für unsinnige Gedanken. In letzter Zeit weiß ich nicht, woher die kommen.
»Nur zu deiner Information, es sind keine fünf Meter bis zum Boden.« Die Frau tritt aus dem Schatten der Tür und fummelt eine Packung Nikotinkaugummi aus ihrem weißen Arztkittel. »Die Ziersträucher fangen das Schlimmste ab. Außerdem landest du direkt vor den Fenstern der Notaufnahme. Die hätten dich da unten in Nullkommanix wieder zusammengeflickt.«
Ein schiefes Lächeln zieht an meinem Mund. »Und ich dachte, ich könnte dem Abendessen entkommen.«
Sie brummt verständnisvoll und beugt sich so weit übers Balkongeländer, als würde sie ihre eigene Empfehlung nochmals überdenken. »Ich arbeite seit fünfundzwanzig Jahren hier und habe den Fraß immer überlebt. Auch wenn ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben habe, irgendwann an einer Rasierklinge im Kartoffelbrei zu ersticken. Verrat es keinem.«
Ich weiß nicht, ob sie mit ihrer letzten Bemerkung den mörderischen Kartoffelbrei meint – oder die Zigarette, die sie verstohlen aus der Kaugummiverpackung zieht. Ohne mit der Wimper zu zucken, steckt sie sich den Glimmstängel an und bläst den Rauch weit hinaus in den strahlend schönen Nachmittag. Für einige Sekunden gibt sie sich einem genüsslichen Lächeln auf ihrem Gesicht hin.
Ich hebe eine Augenbraue. »Versuchen Sie, sich das Kaugummikauen abzugewöhnen?«
Sie schnaubt amüsiert. »Noch so ein Kommentar und ich ziehe deine lang ersehnte Entlassung wieder zurück, klar? Du hast dich tapfer geschlagen in den letzten Monaten. Ich werde dich vermissen, Kleine.«
Ich betrachte meine Hände. Die weiße Haut, die zu lange in einem Zimmer eingesperrt war. Sie ist so blass, dass selbst die schwächer werdende Augustsonne einen roten Schimmer darauf hinterlassen hat. »Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich hoffe, dass ich Sie nie wiedersehe.«
Die Ärztin lacht und drückt ihre halbgerauchte Zigarette sorgfältig auf dem Metallgeländer aus, um sie wieder in der Packung verschwinden zu lassen. Als sie sich zur Tür dreht, streift ihr Blick meinen Körper auf eine Art und Weise, an die ich mich nie so richtig gewöhnen konnte. Etwas in ihrem Ausdruck ist immer auf der Suche nach Komplikationen. Nach einem Grund, mich noch weiter hier festzuhalten.
Ich wende das Gesicht ab, als hätte ich ein schlechtes Gewissen, als wüsste ich insgeheim, dass ich meine Zeit hier noch nicht abgesessen habe. Aber das ist völliger Unsinn. Das Flattern in meinem Magen stammt bloß von meinen Nerven. Nächste Woche fängt mein Leben noch einmal von neuem an. Wer wäre da nicht aufgeregt?
Sie zögert auf der Türschwelle. »Geht’s dir gut?«
Ich hebe den Kopf und lasse mein Lächeln heller als die Sonne strahlen. »Es könnte nicht besser sein.«
»Rena? Bist du wach?«
Die Worte meiner Mutter flattern an mein Ohr, zart und unsicher, als wären sie soeben frisch geschlüpft. Tageslicht flutet meine Augen und gießt meine Mutter in eine Form aus hellen Farben. Sie sieht wie eine Pusteblume aus, die über mir im Wind schwankt. Das blonde Haar spinnt eine leichte Wolke um ihren Kopf, und ihre dünnen Finger schweben in der Luft, als hätte sie mich eben noch berühren wollen.
Jetzt schon«, brumme ich schlaftrunken.
»Entschuldige, dass ich dich geweckt habe, aber du warst so …
»Ich habe bloß geträumt.« Meine Stimme hört sich noch immer ungewohnt an. Als hätte sie jemand auf ein altes Tonband aufgenommen und würde sie an meinem Ohr abspielen. In den letzten Wochen habe ich sie einfach zu wenig benutzt. Um genau zu sein, habe ich vier Monate lang geschwiegen. Wenn auch unfreiwillig.
»Geträumt? Mit offenen Augen?«
Ich setze mich auf und streiche mir verschwitzte Haare aus dem Gesicht. Meine Bettdecke ist so zerwühlt, als hätte ich den Nachmittag damit verbracht, mich auf der Matratze hin und her zu wälzen. Jetzt schimmert die Abendsonne durch die Fensterscheiben und taucht das Krankenzimmer in ein orangerotes Licht.
