E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Schnieder / Tergast Die Herrschaft der Rotzlöffel
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7110-5286-5
Verlag: ecoWing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie wir die Verhältnisse im Kindergarten wieder vom Kopf auf die Füße stellen
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-7110-5286-5
Verlag: ecoWing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Von der Kindergartentante zur Konfliktmanagerin
Picknick, natürlich in Vor-Corona-Zeiten, im Kindergarten »Kunterbunt«. Es ist warm, im Außenbereich ist auf einem der großen Tische ein schön anzuschauendes Buffet mit vielen leckeren Speisen aufgebaut. Von diesem Buffet holen sich die Kinder kleine Portionen Obst und Salat, Frikadellen oder auch Wackelpudding. Als jeder versorgt ist, setzen sich alle in einen Kreis und beginnen zu essen. Alle? Nein, da ist ja noch Lukas. Lukas hat keine Lust auf Essen oder im Kreis sitzen, dafür hat er auf etwas anderes Lust. Lukas nämlich hat Lust, allen anderen den Spaß am Picknick zu verderben. Urplötzlich rennt er um alle Kinder und Erzieher herum, klaubt immer wieder Sand vom Boden auf und beschmeißt in einem irren Tempo die gut gefüllten Teller damit. Sand auf den Frikadellen, Sand im Salat, Sand in Mayonnaise und Ketchup. Sand, Sand, überall. Entsetzte Gesichter der anderen Kinder, einige weinen, kein Essen blieb verschont, sodass 24 Kinder nun mit langen Gesichtern vor ihren sandigen Tellern sitzen. Die Erzieher, die gerade noch das Buffet auffüllten, konnten nur noch verhindern, dass Lukas sich auch diesem noch widmet. Für die Teller der Kinder war es zu spät, da alles in einer Riesengeschwindigkeit ablief. Natürlich war dieser Vorfall nicht der erste seiner Art, sondern lediglich ein kleiner Höhepunkt in der Geschichte von Lukas, die sich in ähnlicher Form über die kompletten drei Kindergartenjahre erstreckt. Alltagsregeln waren für den Jungen in all den Jahren nur Schall und Rauch. Der betreuende Kinderarzt bedachte das Kind von Beginn an mit der Bezeichnung »verhaltensoriginell«, und die häusliche Situation war für die alleinerziehende Mutter schwierig. Natürlich bemühten sich die Erzieher, Lukas gerecht zu werden, mussten dabei aber immer auch die Bedürfnisse der anderen Kinder in der Gruppe im Blick behalten. Zum Glück hatte der Junge nach einiger Zeit engeren Kontakt zu einer der erfahrenen Erzieher bekommen, bezeichnenderweise diejenige, derjenige, der als konsequentester Einrichtung galt. Er war der Einzige, der zu Lukas eine verlässliche Bindung aufbauen konnte, durch die er Authentizität und Orientierung erfuhr. Wann immer es möglich war, suchte er seine Nähe, nahm seine Hand und testete an ihm seine Grenzen aus. Besonders auffällig war dabei der Unterschied zu Lukas’ Mutter. Während diese immer wieder sein Verhalten entschuldigte, übergroßes Verständnis zeigte und Schuld grundsätzlich bei anderen suchte, spiegelte sein Bezugserzieher dem Jungen stets klar und deutlich sein Handeln und damit auch sein Fehlverhalten. Kurz vor dem Sandsturm beim Picknick fiel dieser Erzieher mit einer längeren Krankheit aus. Damit war die Bahn frei für Lukas. Kein Tag verging ohne Vorfall, mal zerstörte er das gesamte Frühstücksbuffet, mal drückte er den Kopf eines anderen Kindes so fest in den Sand und setzte sich anschließend auf den Kopf, dass dieses Kind fast keine Luft mehr bekam. Auf diese Vorfälle angesprochen, fand seine Mutter Entschuldigung um Entschuldigung. Mal war ihr Sohn geärgert worden, mal hatte er schlecht geschlafen, und außerdem fände er einen der Erzieher blöd, weil er nicht nett zu ihm sei. Selbstreflexion und ein Blick auf den angerichteten Schaden? Fehlanzeige. Das Picknick schließlich war der Höhepunkt in Lukas’ »Karriere« im Kindergarten. Nachdem das Kind gebändigt worden war, wurde wieder einmal die Mutter informiert und zum Gespräch einbestellt. Ihre Begründung für das Verhalten ihres Sohnes hat bis heute einen festen Platz unter den Top 10 der erstaunlichsten Elternerklärungen in dieser Kita. Lukas, so erklärte seine Mutter im Brustton der Überzeugung, sei kein Vorwurf zu machen, er habe schließlich nur das Gewitter und den Sturm des Vortages nachgespielt. Das sei ja wohl zu akzeptieren, und überhaupt sei es sehr traurig und frustrierend für ihn, dass seine Erzieher so wenig Verständnis für ihn zeigten. Erzieher – nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Eltern
