E-Book, Deutsch, Band 16, 95 Seiten
Reihe: Terra-Utopia
E-Book, Deutsch, Band 16, 95 Seiten
Reihe: Terra-Utopia
ISBN: 978-3-96127-413-0
Verlag: vss-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Wenige Jahre nach dem Ende der Dekonstruktionskriege droht ein neuer Konflikt die Menschheit in den Abgrund zu stürzen.
In ihrer Verzweiflung beschließt die Präsidentin des Dominats das berüchtigte Kommando Omega zu reaktivieren, um das Unausweichliche doch noch abzuwenden.Während sich die Kriegsschiffe beider Seiten auf die Schlacht vorbereiten, stehen die Astrophysikerin Lucia Garcia, der Pilot Liam Larson, die Ärztin Ayo Musa und der Berufssoldat Hal Allister vor der unlösbar scheinenden Aufgabe, die wahre Ursache der Katastrophe zu finden und einen sinnlosen Krieg zu verhindern.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Hawking-Plattform, Solares System, Lagrangepunkt L2
Manchmal vergaß Lucia Garcia, dass der Krieg vorbei war.
Ihre bandagierte Faust traf den Mann an der Schläfe. Ein nachfolgender Haken in die Magengrube ließ ihn wanken. Mit einem Aufschrei trat sie gegen das Jochbein des muskelbepackten Hünen. Die stahlblauen Augen des Getroffenen weiteten sich. Krachend fiel er auf die Knie.
Mit einem Fluch auf den Lippen riss er sich den gepolsterten Kopfschutz ab.
"Verdammt", krächzte er. "Das ist ein Training, verstehst du? Kein beschissener Kampf auf Leben und Tod."
"Schon klar", antwortete die zierlich gebaute Spanierin trocken. Sie wischte sich eine Strähne ihres pechschwarzen Haares aus der schweißnassen Stirn. Mit einem entschuldigenden Lächeln bot sie Liam Larson die Hand an.
Der Schwede packte beherzt zu. Stöhnend erhob er sich. Lucia wusste, dass der vierzigjährige Pilot einiges vertragen konnte. Trotzdem musste sie aufpassen, dass sie es nicht übertrieb. Ihren alten Freund wegen einer Unbeherrschtheit zu vergraulen, würde sie bereuen.
"Revanche?", fragte sie versöhnlich.
Liam strich sich sein schulterlanges Haar nach hinten. Er stemmte seine großen Hände in die Hüften und streckte sich. Von oben herab schaute er sie skeptisch an.
"Sollte ich dir nicht bei der Justierung des Teleskops helfen?", erwiderte er.
Teleskop war der falsche Ausdruck, dachte Lucia. Tatsächlich redete Liam von einer verwirrenden Kombination aus Antennen, Sensoren und Optiken. Die Instrumente konnten buchstäblich bis ans Ende des Universums blicken. Installiert waren sie im Zentrum der Hawking-Plattform. Ein zweihundert Meter durchmessendes Rad drehte sich um diese Nabe. Die Fliehkräfte sorgten für eine erdähnliche Schwerkraft. Nur so war ein jahrelanger Aufenthalt auf der Station möglich.
Lucia war jetzt seit dreizehn Monaten hier oben. Die Erde war eins Komma fünf Millionen Kilometer entfernt. Shuttle-Flüge waren teuer. Sie würde noch mindestens ein weiteres Jahr blieben. Zeit genug, um ihre Suche fortzusetzen. Die Suche nach außerirdischer Intelligenz. Das Universum bestand aus Milliarden Galaxien, jede Galaxie aus Milliarden von Sternen. Es musste einfach Leben außerhalb der Erde geben. Allerdings war Lucia die einzige hier oben, die das glaubte. Die anderen betrieben seriöse Wissenschaft, wie sie es nannten. Für Lucias Arbeit hatten sie nur ein spöttisches Lächeln übrig. Daran war sie gewöhnt.
Als Kind verbrachte sie ihre Zeit mit Büchern und Mathematik. Ihre Altersgenossen tobten lieber über die Sportplätze. Sie wurde blasshäutig und ihr knochiges Gesicht füllte sich mit Pickeln. Aber das war ihr egal. Feldtheorie war deutlich spannender als die Jungs in ihrer Klasse. Ihre wenigen Freundinnen heirateten nach der Schule, gingen ins Ausland.
Sie selbst blieb zuhause und studierte Astrophysik.
Dann kam der Krieg und änderte alles.
Danach bot ihr das Dominat den Job auf der Hawking-Plattform an. Sie schlug ein, ohne nachzudenken. Natürlich war es nicht mehr als eine bezahlte Beschäftigungstherapie für verdienstvolle Veteranen. Aber das war ihr gleichgültig. Hier oben konnte sie suchen.
