E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Schneider Transparenztraum
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-88221-926-5
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Literatur, Politik, Medien und das Unmögliche
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-88221-926-5
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Seit der Antike hadern Priester, Richter, Philosophen, Künstler und Politiker mit der Unzugänglichkeit von Herzen, Seelen oder Gehirnen. Nur zu gerne hätten sie das Geheimnis aus der Welt geschafft. Manfred Schneider erzählt die Geschichte des Traums und Albtraums von der Transparenz in zehn Kapiteln. Sein farbiger und lebendig geschriebener Essay führt von Descartes Philosophentraum über die Französische Revolution, die Sozialutopien des 19. Jahrhunderts, die moderne Glasarchitektur, den Surrealismus, die russische Revolution bis zu Walter Benjamin und vielen prominenten Autoren des 20. Jahrhunderts. Er reicht bis zu den intellektuellen und wissenschaftlichen Absurditäten unserer Tage, allen voran den Neurosciences und ihrem Versprechen, dem Gehirn beim Denken zuzuschauen.
Manfred Schneider, geboren 1944 in Gleiwitz, studierte in Freiburg Germanistik, Romanistik, Philosophie und lehrte in Freiburg, Essen und seit 1999 auf dem Lehrstuhl 'Neugermanistik, Ästhetik und Medien' an der Ruhr-Universität Bochum. Veröff entlichungen u.a.: 'Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert', 'Der Barbar. Endzeitstimmung und Kulturrecycling'. Bei Matthes & Seitz Berlin erschien zuletzt 'Das Attentat'.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Erstes Kapitel:
Was ist der Transparenztraum?
Erfolgsgeschichte eines Wortes
Auch unter Wörtern gibt es Stars. Sie können von Moden auf den Zungen verteilt werden und wie Kaugummi für kurze Zeit süß schmecken. Aber es gibt auch Wörter, die lange gewartet haben, bis sie durch Wohlklang, Bedeutungsfülle und Verwendungshäufigkeit aus dem Verbalgetöse ihrer Zeit aufsteigen und sich unersetzlich machen. Transparenz ist ein solcher Star, der sich als semantischer Global Player gegenwärtig in immer mehr Sprachen niederlässt. Dabei stand das Wort transparentia bereits im Mittelalter der gelehrten Bildung zur Verfügung. Der Kirchenlehrer Albertus Magnus beschrieb Mitte des 13. Jahrhunderts in seinem lateinischen Traktat über die Seele Transparenz als Eigenschaft eines Mediums, das unsichtbar ist und dafür Licht sichtbar machen kann.1 Er führte transparens als Synonym des griechischen diaphanäs ein, denn dieses Wort hatte bereits in der antiken Philosophie Karriere gemacht. Der Neoplatoniker Plotin, griechisch schreibender Meisterdenker des 2. Jahrhunderts in Rom, dachte sich die himmlischen Intelligenzen, die selbst immateriell und durchsichtig sind wie Gott selbst, mit Blicken ausgestattet, die alles durchdringen: »Denn alles ist transparent (d?a?a???), es gibt nichts Schwarzes, nichts das Widerstand leistete; jedes himmlische Wesen ist in Weite und Tiefe lichthell für alle andern.«2 In der scholastischen Philosophenepoche des Albertus Magnus aber teilten sich noch verschiedene lateinische Wörter den semantischen Dienst an der Durchsichtigkeit. Das Lexikon führte die Wörter perlucidus, diaphanus, pervius, perspicuus. Aber transparens sollte siegen. Denn im 15. Jahrhundert entschlüpfte das Wort der exklusiven Gelehrtensprache und wurde im Französischen wie im Englischen heimisch,3 während sich die Deutschen mit dem hübschen Adjektiv durchscheinend zufrieden gaben. Glas, Wasser, Spiegel, Lüfte, Steine, Kleider, Stoffe wollten in Deutschland »durchscheinend«, später auch »durchsichtig« heißen, während diese Dinge im Englischen, Französischen und in anderen romanischen Sprachen auf den neuen Namen »transparent« getauft wurden. Bis dahin also füllte das Wort allenfalls eine Fußnote der europäischen Sprachgeschichte. Und auch in den folgenden Jahrhunderten schrieben es Gelehrte, Dichter und andere Schriftkundige nur gelegentlich in ihre Texte, ohne dass sich aus seiner Semantik etwas Besonderes ankündigte. Heute aber, seit gut 20 Jahren, geht von dem Wort Transparenz ein so einzigartiges Versprechen aus, es scheint sich zwischen seinen Buchstaben ein dichtes messianisches Potenzial angesammelt zu haben, als ob es, einmal und immer wieder ausgesprochen, bereits das vollbrächte, was es sagt, als ob das Wort selbst bereits Mauern, Türen, Schlösser, Siegel und Geheimdienstsicherheiten sprengte. An dem Wort hängt immer noch etwas von den himmlisch-spirituellen Privilegien, die Götter und Engel von der Erdenschwere trennen. Wir brauchen nicht im Einzelnen aufzuzählen, in welche Fachsprachen der neue globale Begriff mit seinen Forderungen und hohen Versprechungen bereits eingedrungen ist: Wirtschaft, Technik, Politik sind im Begriff, sich rhetorisch in lichte Sphären, ja geradezu in immaterielle Scheinwelten zu verwandeln, in denen sich alles zu sehen gibt, was einst dem Auge und der Erkenntnis verschlossen blieb. Man könnte meinen, dass sich die Welt nun so durchsichtig einrichtete, als ob wir alle mit den Blicken der Geisterwesen aufgerüstet wären, die nach der Vorstellung Plotins keine Schalen und Häute mehr kennten. Im Glück der