E-Book, Deutsch, 236 Seiten
Schneider Wohin ich immer gehe
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-99027-182-7
Verlag: Jung u. Jung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 236 Seiten
ISBN: 978-3-99027-182-7
Verlag: Jung u. Jung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
geboren 1990 in Nürnberg, studierte Musikwissenschaft und Germanistik in Regensburg, Cremona und Berlin. Ihr erster Roman Drei Kilometer (2019) wurde u.?a. mit dem Hermann-Hesse-Förderpreis und dem Literaturpreis der Stadt Fulda ausgezeichnet.
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1
Johannes hatte einen wiederkehrenden Traum. Er träumte, dass sie ihn im Wasser erschossen. Dass sie ihn trafen, während er untergetaucht war, und er nicht mehr genug Kraft hatte, an die Oberfläche zurückzuschwimmen. In dem Moment, als sich die Kugel in seinen Rücken bohrte, wusste er, dass er sterben würde. Er spürte ein Stechen zwischen den Schulterblättern und bog sich nach hinten. Öffnete den Mund, atmete Wasser ein, dachte, ich sterbe, und wachte auf. Nichts an dem Traum, weder der Schmerz, der danach seltsam wirklich nachhallte, noch das Gefühl, nicht mehr atmen zu können, ängstigte ihn so wie dieser letzte Gedanke, bevor er hochschreckte: Ich sterbe.
Sie hatten ihn nicht erwischt in jener Nacht, in der er die Donau durchquerte. Es war bewölkt gewesen und ein leichter Wind ließ die Büsche am Ufer unablässig rauschen. Johannes starrte auf die dunklen Wellen, die gegen die Felsen schlugen. Nur ab und zu erhellte sie ein Streifen Licht, wenn sich eine durchlässigere Wolke vor die Mondsichel schob. Er fragte sich, was das mit dem Wind zu bedeuten hatte und was die Wellen am Ufer darüber verrieten, wie das Wasser in der Mitte war.
Obwohl es eine milde Nacht war, schlotterte er. Irgendetwas steckte bleischwer am unteren Ende seiner Speiseröhre und wollte, dass er sich zusammenkrümmte und schlief bis in den späten Morgen. Dann hätte er einfach wieder nach Hause fahren können, so als hätte es diese Nacht niemals gegeben.
In den zwei Stunden, die er geduckt im Gebüsch abgewartet hatte, war das Boot vier Mal vorübergefahren. Es blieb ihm also eine knappe halbe Stunde, um auf die gegenüberliegende Seite zu gelangen, bevor die tastenden Lichter, die dem Motorengeräusch vorausgingen, wieder auftauchten. Erst als er den Bootsmotor gehört hatte, war ihm bewusst geworden, wie breit die Donau hier war. Das Knattern war kaum bis zu ihm in sein Versteck gedrungen.
Und doch war es eine der engsten Stellen. Die Felshänge kamen einander hier so nahe, als wären sie es, die die Schiffe am Durchkommen hindern wollten. Dabei war es der Fluss. Johannes hatte nie verstanden, warum der Abschnitt »Eisernes Tor« genannt wurde. Es war doch ein Tor aus Wasser, aus Strömungen und verborgenen Strudeln und in gegensätzliche Richtungen schlagenden Wellen. Es war das Wasser, das die Schiffe gegen die Felsen trieb. Das Wasser war das Tor und dieses Tor war alles andere als eisern. Es war wendig und bewegt und täuschte einem vor, es wäre nach allen Seiten offen. Es war viel schlimmer, als es ein Tor aus Eisen gewesen wäre.
David hatte Johannes einmal gesagt, er müsse besser schwimmen lernen. Als Johannes ihn daraufhin fragte, ob er mehr üben solle, schüttelte David den Kopf.
»Es ist nichts, was man mit mehr Übung lernen kann«, hatte er gesagt. »Es ist so, dass du Angst hast vor dem Wasser. Die müsstest du verlernen. Mit so viel Angst kann man keinen Fluss durchqueren.«
Johannes sah zu, wie das Boot wendete. Die Lichter drehten nach Osten und strichen durch die Dunkelheit, um bald darauf hinter einer leichten Biegung zu verschwinden.
Er erhob sich. Zog Jacke, T-Shirt und Schuhe aus. Die Schnürsenkel fädelte er in die Gürtelschlaufen der Hose und verknotete sie, so fest er konnte. Die Schuhe würden schwer werden im Wasser, aber er würde sie brauchen auf der anderen Seite. Er hoffte, dass er sie brauchen würde. Den Schwimmreifen hatte er bereits aufgeblasen. Es war einer für Kinder, ein Souvenir vom Schwarzen Meer, David hatte ihn ihm gegeben. Es war das Einzige, was Johannes von David besaß.
Er legte sich den Reifen um den Hals. Als er die steile Böschung hinunterstieg, rutschten Steine unter seinen Füßen weg, er verlor das Gleichgewicht. Stützte sich ab und schürfte sich die Handballen auf. Er ignorierte, dass seine Hände brannten, und versuchte, sich zu konzentrieren, in der Hoffnung, die Konzentration würde die Angst verschwinden lassen. Sie dumpfer machen. Es funktionierte nicht.
Einen halben Schritt vom Wasser blieb er sitzen und hielt sich, den Arm nach hinten ausgestreckt, an einem Vorsprung fest. Obwohl ihm die Zeit dafür fehlte, atmete er tief ein und aus und tat, was er sich für diesen Moment vorgenommen hatte: Er dachte an seine Großmutter. Daran, wie sie ein Jahr lang nur gesessen war, wie sie dünner, fahler und unglücklicher geworden war und kein Wort darüber verloren hatte. Still rückte sie dem Tod jeden Tag ein Stück näher. Sie wirkte furchtlos dabei.