Und dabei die Konstrukte vergessen.
Lucia schüttelte den Kopf und vertrieb die Erinnerungen.
"Das Teleskop kann warten", erwiderte sie.
Liam zögerte. Umständlich hantierte er mit dem Kopfschutz. Plötzlich ließ er sich fallen. Auf dem Rücken liegend schlug er Lucia die Beine weg. Sie schrie überrascht auf. Schwer fiel sie zu Boden.
"Du dachtest, ich bin träge geworden, oder?", knurrte er und sprang er auf die Füße. "Aber die Tricks habe ich noch drauf. Weißt du noch, als wir mitten in Abu Dhabi in einen Hinterhalt gerieten und nur durch ..."
"Hör mir auf mit den alten Geschichten", unterbrach sie ihn ärgerlich. Mit schmerzverzerrtem Gesicht stand sie auf. "Der Krieg ist vorbei. Ich will nichts hören von irgendwelchen Einsätzen. Wir führen jetzt ein anderes Leben. Oder bist du nicht zufrieden hier oben?"
"Doch schon", nickte Liam. "Ich bin dir dankbar für den Job als Techniker. Piloten werden kaum noch gebraucht. Aber manchmal ..."
"Der Krieg ist vorbei", wiederholte Lucia trotzig.
"Für dich nicht", antwortete Liam.
Mitten im Satz drosch er auf sie ein. Die Spanierin brach wortlos zusammen. Vor ihren Augen blitzte es rot auf.
"Stopp", rief sie und streckte Liam abwehrend die Handfläche entgegen.
"Habe ich dir weh getan?", fragte der Schwede besorgt.
"Quatsch. Das würde dir so gefallen, was?", blaffte sie zurück.
Sie zerrte an ihrem Kopfschutz, unter dem langes Haar hervorquoll.
"Calypso meldet sich", erklärte sie unwirsch. "Dabei weiß er doch, dass er mich nicht stören soll."
Liam nickte verständnisvoll. "Wenn die Arbeit ruft ... ich lass' dich besser allein."
Er griff nach einem Handtuch. Sorgfältig tupfte er sich die Schweißtropfen aus dem Gesicht. Mit federnden Schritten trabte er zum Ausgang.
*
Lucia setzte sich auf den Boden der Trainingshalle. Sie blinzelte zweimal. Die Infolinse auf ihrer Hornhaut reagierte sofort. Das rote Blinken erlosch. Mitten im Raum schwebte das Porträt eines gutaussehenden Mannes in den Zwanzigern. Sie schloss die Augen, um sich zu konzentrieren. Das direkt auf die Netzhaut projizierte Bild sah sie trotzdem.
"Ich bitte um Entschuldigung", begann Calypso verlegen. "Ich weiß, dass ich dich nicht stören darf. Aber die Daten ... Ich kann mich irren, aber vielleicht habe ich etwas gefunden. Ich dachte mir, du solltest es dir anschauen."
Ungeduldig musterte Lucia ihren digitalen Assistenten. Er war eindeutig zu umständlich. Vielleicht konnte ein Update helfen.
"Und?", fragte sie auffordernd.
"CS-17J hat seine ballistische Bahn verlassen", antwortete Calypso lakonisch.
Es dauerte einen Moment, bis sie begriff.
CS-17J war ein interstellares Objekt. Ein Asteroid, der vor Wochen in das Sonnensystem eingedrungen war. Angezogen von der Sonne kam er aus der Unendlichkeit. Er würde zwischen Erde und Mars vorbeiziehen. Nur um so schnell wieder zu verschwinden, wie er gekommen war. Ein Spielball im Auf und Ab der Gravitationsfelder.
Eine Bahnänderung von CS-17J war unmöglich.
Eigentlich.
"Wie groß ist die Abweichung?", fragte Lucia aufgeregt.
"Mehr als tausend Kilometer in der letzten Stunde", antwortete Calypso. "Aber da ist noch etwas."
Vor ihren Augen erschien das Radarbild von CS-17J. Der Asteroid glich einer länglichen Kartoffel. Ungläubig beobachtete sie, wie sich das Objekt um seine Hochachse drehte.
"Die Spitze zeigt seit einer Stunde direkt auf die Erde", erklärte der digitale Assistent.
Lucia schnappte nach Luft. Ein Felsbrocken ohne eigenen Antrieb konnte nicht einfach so seinen Kurs ändern. Geschweige denn sich plötzlich drehen.
Falls er es doch tat, war er kein Felsbrocken.
Sondern ein Raumschiff.
Ein außerirdisches Raumschiff.