vermeintlichen Diaphaneitäten verwandeln wir uns in Platoniker, die sich nicht mehr um die Sachen kümmern müssen, die den Raum füllen; vor unseren Blicken verdampft alles Herumliegende und Querkommende, das sonst auf fremde Mächte, vor allem auf das Wort und die Schwerkraft hören; wir wollen hindurchblicken durch diese störende Dichte der Welt. Wir sind eine vornehme Elite der Beobachtung, die sich alles, was in den Medien der Fall ist, als ein medienloses Original einbildet. Kein Wunder, dass der Transparenzutopist Julian Assange die Internet-Welt immer noch als protohimmlisches Reich betrachtet und erklärt, dass das »platonische Wesen des Internets (…) durch seine physischen Ursprünge besudelt« wird.4 Die Entscheidungen der Regierungen, die Transaktionen der Banken, die Strategien der Unternehmen, die Pläne der Militärs – alles soll sich bis in kleinste Einzelheiten unserem platonischen Auge offenbaren. Wir wollen die transparent gemachte politische Welt in den Zeitungen, im Fernsehen, auf Internetseiten durchschauen, und möglichst immer tiefer durchschauen. Bitte die Welt in allerhöchster Auflösung! Kein Pixel darf entwischen! Nachdem Freiheit, Frieden, Sicherheit, Wohlstand gewonnen scheinen, schreiben wir Transparenz in die neue Charta der Grundrechte. Die Europäische Union kündigt im Vertrag von Maastricht und in immer neuen Protokollen des Europäischen Rates an, dass die Institutionen der EU »transparenter und bürgernäher« gemacht werden sollen.5 Die Industrie der Berater empfiehlt Politikern und Unternehmern, »Transparenz« im Minutentakt von sich selbst zu fordern. Kein Manager, der seine Strategie nicht auf Transparenz abstellen will. Es zeigt sich, dass »Transparenz« immer nur in Aussicht gestellt werden kann. Transparenz hier und jetzt gibt es nicht. Daher errang eine politische Partei, die Piratenpartei, mit dem Versprechen von Transparenz zeitweise erstaunliche Wählerzustimmung. Die spirituellen Geister des Albertus Magnus kämen alle in den Bundestag. Transparenz steht als heroisches Programm über den Veröffentlichungen von Wiki-Leaks, das sich zur Devise erhoben hat: »Wenn Transparenz verweigert wird, muss Transparenz geschaffen werden«. Transparenz ist der Hauptartikel in den Freiheitsrechten, auf die die community des Internets schwört. Doch auch wer der Internetgemeinschaft nicht angehört, trägt die Bilder der Transparenzverheißung in sich. Wir wollen den Staat, den Geheimdienst, die Diplomatie, die Banken, die Militärpläne, die Privatvermögen in eine allgemeine Lesbarkeit ziehen, und wir wollen alle Geheimnisse, jedes hinter vorgehaltener Hand gesprochene Worte aus unserer akustisch und optisch lichten Welt verbannen, alle Schleier zerreißen, die schattenlose Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Wir werden später sehen, dass im 16. und 17. Jahrhundert eine melancholische Krankheit grassierte, die die Patienten mit der Einbildung heimsuchte, ganz und gar aus Glas zu sein.6 Die glass delusion war zunächst eine Kontaktneurose und später eine Paranoia und Observierungsfurcht.7 Gewiss gab es damals auch Spötter, die diese armen gläsernen Kranken zu Lustspielfiguren herabsetzten und sie dem Gelächter der Theater aussetzten. So grotesk und seltsam die Melancholie jener Zeit heute wirkt, der melancholische Wahnsinn unserer Tage pflegt die Vorstellung, dass die Welt selbst aus Glas sein könnte. Der zeitgenössische Melancholiker und Phantast der Durchsicht erinnert an den Typus, den Michael Balint als Philobaten bezeichnet hat, als einen Neurotiker, der immer wieder, immer tiefer in objektlose Welten und Weiten einzutauchen wünscht, der, von keinem lebendigen oder dinglichen Objekt behindert, immer weiter in die freundliche Leere vorzudringen sucht.8 Der Nerd-Philobat sitzt inzwischen an einem Rechner und bildet sich ein, durch das Dickicht der Umgebung hindurch die platonischen Urbilder der Welt zu betrachten. Wer ihn dabei stört, muss mit heftigen Reaktionen rechnen. Der Transparenzwahn ist ein Medienwahn oder vielmehr der Wahn der Medienlosigkeit. Die elektronische Immaterialisierung unserer privaten, ökonomischen, politischen Umwelten hat dem alten Wort Transparenz diese unglaubliche Karriere ermöglicht. Der Aufstieg verlief zeitgleich mit der rasanten Entwicklung der digitalen Medien. Jetzt ist Transparenz der unsichtbare Star und prominente Sozius aller drahtlosen Weltkontakte, die wir über Rechner, Mobiltelefone, Tabletcomputer, TV-Geräte oder auch neuerdings über Spionage-Medien wie das NSA-Werkzeug Boundless Informant herstellen. Die Flügel, die uns die Wunschmaschine Google verleiht, tragen uns blitzartig in alle Winkel der informierten Welt, den Kosmos selbst eingeschlossen. Nun ist auch der Wahn ein Verhältnis zur Welt, und selbst der skeptische Beobachter erklärt nicht alle wahnhaften Beobachtungen und Deutungen für verrückt. Nicht alle Wünsche, Forderungen, Vorschläge, Programme, die sich des magischen Wortes bedienen, stehen in Frage. Wo immer unter dem Zeichen von Transparenz Kritik an den Masken und Spielen und Übergriffen der Macht geführt wird, ist bisweilen auch Verrat angebracht. Kein Zweifel: Stets muss die Macht verfolgt, bewacht und beim Namen genannt werden. Gegenwärtig aber...