Lukas ist längst kein Einzelfall mehr, ja, er ist nicht einmal mehr »nur eine Ausnahme«. In der Mehrzahl der Kitas im Land sehen sich Erzieher mit derartigen Vorkommnissen konfrontiert, jeden Tag aufs Neue und unter Rahmenbedingungen, die zur Lösung der Probleme so gut wie gar nichts beitragen. Auf Elternseite haben sich zwei Dinge ganz entscheidend verändert: ihr eigenes Leben und damit auch das Anspruchsdenken in Bezug auf die außerfamiliäre Betreuung ihres Kindes. Elternsein, das bedeutet heute vor allem das, was eine Staubsaugerfirma vor einigen Jahren bereits in einem bekannten Werbespot mit dem Slogan »Ich führe ein sehr erfolgreiches kleines Familienunternehmen« perfekt auf den Punkt gebracht hat. Waren Familie und Berufswelt in früheren Zeiten getrennte Sphären, bei denen erstere durchaus auch die Funktion erfüllte, die Belastungen aus letzterer abzufedern und für Entlastung zu sorgen, so vermischt sich in der modernen Welt alles. Das zeigt sich nicht zuletzt sprachlich an der Gleichsetzung von Familie und Unternehmen, die suggerieren soll, mit perfektem Management ließe sich jede Familie locker wuppen, alles eine Frage von Zeitmanagement, Veränderungsmanagement und nicht zuletzt Personalmanagement. Beim Personalmanagement spielt dann auch eine Rolle, wo das Kind von wann bis wann eingesetzt ist, schließlich gehört es ja zum Personal des Familienunternehmens. Familie ist somit kein Rückzugsort mehr und zwar weder für die Eltern noch für die Kinder. In dem Moment, in dem sie unter das Diktat der Effektivität gestellt wird, verliert sie ihren eigenen Zauber als Ort der Ruhe oder gar des Müßiggangs. Eltern geraten somit unter enormen Druck. Sie können nicht einfach nur für die Kinder da sein, sie begleiten, sondern müssen »performen«, ständig optimieren, sind zuständig nicht nur für das Wohlergehen, sondern auch für den Aufstieg des Nachwuchses und dürfen diesen dafür nicht aus den Augen lassen, auch dann nicht kurioserweise, wenn er für zehn Stunden am Tag in die Betreuungseinrichtung ausgelagert wird. In diesem Fall muss dann eben die Einrichtung kontrolliert, bewertet und gegebenenfalls auch gemaßregelt werden. All das also, was Kita-Leitungen und Erzieher tagtäglich erleben. Die Definition dessen, was Elternsein zu bedeuten hat, ist denjenigen, die Eltern sind, dabei längst entrissen worden. Heerscharen von Wissenschaftlern, Pädagogen und Medienschaffenden versuchen sich täglich aufs Neue an dieser Definition und sorgen somit gerade bei Jungeltern für zunehmende Verwirrung. In der Erziehung und beim Aufwachsen eines Kindes einfach mal dem eigenen Gefühl, der Intuition zu vertrauen, scheint vielfach noch nicht einmal mehr eine Option zu sein. Als Erzieher hilft es, sich diese Entwicklung ab und zu vor Augen zu halten, um zu verstehen, warum das Verhältnis zu Eltern immer häufiger aus dem Ruder läuft und es zu absurden oder gar bedrohlichen Situationen kommt. Vor einigen Jahren erschien im Spiegel eine kleine Polemik, die die Veränderungen ganz gut auf den Punkt brachte. Darin hieß es beispielsweise: »Mütter und Väter betrachten Erzieher nicht mehr als Partner, sondern als Dienstleister. Sie geben morgens mit den Kindern auch ihre Verantwortung ab. Am Abend erwarten sie dann kein fröhliches Kind, sondern einen perfekt abgerichteten Leistungsträger. Ihre Ansprüche sind längst größer als der Schuldenberg, den der Staat aufhäuft für Kitas, Erzieher, Eltern- und Kindergeld. […] Eltern delegieren ihren Erziehungsauftrag, sie wollen ›fertige‹ Kinder abholen, ein Endprodukt, ausgestattet mit Bildung, Benehmen, Werten, also allem, was es zu Hause nicht mehr gibt.« Eine gute Polemik oder Satire erkennt man ja immer daran, dass sie sich trotz aller Überzeichnung extrem nah am Rande des Tatsächlichen befindet. Hier ist das der Fall. Zwar müssen wir uns in unserer täglichen Arbeit ständig Gedanken darüber machen, wie wir mit den Veränderungen auf Kinderseite umgehen. Und doch ist uns bewusst, dass es diese Veränderungen nicht in so hohem Maße geben würde, wenn nicht auf der Elternseite ebenfalls seit Langem einiges schieflaufen würde. Wir diskutieren über die Auswirkungen von Digitalisierung und Reizüberflutung auf Kinder, vergessen dabei aber, dass auch viele Erwachsene und somit auch Eltern mit diesen Dingen nicht zurechtkommen und ein Verhalten entwickeln, unter dem zuallererst auch ihre Kinder zu leiden haben. Der Vater oder die Mutter, die ihren diversen Bildschirmen mehr Aufmerksamkeit widmen als dem eigenen Kind, sind nicht gerade diejenigen, die als Musterbeispiel für gelungenen Bindungsaufbau dienen können. Das beginnt bereits bei jungen Müttern und Vätern, die, auf dem Smartphone lesend, den Kinderwagen durch den Park schieben. Das Kind im Wagen sieht die meiste Zeit nur die Rückseite des Handys und die Hand der Mutter oder des Vaters. Elterliche...