Schneider | Schwarze Tasten | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Schneider Schwarze Tasten

Roman
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8192-5812-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-8192-5812-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Am frühen 8. Mai will das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eine Neonazi-Partei verbieten, die im Begriff ist, in mehreren deutschen Bundesländern die Macht zu ergreifen. Kurz zuvor wird eine der Richterinnen gekidnappt. Die Entführer verlangen, dass das Verbotsurteil nicht verkündet wird. Sonst könne man für das Leben der Richterin nicht garantieren. Die Richterin war am Morgen betäubt aus einer Regionalbahn geschleppt worden. Sie erwacht in einer abgelegenen ehemaligen Schule, wo sie ein an Schlaflosigkeit leidender ehemaliger Seiltänzer und Zirkusartist bewacht. Das Kidnapping ist perfekt geplant. Hinter der Erpressung steckt allem Anschein nach eine weltweit rücksichtslos operierende Private Equity, die immer mehr Länder und Territorien aufkauft und auch deutsche Bundesländer in ihren Besitz bekommen will.

MANFRED SCHNEIDER begann seine literarische Karriere als Zwölfjähriger. Da seine Werke in Schülerzeitschriften wenig Beachtung fanden, studierte er in Freiburg Literaturwissenschaft und Philosophie. Nach der Promotion durchlief er den langen Irrweg eines Assistenten, Privatdozenten und Universitätsprofessors für Literaturwissenschaft und Medien an den Universitäten Freiburg, Essen und Bochum. Er veröffentlichte wissenschaftliche und kulturkritische Bücher über Revolutionäre, Barbaren, Attentäter und über Transparenzträumer. Nach dem Krimi »Die Katze schleicht« (Transit-Verlag 2021) und "Gottsuchmaschine" (BoD 2024) legt er hier seinen dritten Roman vor.
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1. Das Schermesser


„Ausgerechnet heute am 8. Mai“, seufzte sie leise.

Die Morgensonne, die sich aus dem Frühnebel des Rheintals löste, ließ auf der Staubschicht des Abteilfensters ein Hakenkreuz sichtbar werden. Unbekannte Finger hatten es von außen auf die Scheibe der Regionalbahn geschmiert. Darunter den Parteinamen FBD. Durch das Raster der spiegelverkehrten Großbuchstaben im staubigen Glas FBD schien sich die vorbeigleitende Landschaft in die falsche Richtung zu bewegen.

„In Staub mit allen Feinden der Verfassung!“ murmelte sie, und in den Staubpixeln des Fensters spiegelte sich ihr grimmiges Vergnügen an dem frisierten Kleist-Zitat. Der große Dichter war immerhin ihr Urahn! Nur das „von“ hatte Doktor Ulrike Kleist aus ihrem Namen gestrichen. „Die Franzosen kürzten dem Adel den Kopf, ich kürze meinem Namen den adligen Kropf“, erklärte sie das heiter. Wie urzeitlich klingen die aristokratischen Titel! 'Freiherr', 'Graf' oder 'Fürst'. Ihre Hoheit dürfte man allenfalls zum Grundgesetz sagen. Sie unterdrückte den kindlichen Reflex, dem Nazi-Zeichen im Fensterstaub die Zunge zu zeigen. Längst gab es wirksamere Waffen gegen braune Höllengeister. Überdies saß sie im Blickfeld von zwei jüngeren Reisenden, die sie beim Einsteigen unangenehm gemustert hatten.

Daher war heute der 8. Mai der richtige Tag, um im Bundesverfassungsgericht die Neonazi-FBD zu verbieten. Das Grundgesetz, das sie als Hüterin der Verfassung vor Hakenkreuzlern schützte, war auch an einem 8. Mai vom Parlamentarischen Rat verabschiedet worden. Jetzt hatte sie zwei Jahre lang in ihrem Senat für die nötige Mehrheit gestritten. Einen zögerlichen Richter-Kollegen und Familienfreund hatte sie dafür sogar mehrfach bekocht. Erst ihre in Kapernsoße rollenden Königsberger Klopse machten dem Wankelmut unter seinem grauen Haarrasen ein Ende. Es war ähnlich mühsam wie vor 25 Jahren. Damals sträubte sich Immanuel dagegen, ihrer am gleichen Kalendertag geborenen Tochter den Namen Viktoria zu geben. Dem störrischen Vater, der Opernnamen wie Arabella oder Salomé vorschlug, musste sie die Zustimmung mit Champagner abringen. War nicht der 8. Mai 1945 der Tag der Freiheit und des Rechts? Ihr Siegeskind Viktoria saß jetzt im ICE auf dem Weg nach Dresden, wo sie mit Musikfreunden und Genossen ihren 25. Geburtstag feiern wollte. Jeder 8. Mai ein dreifaches Freudenfest! Und von heute an ein vierfaches!

