E-Book, Deutsch, 320 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 192 mm
Schnack feuchtes holz
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7013-6308-7
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 320 Seiten, Format (B × H): 125 mm x 192 mm
ISBN: 978-3-7013-6308-7
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Schnack, Sophia Lunra Geboren 1990, lebt und schreibt überwiegend in Wien. Veröffentlichte bislang Lyrik und (lyrische) Prosa u. a. in den 'Manuskripten', in der 'Poesiegalerie', in 'Das Gedicht' oder in den 'Signaturen'. Die Autorin schreibt auf Deutsch und Französisch. Immer wieder sucht sie eine klanglich-atmosphärische Annäherung zwischen den beiden Sprachen. 2022 erhielt sie den rotahorn-Literaturförderpreis. Seit 2023 leitet sie einen Lyrikblog für 'Das Gedicht' (Hg. Anton Leitner).
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
stickige verstrickungen
er ist wie vor dir
wie unter deinen zehen
dieser dunkelgrüne boden des
vorzimmers
er strömt wie vor dir
wie unter deiner nase
sein kalter geruch nach
feuchter mauer
der tisch gleich beim eingang
mit großem feldstecher
schwarz
der bleiche stoff weiter hinten
der durchgesessenen bank
zum schuhe binden vor
verdunkelndem spiegel der
kleine bräunliche kamm die
rote taschenlampe mit
braunem tesaband
rundherum die
zerfallen die
niemand
ersetzt
seit
neunzehnhundertvierundvierzig in der Stadt alles zerbombt. Seitdem durfte man die Taschenlampe nicht ersetzen. Seitdem die Urgroßeltern mit ihren Söhnen, mit den Zwillingen, in das Haus geflüchtet. In das Haus, das thront über dem See. In das Haus, das thront am Waldrand, mit der schon neunzehnhundertvierundvierzig markanten, mit der schon neunzehnhundertvierundvierzig uralten Kastanie. Seit neunzehnhundertfünfundvierzig die Familienwohnung des Urgroßvaters abgebrannt, gerade noch, am allerletzten Kampftag. Seitdem durfte man die Taschenlampe mit dem Tesaband rundherum nicht ersetzen. Seitdem ein Menschenleben nichts mehr war gegen das Leben, das Überleben, über Generationen, dieser Kastanie. Seitdem sie hierher, in den abgelegenen Ort, in dem alle Villen von Juden entleert, gesäubert. Von dem aus weiter transportiert, abtransportiert wurde. Zwischen Gletscherzunge und Habichtskauz.
Angeblich hat der Urgroßvater abgelehnt. Verweigert, als das übliche kam: das übliche Angebot, eine der entrümpelten Villen zu beziehen. Das übliche Angebot, ihre Räume zu arisieren. Zwischen Loser und Sarstein das Gesicht zu wandeln.
Beim Gehen über Wiesenwege deiner Kindheit siehst du es jetzt, dieses erst recht. Also nicht den Gegensatz, sondern dass hier erst recht, in dieser Idylle, die ideale Kulisse für Volkstum und Heimattreue. Dass hier wie gerufen das Brauchtum, missbrauchend gepflegt. Erst recht von der Kraft-durch-Freude-Bewegung. Zunächst noch der Widerstand, der Widerstand eines überlaufenden Fasses. Hitler, aufs Korn genommen. Aufs Korn genommen mit Kostümen aus Krepppapier, mit Hüten aus Rinde, mit hobelschartenen Locken, mit Kochlöffeln und Besen als Waffen. Dann immer schneller das Überrollen, das Überrollen von dörflichen Anzeigen zum Darmbluten, zum Terror in elenden Gassen.
Im Krieg, heißt es, zwischen Dachstein und Loser, färbt sich langsam rosa, im Krieg, heißt es, kann Carneval nicht das Szepter führen.
Angeblich hat der Urgroßvater abgelehnt. Angeblich hat er sich verweigert gegen die Bonzen. Du fragst: hätte man es dir sonst gesagt?
Angeblich nahm er das Haus eines Bauern. Du hast das Bild vor dir. Das Foto in schwarz
weiß
hast das bild vor dir
von der sonnenverbrannten fassade
von ihren verbogenen holz~
brettern
extremen witterungen
exponiert
auf dem gebogenen papier des
fotos
die urgroßmutter mit dem
urgroßvater
sie stehen und winken in
schwarz
weiß
wie nach ihnen der großvater
mit der großmutter
stehen und winken in
farbe
winken mit flatterndem
taschentuch
wenn du eingebogen
mit dem vater
wenn ihr abgefahren
vielleicht ist dieses foto in
schwarz
weiß
geschossen vom großvater
kurz nach dem krieg
als er schon wusste dass
sein bruder
gefallen
gefallen vom dicksten ast der
kastanie
auf dem sie vorm einrücken beide
gesessen angstlos
lachend
Gefallen in Treue ergeben zu Hitler, stand auf dem Brief mit
dem Reichsstempel,
den der Postbote überreichte der Urgroßmutter.