Er klemmte sich den Reifen unter den Arm und robbte mit den Füßen voran ins Flussbett. Die Kälte umschloss seine Waden und sein Herz zog sich zusammen. Er richtete sich auf und tastete sich schwankend weiter, prüfte bei jedem Schritt, ob er auf dem nächsten Stein genug Halt finden würde, bevor er auftrat. Als das Wasser gerade tief genug war, ging er in die Hocke. Er stieß sich ab und fing, mit dem Oberkörper auf dem Reifen, an zu schwimmen. Kurz berührten seine Zehen noch die Steine am Grund in Ufernähe, dann trat er ins Leere. Nadelspitz stach die Kälte in seine Muskeln, sodass er befürchtete, sie würden verkrampfen. Doch er zwang sich, gleichmäßige Bewegungen zu machen und dabei möglichst tief zu atmen.
Nach einer Weile wandte Johannes sich um und sah, dass die Böschung bereits erstaunlich weit hinter ihm lag. Es musste eine Strömung geben, die ihn mit sich zog, in die Mitte des Flusses. Der Wind war auch hier draußen zu spüren, doch das Rauschen in den Büschen am Ufer war verstummt. Johannes hörte jetzt nichts als das Plätschern der Wellen und sein angestrengtes Atmen. Müdigkeit überkam ihn. Er wollte sich ausruhen, nur kurz die Augen schließen und sich schaukeln lassen. Er hatte ja den Reifen und das Wasser war ruhiger als erwartet. Es war unmöglich, dass er einschlafen, vom Reifen rutschen und hochschrecken würde, um sich schlagend und ohne Orientierung, das schwarze Wasser nicht zu unterscheiden vom Nachthimmel, sodass er einen Moment lang nicht wüsste, ob er im Himmel oder im Wasser ertränke.
Wie eine Hand packte ihn die Strömung und zog ihn ruckartig nach links, in die Richtung, aus der das Boot kommen würde. Er begann, dagegen anzuschwimmen, und Wasser schlug ihm ins Gesicht. Er presste die Lippen zusammen, doch mit der nächsten Welle drang es ihm in Nase und Augen. Er hustete und spuckte. Bunte Punkte flimmerten in der Dunkelheit. Er hörte auf zu schwimmen, umklammerte den Reifen und rang nach Atem. Gleichzeitig spürte er, dass die Strömung ihn losgelassen hatte. Die flackernden Punkte verblassten. Sein Herz raste. Er musste sich beruhigen, sonst würde er nicht weiterschwimmen können.
Kraftlos ruderte er mit den Armen und drehte sich ein Mal um sich selbst. Der Mond war hinter Wolken und die Lichtreflexionen auf dem Wasser waren ganz verschwunden. In allen Richtungen nichts als Schwärze. Er musste irgendwo in der Mitte des Flusses sein, die beiden Ufer gleich weit entfernt und versunken in Dunkelheit.
Johannes krallte die Finger in den Reifen. Auf einmal bemerkte er das Gewicht der Schuhe an den Hüften und dass seine Füße taub geworden waren. Die Wärme, die er gespürt hatte, als er gegen die Strömung ankämpfte, wich allmählich aus seinen Gliedern.
Ich schaffe es nicht, dachte er. Er dachte es zum ersten Mal. Und obwohl er sich gleich darauf sagte, dass er das nicht denken durfte, begann sich der Satz zu verselbstständigen, nahm im Rhythmus seines Atems, seines Herzschlags Fahrt auf und raste durch sein Hirn, mit einer Lautstärke, als würde Johannes ihn sich selbst ins Ohr sagen. Für einen Augenblick war er sich nicht sicher, ob er nicht wirklich sprach. Ob er den Satz nicht in die Nacht sagte, lauter werdend, stockend, sich wiederholend, wie das Rütteln und Knattern eines Motors.
In einiger Entfernung huschte ein Lichtstrahl über das Wasser. Es folgte ein zweiter, der die Böschung vor ihm beleuchtete. Vielleicht fünfzig Meter entfernt lag das Ufer. Das richtige Ufer. Die Strömung hatte ihn weit bis zur anderen Seite getrieben. Und in die Nähe des Bootes. Bald würden die Lichter ihn streifen.
Er schätzte die Entfernung bis zu den ersten Felsen, hinter denen er sich verstecken konnte. Den Reifen ließ er los. Er wollte Luft holen, doch dann vernahm er einen Ruf in der Ferne. Johannes tauchte unter.
Noch lange hatte er das Rauschen des Wassers im Ohr. Vielleicht würde ihm das Geräusch bleiben, vielleicht würde er es mitnehmen, es vor dem Zubettgehen hören, nach dem Aufwachen, damit es ihn daran erinnerte, dass der Fluss auf seltsame Weise nachsichtig mit ihm gewesen war. Er hatte ihn mit sich gerissen, aber er hatte ihn an das richtige Ufer gebracht. Johannes hatte sich nach der Donau umgesehen, mehrmals, bevor sie ganz von Bäumen und Sträuchern verdeckt gewesen war. Er hatte sich umgeblickt und sich gefragt, womit er dieses Glück verdient hatte. Das Eiserne Tor. Es war ihm zum Lachen zumute. Das Eiserne Tor hatte sich...