Erinnerungen. Mitarbeit und Vorwort von Petra Hartlieb
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-903217-77-5
Verlag: Amalthea Signum
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Michael Schnitzler, geboren 1944 in Berkeley/USA als Enkel von Arthur Schnitzler. Er war 50 Jahre lang als Konzertmeister (Wiener Symphoniker), Violinprofessor und Kammermusiker (Haydn-Trio Wien) tätig und widmet sich seit 1989 dem Schutz des Regenwaldes in seiner zweiten Heimat Costa Rica.
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Haydns Kaiserquartett zum Abschied
Am 13. März 1938, dem Tag des sogenannten »Anschlusses« und einen Tag nach dem Einmarsch von Hitlers Truppen, verließ eine junge Frau Österreich. Offiziell besuchte sie ihren Ehemann, der sich beruflich als Filmregisseur in Belgien aufhielt, deswegen besaß sie ein gültiges Ausreisevisum. Sie reiste mit wenig Gepäck – nur eine kleine Reisetasche und einen Geigenkasten trug sie bei sich. Auf der Suche nach Schmuck oder Geld schlitzten die SS-Soldaten am Grenzübergang Feldkirch das Futter des Geigenkastens auf, nicht ahnend, dass das Instrument wertvoller war als das Haus in Wien, das die Frau gerade verlassen musste. Alle anderen jüdischen Insassen des Waggons wurden abgewiesen und nach Wien zurückgeschickt, die junge Frau durfte passieren. Die Violine hatte einst mein Großvater Siegfried Strakosch in Brünn gekauft, die junge Frau war seine Tochter, meine Mutter. In ihren Erinnerungen schrieb sie: »An dem Abend des 11. März spielten wir Quartett bei meiner Mutter. Sie kam plötzlich hereingestürzt und erzählte uns, sie hätte gerade Schuschniggs Abschiedsrede im Radio gehört. Unser Schock war unglaublich. Wir entschlossen uns, als Abschied, Haydns Kaiserquartett zu spielen. Später wurde unsere zweite Geigerin in einem Konzentrationslager ermordet.« Meiner Mutter war rasch klar, dass sie das Land verlassen musste. Doch es gab ein großes Problem: Ihr elf Monate alter Sohn, mein Bruder Peter, war nicht in ihrem Pass eingetragen, er konnte keine Grenze passieren. So musste er in der Obhut des Dienstmädchens Poldi in Wien zurückgelassen werden. Der Familienanwalt Dr. Gustav Rinesch, der sich selbst als »Renommier-Goi unter vielen Judenfreunden« bezeichnete, konnte bewirken, dass der kleine Peter einen Pass bekam, bewilligt für die »einmalige Ausreise nach Schweiz und Rückreise Deutsche Reich (sic!)«. Unter dem Foto von Peter befanden sich gleich zwei Hakenkreuzstempel. Peters Reisepass mit Hakenkreuzstempeln Und so brachte das nichtjüdische Dienstmädchen Poldi gemeinsam mit Felix Saltens Tochter Anna den kleinen Peter in die Schweiz. Annerl – so nannten sie ihre Freunde – war seit ihrer Hochzeit mit Beat Wyler Schweizer Staatsbürgerin und konnte damals trotz ihrer Herkunft unbehindert zwischen Zürich und Wien pendeln. Am 1. Juni durften meine Eltern Lilly und Heinrich Schnitzler ihren kleinen Sohn wieder in die Arme nehmen. Wohlhabende Schweizer Freunde haben sie in ihrem Haus am Thunersee untergebracht, wo sie auf ein Einreisevisum in die USA warteten. Doch diese Monate des Zurückgelassenseins beschäftigten meinen Bruder sein ganzes Leben lang, und auch meine Mutter machte sich bis ins hohe Alter Vorwürfe, ihr Baby im Stich gelassen zu haben. Heinrich, Arthur und Olga Schnitzler, 1906 Meine Familie hatte Riesenglück. Mein Vater hätte ohnehin seinen Job als Regisseur am Deutschen Volkstheater in Wien, den er seit 1931 innehatte, verloren. Einen Monat nach dem »Anschluss« verfügte das Reichspropagandaamt der NSDAP in Österreich: »Die Fortsetzung eines Dienstverhältnisses mit einem Juden kann heute keinem Deutschen mehr zugemutet werden. Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen Volljuden sind, sind nunmehr fristlos zu kündigen, etwaige Gehaltszahlungen können unterbleiben.« Im April 1941 wurde »das gesamte stehende und liegende Vermögen sowie alle Rechte und Ansprüche des Heinrich Israel Schnitzler, dessen Ehefrau Lily Sara und dessen Kind Peter Israel aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung mit dem Ziele der späteren Einziehung zu Gunsten des Dritten Reiches beschlagnahmt« (Verfügung Nr. 2123/41 der Gestapo Wien). Meine Großeltern lebten im großbürgerlichen jüdischen Wien der Jahrhundertwende. Arthur Schnitzler promovierte zum Dr. med. und arbeitete als Arzt in der eigenen Praxis, bevor er sich verstärkt der Schriftstellerei zuwandte und zu einem der berühmtesten Dramatiker Österreichs wurde. Nur wenige wissen, dass er auch ein erstklassiger Pianist war und jahrzehntelang fast täglich mit seiner Mutter, später mit meinem Vater, anspruchsvolle Werke vierhändig vom Blatt spielte. Georg, Hans, Lilly, Christl und Wally Strakosch, 1915 Der Vater meiner Mutter, Siegfried Strakosch, spielte immerhin so gut Geige, dass er sich eine wertvolle Violine von Joseph Guarnerius del Gesù kaufte und öffentliche Konzerte gab. In der Kritik eines Konzertes 1890 in Brünn kann man nachlesen: »Herr Strakosch spielte mit sehr schönem warmen Ton und brillanter Technik. Wir haben es hier zweifellos mit einem sehr begabten Violonisten zu thun, von dem noch sehr viel Schönes zu erwarten ist.