Lucia spürte, wie ihr das Blut in den Adern gefror. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. War heute der Tag, auf den sie so lange gewartet hatte? Waren sie da, die fremden Intelligenzen? Wollten sie Kontakt aufnehmen? Was waren ihre Absichten? Gab es eine Möglichkeit, sich mit ihnen zu verständigen?
Erst das Heulen der Alarmsirenen weckte sie aus ihrer Starre.
Fluchend sprang sie auf. Bei Alarm war es ihre Aufgabe, sich in der Zentrale zu melden, um zu helfen.
Falls es noch etwas zu helfen gab.
Sie kappte die Verbindung zu Calypso und spurtete aus der Halle.
Der Gang bog sich nach oben wie in einem riesigen Hamsterrad. Atemlos hastete Lucia an automatisch zuschlagenden Türen vorbei. Die Blitze der Warnleuchten tauchten die stahlgrauen Wände in ein hypnotisches Licht.
Vollalarm.
Es musste etwas geschehen sein, dass die Station in höchste Gefahr brachte. Gab es einen Meteoriteneinschlag? War die Hülle beschädigt worden? Sie hatte keine Erschütterungen bemerkt.
Vor einem massiven Druckschott blieb sie stehen. Mit der flachen Hand schlug sie gegen ein Tastenfeld. Ungeduldig zwängte sie sich durch die aufgleitenden Türhälften.
Die enge Zentrale war mit holographischen Bildschirmen gepflastert. Dreidimensionale Darstellungen schienen im Raum zu schweben. Allerlei technisches Gerät blinkte und summte. Es herrschte hektische Betriebsamkeit. Fünf Besatzungsmitglieder in den Uniformen des Dominats wischten sich durch bunte Anzeigen. Finger drückten virtuelle Tasten, laute Kommandos flogen hin und her.
Nur der Kommandant der Hawking-Plattform, ein graubärtiger Mann in den Sechzigern mit Bauchansatz, stand regungslos wie ein Fels in der Brandung.
"Joshua, was ist los?", rief Lucia laut, um das Stimmengewirr zu übertönen. "Haben wir ein Leck? Stürzen wir ab?"
Der Angesprochene starrte unverwandt auf die Holoschirme.
"Wir haben kein Problem", antwortete er ruhig. "Andere vielleicht schon."
Langsam dreht er sich um und fixierte Lucia.
"Vor einer Stunde brach die Verbindung zur Erde ab", erklärte der Kommandant. "Kein Funk, keine Telemetrie, kein gar nichts. Auf allen Frequenzen herrschte Totenstille, was eigentlich nicht sein kann. "Und jetzt ...", mit der Hand fuhr er sich über das blasse Gesicht, "... funken sie wieder. Wirres Zeug über einen elektromagnetischen Impuls, der alles lahmgelegt hat. Es muss Tote gegeben haben. Wir sollen uns auf einen möglichen Angriff der Union vorbereiten."
"Angriff der Union?", echote Lucia fassungslos. Sie schluckte trocken. "Krieg? Schon wieder?"
Joshua nickte traurig. "Danach sieht es aus", bestätigte er.
Das Schott glitt auf und Liam stürmte herein. Er gehörte im Notfall ebenfalls zur Einsatzreserve. Lucia klärte ihn über die Umstände auf. Die Schultern des ehemaligen Piloten sackten nach unten.
"Was tun wir jetzt?", fragte er tonlos.
"Uns verteidigen", knurrte der Stationskommandant.
"Das will ich sehen", höhnte Liam. "An Bord gibt es noch nicht einmal eine Spatzenschleuder."
Vor Lucias Augen verschwamm die Umgebung. In ihrem Verstand formte sich ein Gedanke. So klar und einleuchtend, als wäre er schon immer da gewesen.
"Was soll das heißen: Elektromagnetischer Impuls?", fragte sie.
"Eine sehr starke Strahlung, auch EMP genannt. Hat wohl auf der Erde alles außer Gefecht gesetzt, was mit Strom läuft. Computer, Elektronik, das ganze Zeug. Braucht man eigentlich eine Atombombe für. Nur das keiner eine Explosion bemerkt hat", erklärte Joshua.
"Und warum soll die Union diesen EMP verursacht haben?", fragte Lucia weiter.
Der Stationskommandant schaute sie verblüfft an.
"Wer soll es denn sonst gewesen sein?"
"CS-17J", brach es aus Lucia hervor. "Der Asteroid hat sich zur Erde gedreht. Als wollte er eine Kanone abfeuern. Ich muss sofort runter. Dort draußen sind Aliens. Der Hohe Rat muss das wissen. Das ist alles ein Missverständnis. Mach' das Shuttle klar. Ich muss ..."