Eigentlich wollte sie auf der Bahnfahrt nach Karlsruhe noch einmal die von ihr entworfene und längst abgestimmte Begründung des Urteils auf sich wirken lassen, ehe sie der Vorsitzende des Senats nachher verlesen würde. Aber sie musste dauernd an Viktoria denken. Am frühen Morgen waren sie beide noch mit ihrem hinkenden berufsunfähigen Spurensicherungshund Adam ein Stück durch den Kurpark von Bad Bergzabern gejoggt. Naja, eigentlich hatten sie sich schneckengleich durch das dämmernde Frühlicht bewegt und dabei den hingebungsvoll singenden Vogelstimmen gelauscht. Ach, ihr dickes, dickes Sorgenkind vom 8. Mai! Und gleich drückten wieder die Tränen. Viktoria hatte nach dem schlimmen Ende ihres Freundes Osei Tutu immer mehr zugenommen. Jetzt versuchte eine Therapeutin, die drohende Adipositas aufzuhalten. Hatte sie als Mutter versagt? Oder ging von dem Sieges-Datum eine falsche Sternenmacht aus? Welch ein Jammer! Ganze Nächte lang übte Viktoria am Flügel, und man konnte beinahe zusehen, wie sie auseinander ging. Dabei spielte sie immer schöner! Es war herzzerreißend, ihren Nachtstücken, Fauré, Rachmaninow, Skrjabin, zu lauschen. Und jedes Mal spielte sie aus Trauer um Osei diese schwarze Chopin-Etüde, so dass dann bisweilen ihr musikalischer Hund Adam erwachte und leise zu klagen begann! Welch ein Kummer strömte dabei aus Viktorias Fingern! Und in jeder tränenvoll durchspielten Nacht verschlang sie diese Süßigkeiten. Unaufhaltsam wucherte ihre Traurigkeit fort.

Das gedämpfte Morgenlicht strich leise Pastellfarben auf die Felder und Rebenhügel, an denen sie vorbeifuhr. Im ferneren Hintergrund zerbröselte ein zarter grauer Wolkenstreif, während der Frühdunst zögernd die Hügellinie des Kraichgaus freigab. Davor drehten sich genießerisch die Flügel der Windräder, als ob sie jedes Kilowatt abschmeckten. Lange gab die Stille nicht auf, bis das schrille Warnsignal der Bahn einen Krähenschwarm aus dem Weinfeld scheuchte. Hoch oben schrieben sie aufgeregt ihre Flugbotschaft an den Himmel. Was wollten sie sagen? Die frühe Sonne und das sanfte Wehen dieses Maimorgens schienen einen heiteren Tag zu versprechen, vorhin hatte noch irgendwo ein Hahn, ein Bruder des gallischen Freiheitsvogels, feierlich den ersten Lichtstreif begrüßt. Aber das Menetekel auf dem staubigen Fenster vor ihr trübte die Helligkeit. Von innen ließ sich die Spur der Nazischmierer ja nicht verwischen.

Und wie die Windräder drehte sich plötzlich vor ihren Augen das Hakenkreuz und löste eine panische Vorstellungsreihe aus. Als hätte sich das fatale Zeichen in das vierflügelige Messer ihres Kenwood-Zerkleinerers verwandelt. Wie ein riesiges Schermesser rotierte es über die Landschaft und durchmähte Obstgärten, Weinberge, Getreidefelder und Blumenwiesen. In ihrer Angstvision wuchsen die Flügelklingen zu blitzend scharfen Rotoren und sensten knirschend eine breite Schneise durch die Pfalz, schredderten in wildem Zickzack Landschaften und Denkmäler, legten erst den Dom von Speyer, dann das Hambacher Schloss in Schutt und Asche, fegten durch den Rheingau, schleiften die Loreley, das Siebengebirge, das Hermann-Denkmal, rotierten und rasierten weiter den Brocken, den Kyffhäuser, die Kaiserpfalz, zermalmten die Naumburger Stifterfiguren und das Goethehaus, legten halb Berlin in Trümmer, sogar das Potsdamer Schloss und rasten über den Spreewald, bis dieser tollgewordene Hakenkreuz-Schredder hinter Stettin kurz die Ostsee aufwühlte und endlich versank. Unterdessen ging über ganz Deutschland eine riesige Staubwolke nieder.