Noch immer stecke ich im Nachhall dieses Traumes fest, der viel zu schnell durch meine Finger gleitet. Die leuchtendgrünen Bilder zerfließen vor meinem inneren Auge, bevor ich sie mir genauer ansehen kann, und hinterlassen ein vages Gefühl von Sehnsucht in meiner Brust.
»Ich habe vom Sommer geträumt«, murmle ich, »bevor er endgültig vorbei ist. Wenn ich nächste Woche entlassen werde, ist es schon September.«
Die Pusteblume schrumpft über mir zusammen. Meine Worte sinken auf ihre schmalen Schultern, zu all den anderen unsichtbaren Sorgen, die sich dort seit meinem Unfall auftürmen. Ehe ich fragen kann, was sie so bekümmert, erregt etwas anderes meine Aufmerksamkeit. In ihrer linken Hand, halb versteckt hinter dem Rücken, blitzt ein Stück weißes Papier hervor.
»Ist das für mich?« Ich strecke meine Hand aus, aber Mama weicht sofort zurück. Sie stolpert über meine Pantoffeln und stößt an das zweite Krankenbett im Zimmer, das seit gestern verlassen ist. Der Haltegriff schaukelt hinter ihrem Kopf, als würde er mir zuwinken und rufen:
Mama zerknittert unter meinem Blick.
Ich ziehe die Hand zurück.
Schuldgefühle pochen in meinem Magen. Mein Unfall ist der Grund, warum sie sich Tag für Tag aus ihrer vertrauten Umgebung wagt. Warum sie sich diesem Monster stellt, einem öffentlichen Krankenhaus, das an jeder Ecke mit einer unerwarteten Situation auf sie lauert. Ich habe ihr mehr als nur einmal angeboten, dass sie nicht so oft herkommen muss, trotzdem ließ sie sich nicht davon abbringen. Wir können uns vielleicht nicht gegenseitig in den Arm nehmen, wie es in anderen Familien üblich ist, aber wir haben über die Jahre hinweg unseren eigenen Code der Zuneigung entwickelt. Sie ist hier. Und das bedeutet mir eine Menge.
Ihre schmalen Hände beben, als sie die Papiere hinter dem Rücken hervorzieht und gegen ihre Brust drückt. »Daniel hat sie mir ausgedruckt.«
Die bloße Erwähnung meines Onkels spritzt mir eine Dosis Wundstarrkrampf unter die Haut. Meine Muskeln versteinern an Ort und Stelle, ohne dass ich etwas dagegen unternehmen könnte. Nur mit Mühen stoße ich hervor: »Was will er von dir?«
»Du wirst doch bald entlassen …«
Ich schlucke einen harten Kloß im Hals. »Und was hat das mit ihm zu tun?«
Einen Moment lang betrachtet Mama die Ausdrucke. Dann streckt sie mir die Papiere entgegen, zögernd, als müsste sie einen Fleischkloß durch die Gitterstäbe eines Raubtierkäfigs halten.
Ich schlage die Bettdecke zur Seite und will aufstehen, so als wäre nie etwas geschehen. Doch kaum mache ich den ersten Schritt, stößt der Schmerz wie ein Eispickel in meinen Rücken. Keine Ahnung, wie lange ich geschlafen habe, jedenfalls hat die Zeit ausgereicht, um die Geschmeidigkeit der Physiotherapie von heute Morgen verpuffen zu lassen. Jetzt spüre ich jede Muskelfaser, die um meine neue künstliche Hüfte schleift.
Ein einziger Schritt, dann klatscht meine Hand auf den Nachttisch. Ich muss innehalten, um durchzuatmen.
»Brauchst du deine Krücken?«
»Nein! … Ich meine, nein, danke.« Ich beiße die Zähne aufeinander und zwinge meine Mundwinkel nach oben. »Es wird nur besser, wenn ich meine Muskeln trainiere. Darf ich mal sehen?«
Mama hält mir die Blätter entgegen, doch kaum schließen sich meine Finger darum, zieht sie sich wieder zurück. Für eine Millisekunde berührt ihr Hintern das andere Bett, dann streicht sie hastig die Decke glatt und setzt sich an den Tisch an der Wand.
Ich lehne mich gegen die Matratze und stelle mich den Ausdrucken.
Es gibt einige Dinge, die ich meinem Onkel zutrauen würde. Zum Beispiel, meine Zeit hier im Krankenhaus zu nutzen, um sich unser sämtliches Hab und Gut unter den Nagel zu reißen. Hiermit allerdings habe ich nicht gerechnet. Rasch überfliege ich die Zettel, die alle nach dem gleichen Schema aufgebaut sind: das Foto einer Wohnung und darunter die Eckdaten der Immobilie.
Ich blicke über den Papierrand und begegne den aufgerissenen Augen meiner Mutter. »Was sind das für Wohnungen?«
»Die wären günstig«, murmelt sie.
Einen Moment lang weiß ich...