« Er entschied sich dennoch gegen eine Karriere als Geiger und wurde Industrieller, Landwirt, Autor von Fachbüchern und Wirtschaftspolitiker. Im Jahr 1913 wurde er zum Ehrendoktor der Hochschule für Bodenkultur ernannt. Kaiser Franz Joseph erhob ihn im gleichen Jahr in den erblichen Adelsstand »von Feldringen«. Zwar wurde mein Großvater Arthur Schnitzler berühmt, doch auch der andere Großvater war begabt und erfolgreich, so konnten sich beide den Kauf einer Villa im vornehmen Cottage-Viertel von Wien leisten. Und obwohl meine Großeltern nur einige Häuser voneinander entfernt in der Sternwartestraße wohnten, kannten sie einander nur flüchtig. Den Dichter und den Agrarökonomen verband nicht viel, doch es gab zwei gemeinsame Nenner: die Musik und die Natur. Beide Großeltern liebten die Berge, unternahmen Spaziergänge im Wienerwald und Wanderurlaube in den Schweizer Alpen. Dieser Funken sprang auf meine Eltern über, und so war es wohl auch ein wenig vorbestimmt, dass ich Musiker und Naturschützer geworden bin. 1931 lernten sich meine Eltern kennen. Meine Mutter schrieb in ihren Erinnerungen: »Neujahr 1931 war mein Schicksalsjahr, da traf ich Heini zum ersten Mal bei einer großen Neujahrsfeier bei Salten. Heini versuchte den ganzen Abend mit mir zu sprechen, was ihm aber nicht gelang. Außerdem hatte ich ein grünes Kleid an, was Heini mir noch viele Jahre später vorwarf. Er hasste grün. Einige Abende später kam Heini gerade mit seinem Auto von der Probe. Er blieb stehen, um mit mir über meine unbegabte Freundin Susi zu sprechen. Es schneite wie wild. Wir kamen ins Gespräch, es dauerte eine Stunde und am Schluss lud er mich ein, in den nächsten Tagen zu ihm zu kommen, um zu musizieren. Er war ein sehr guter Pianist. Und so fing es an.« Der Dichtersohn, Schauspieler und Theaterregisseur Heinrich Schnitzler und die neun Jahre jüngere, wohlbehütete Industriellentochter Lilly von Strakosch verliebten sich ineinander. Ihre Väter waren beide Anfang der 30er-Jahre gestorben. Mein Vater war nach einigen Jahren in Berlin und einer kurzen, unglücklichen Ehe nach Wien zurückgekehrt, meine Mutter war sehr musikalisch, bildhübsch, aber schüchtern. Bei langen Spaziergängen im Türkenschanzpark, Konzert- und Theaterbesuchen kamen sie einander näher. Als sie 1934 schließlich heirateten, war meine Mutter knapp 24 Jahre alt und ihr Leben veränderte sich schlagartig. Lilly und Heinrich Schnitzler, 1934 In ihrem bisherigen Alltag hatte es eine englische Gouvernante gegeben, einen Chauffeur namens Richard Wagner, einen Butler, eine Köchin und ein Dienstmädchen. Noch nie hatte sie eine Mahlzeit selbst zubereiten müssen. Bei ihrem ersten Kochversuch warf sie gleich ein Kilo Nudeln in den Topf und wunderte sich, dass dieser überquoll. Nach der Hochzeit zogen meine Eltern in die Villa, die mein Großvater Arthur 1910 gekauft hatte: Sternwartestraße 71, Wien-Währing. In diesem Haus lebte mein Großvater bis zu seinem Tod 1931, und in seinem Arbeitszimmer befand sich auch sein gesamter Nachlass – Manuskripte, Briefe, Skizzen, Tagebücher. Als meine Eltern quasi über Nacht fliehen mussten, ließen sie ihren gesamten Besitz zurück. Dass der wertvolle Nachlass meines Großvaters nicht den Nazis zum Opfer fiel, ist einem Studenten aus Cambridge zu verdanken. Eric Blackall, der sich 1938 in Wien aufhielt, um an seiner Dissertation über Adalbert Stifter zu arbeiten, erkannte die Gefahr und erreichte, dass das Arbeitszimmer meines Großvaters mit dem britischen Hoheitszeichen versiegelt und der Nachlass zum Eigentum der Universität Cambridge erklärt wurde. Kurz danach wurde alles in acht Kisten verpackt und abtransportiert. Meine Großmutter Olga, Arthur Schnitzlers Witwe, wurde offiziell nach Cambridge eingeladen und konnte so den Nazis entkommen. Aus Dankbarkeit schenkte sie der Universität den gesamten Nachlass, verschwieg jedoch dabei, dass sie gar nicht die rechtmäßige Erbin war und demnach auch nicht darüber verfügen konnte. Auch nachdem die Universität nach Kriegsende über die Umstände dieser Schenkung erfahren hatte, verweigerte sie die Herausgabe an meinen Vater, den rechtmäßigen Erben. Dieses Zerwürfnis zwischen...