Joshua hob die Hand. "Gar nichts musst du", unterbrach er Lucias Redefluss mit fester Stimme.
"Solange die Situation nicht geklärt ist, verlässt niemand die Station. Dort unten schlagen sie sich vielleicht schon gegenseitig die Köpfe ein. Ich lasse dich nicht ins Ungewisse fliegen. Und Lucia", er schüttelte verständnislos den Kopf, "was soll dieses ständige Gerede über Außerirdische? Kaum zu glauben, dass dich jemand dafür bezahlt. Wir haben jetzt andere Sorgen, denkst du nicht auch?"
"Schau' dir die Daten an. Frag' Calypso, wenn du willst. Sie sind da. Und sie greifen uns an"
"Calypso?" Der Stationskommandant schnaubte verächtlich durch die Nase. "Du vertraust einer Künstlichen Intelligenz? Ausgerechnet du? Die stecken doch alle unter einer Decke. Wenn es nach mir ginge, würde ich diese ..."
"Es ist mir ernst", unterbrach sie ihn verzweifelt. "Gib' mir das Shuttle."
"Nein", donnerte Joshua so laut, dass alle zusammenzuckten.
Lucia verstand, dass sie hier nicht weiterkam. Wortlos drehte sie sich um und verließ die Zentrale. Niemand machte einen Versuch, sie aufzuhalten.
Liam zuckte entschuldigend mit den Schultern. Schweigend trottete er seiner ehemaligen Kameradin hinterher.
Nachdem sich das Schott hinter ihm geschlossen hatte, stellte er Lucia zur Rede.
"Du weißt schon, dass das Meuterei ist?", fragte er vorwurfsvoll. "Im Notfall haben wir in der Zentrale zu sein. Und vor allem keinen Streit anzufangen."
Sie erklärte ihm das seltsame Verhalten von CS-17J. Die Anomalie, die nur so tat, als wäre sie ein harmloser Felsbrocken.
"Verstehst du?", fügte sie hinzu. "Nicht die Union, sondern die Aliens greifen uns an. Wenn ich den Hohen Rat davon überzeugen kann, dann ..."
"Dann was?", fuhr Liam dazwischen. "Wie stellst du dir das vor? Willst du Präsidentin Johnson anrufen und ihr alles erklären? Sie wird sich an dich erinnern. An die überdrehte Kommandeurin, die den Krieg nicht verkraftet hat. An die Verrückte, die jetzt an kleine grüne Männchen glaubt."
"Deshalb muss ich persönlich mit ihr reden", konterte Lucia.
Sie führte Liam den gebogenen Gang entlang bis zu einer Lifttür. Die Astrophysikerin schlug auf eine Taste. Zischend sprang der Zugang zur Kabine auf. Der Aufzug brachte sie nach oben. Die künstliche Anziehungskraft des sich drehenden Rades nahm ab. Nach wenigen Minuten spürten sie die Schwerelosigkeit der zentralen Nabe.
Der Lift hielt an. Lucia wurde es in der engen Kabine übel. Das Gefühl des endlosen Fallens überwältigte sie. Ein paar heftige Atemzüge später beruhigte sich ihr Magen. Liam schien unbeeindruckt zu sein. Die Tür öffnete sich. Routiniert schwebte er in das runde Zentrum der Plattform.
"Joshua wird dich nicht gehen lassen", setzte er die Unterhaltung fort. "Was willst du überhaupt hier? Doch noch nach dem Teleskop schauen?"
Er zeigte auf eine runde Öffnung gegenüber des Aufzugs. Der Wartungstunnel war gerade noch groß genug, um einen Menschen durchzulassen.
Lucia stieß sich ab und folgte Liam. Sie hing jetzt schräg unter ihm in der Luft.
"Ich fliege runter", knurrte sie entschlossen.
"Wie willst du das anstellen?", fragte der Schwede skeptisch.
"Hiermit."
Lucia deutete auf ein neonfarben lackiertes Schott, das über ihren Köpfen hing.
"Die Rettungskapsel."
Liam pfiff durch die Zähne. "Aber du kannst das Ding nicht fliegen. Nicht bis zur Erde."
"Du schon." Sie starrte den Schweden durchdringend an. "Hilfst du mir?"
Ein paar Atemzüge lang verzog Liam keine Miene. Dann breitete sich ein strahlendes Grinsen über sein Gesicht aus.
"Klar doch", erwiderte er gutgelaunt. "Wie damals, als du im Alleingang einen Kopter gekapert hast und dann nicht wusstest, wie du ..."
"Halt den Mund", zischte Lucia.
Entschlossen zog sie an einem feuerroten Hebel mit der Aufschrift Nur im Notfall.