Aber ihre Gedanken rotierten fort! Warum musste Viktoria in dieser Krisenzeit mit ihrem bockigen Anarcho-Zynismus das Volkbegehren der FBD unterstützen! Wie absurd und naiv! Als ginge der globale Kapitalismus durch die Unabhängigkeit von Brandenburg und Sachsen in die Knie! Dabei waren es die Neonazis, die die politische Kampagne eingeleitet hatten. Zwar würden die Stimmen der FBD im Landtag Brandenburgs vorerst nicht reichen, um das Volksbegehren durchzusetzen, aber vermutlich käme es anschließend zum Volksentscheid. Mit Blick auf die gegenwärtige Stimmung musste man damit rechnen, dass der Volksentscheid über den Austritt des Landes Brandenburg aus der Bundesrepublik dort die erforderliche Mehrheit erreichte. Sachsen und Sachsen-Anhalt würden wahrscheinlich folgen.

In Staub mit allen Feinden der Verfassung Brandenburgs! Beinahe hätte sie diesen Kriegsruf laut ausgestoßen. Aber wen wollte sie damit erreichen? Lieber Herr im Himmel, vielleicht das Verfassungsgericht von Brandenburg? Ein Drittel der Richter hatte gutwilliger Populismus ins Amt gebracht. Gerade einmal zwei Juristen waren darunter. Dieser Richterbank könnte man allenfalls einen Kegelklub anvertrauen: Ein Schriftsteller, eine Grundschuldirektorin, ein Eventmanager! Welches göttliche Fünkchen sollte bei ihnen Sachverstand, Wille, Mut entzünden? Wie wollte dieses schwache Häuflein das Volksbegehren abschmettern! Dabei ging es um ihr Brandenburg, um Kleists Brandenburg, um das Brandenburg des großen Michael Kohlhaas mit dem bitter verletzten Rechtsgefühl!

Inzwischen hatte die Regionalbahn Kandel hinter sich gelassen und durchfuhr ein dichtes Waldgebiet. Hier stimmte die Bahn ihr Summen zwei Töne tiefer. Weiter verloren sich im Halbdunkel eines Tunnels auch das Schreckbild und das Nachgeräusch des wirbelnden Kenwood-Hakenkreuzes. Dafür tauchte vor ihrem inneren Auge das Konterfei des FBD-Vorsitzenden Joseph Kaltwasser auf. Diese wasserblauen Augen, diese wie vom Fusel geröteten Backen, dieser Truthahnhals unter dem Jägerschlips! Falschheit und Lügenkunst hatten den Teig dieses Gesichts geknetet. Und die politische Ausdünstung! An allen Tagen der mündlichen Verhandlung über das Partei-Verbot bestand sie darauf, dass der Sitzungssaal nach dem Auftritt Kaltwassers gelüftet wurde. Pech und Schwefel hingen im Raum. Sie hatte zwar nicht das absolute Gehör, dafür aber den absoluten Geruch. Ihre Nase witterte jeden Nazi auf 100 Meter.

Der FBD-Führer Kaltwasser, ein offenbar belesener Mann, hatte zu Beginn der mündlichen Verhandlung die Chuzpe, sie zu fragen, wieso eine Richterin mit dem Namen des großen patriotischen Dichters Heinrich von Kleist eine deutsche Freiheitspartei auf ihre Gesinnung hin prüfte! Daraufhin hatte sie geantwortet, dass ihr Verwandter Ewald von Kleist-Schmenzin im Widerstand gegen den Nazi-Staat sein Leben lassen musste.

„Auch so ein Vaterlandsverräter!“ hatte das Kaltwasser kommentiert, und sie war kurz aus der Fassung geraten. „Schäbiger geht’s nicht mehr!“ hatte sie hörbar gemurmelt. Und der Mann hatte geantwortet: "Wissen Sie, was der große Heinrich von Kleist, ehe ihm solche kleinen Kleists wie Sie folgten, über sein...



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