der mutter vorm haus
mit der katze
am arm
Seine Eltern hatten es dem Großvater nicht überbracht. Dem Bruder des Gefallenen nicht gesendet in die amerikanische Gefangenschaft. Erst als der Großvater zurückkam, zum Haus, zur Kastanie, dann seinen Bruder nicht fand
seitdem das schwarz gerahmte
foto
auf dem regal oben im
eck
seitdem die trockene rose langsam
verblassend
vor dem neunzehnjährigen mann
seinen blonden wellen
blauen augen
vor seinem melancholischen blick
den du nicht kanntest
du immer
fixiert
Seit Kurzem spricht sie, die Großmutter, spricht in Fetzen. Immer wieder dieselben Szenen, immer wieder, die sich formen zu klaren Ausschnitten, zu einzelnen, abgehackten, überdeutlichen Bildern. Erzählt, dass nur die Mutter die Zwillinge auseinandergehalten. Die bei Bologna für immer getrennten Brüder. Nur die Mutter kannte die Merkmale, die Muttermale, die den in Ungarn Gefallenen vom Großvater unterschieden. Nur sie kannte die abweichenden Formen, für sie so klar, was für andere unsichtbar. Dass er das nicht verstand, scherzte manchmal der Großvater. Also warum niemand ihn und seinen Bruder auseinandergehalten. Dass er seinen Bruder von hinten erkannt.
Nur die Mutter hatte ertastet, blind, die Konturen des verlorenen Körpers. Dessen Name golden graviert, unter so vielen anderen golden gravierten Namen, in die Tafel der Gefallenen. Der Gefallenen des Ortes, deren Körper anderswo verstummt. Später war die Mutter nie am Soldatengrab in Pécs. Nie am leeren Grab, mit dem falschen Geburtsdatum ihres Sohnes. Sein Sterbedatum, unverrückt. Sein Soldatengrab, dessen Stelle auch der Großvater, suchend, nie gefunden haben wird. Es blieb für die Mutter, den Vater, den Bruder ein substanzloses Erinnern am Grabstein des Friedhofs am See. Nur: in Gedenken an … Nur: ein nie abgeschlossenes scheiden
eines körperlos
ortlos nie
ruhenden
Wo ist mein Bruder?
fragte der Großvater in seine letzten Wochen hinein. Als er seine Kontrolle verloren. In seinen letzten Oktoberwochen, plötzlich, das Sprudeln dieser innigen Liebe. Dieser innigen Liebe zu seinem Bruder, der immer eine Silhouette geblieben. Seinem Bruder galten die letzten Fragen des Großvaters, sein Zurücksteigen in ein verständnisloses Kindsein.
Bloß, dass es ihm noch recht gut ergangen, drüben. Damit meinte der Großvater Amerika, seine Gefangenschaft. Bloß: viel besser als euch hier. Mehr hat er nie erzählt.
Immer wieder in seinen
gesten in seinen
augen die
toten
immer wieder
wie er vor seinen eigenen
händen
erschrak
eine zeit die nicht deine die du
gespürt
aus weitergegebenem
schweigen
abgewürgtem empfinden
übertragenen
trennungen
aus trennungen in die hinein
die großmutter jetzt
bricht
in die hinein sie
immer wieder bricht, dass sie vorbeigegangen mit ihrer Mutter an den Buben im Baum. Dass die beiden so mitten im Krieg vom Ast frech grinsend heruntergeschaut. Dass wenige Jahre später nur mehr der eine, ihr zukünftiger Mann, und dass er nicht mehr am Ast sondern
auf der bank
darunter
gesessen
statt angstlos
lachend
aus leere
starrend
Jetzt bricht sie, erzählt sie immer wieder, die Großmutter, dass sie im Sommer neunzehnhundertneununddreißig das erste Mal hierhergekommen zum See. Mit ihrer Mutter und dem Maler Hans Frank. Dass sie im Haus Nummer 19 gewohnt. Dass sie es geteilt mit Deutschen aus Schweinfurt. Dass unter den vorbeimarschierenden Soldaten die Verehrer ihrer älteren Schwestern. Dass sie sich vorm Stall getroffen. Dass die Großmutter als Jüngste derweil die Schweine gefüttert mit Pletschen.
Du willst es finden dieses Haus Nummer 19. Stapfst durch härter werdenden Schnee, stapfst Abendröte entgegen. Eis überzieht deine Zehen. Wieder: einen Ort, seinen Körper, nicht finden, denkst du. Heimkehren müssen. Trotzdem heimkehren: es Nacht über ihm, seinem Fehlen, werden lassen. Stehst vor der Eingangstür, um deine Schneesohlen abzuklopfen. Deine Augen wandern, nicht mehr suchend. Überfliegen: 19.
Dass es hier war, ausgerechnet hier, also in dieser Veranda, durch die du jetzt gehst. Wie du unbewusst, noch mehr unterbewusst, deine Schritte in die ihren gesetzt. Achtzig Jahre nach der Großmutter, ihrer Mutter und dem Maler Hans Frank. Wie du unbewusst, noch mehr unterbewusst, dieselben Stiegen gewählt. Dieselben Stiegen, um dasselbe Knarren zu hören. Dasselbe Knarren wie sie.
Erzählt, dass sie neunzehnhundertdreiundvierzig verschickt aus der Stadt. Mit ihren Schwestern zu Verwandten nach Gmunden, zum benachbarten See. Zunächst am Kirchplatz Nummer 1, in das kleine Zimmer, in dem sie zu viert geschlafen. Unter dem Esstisch, ineinandergreifend. Dann in der Salzfertigergasse Nummer 3. Dass immer der notwendige Vorrat zu Hause. Der notwendige vorrat an tabletten
für den notfall um schnell zu
sterben
bei bedarf
auf abruf
Dass...




