E-Book, Deutsch, Band 163, 208 Seiten
Reihe: Transfer Bibliothek
Schnabl Meisterwerk
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-99037-128-2
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 163, 208 Seiten
Reihe: Transfer Bibliothek
ISBN: 978-3-99037-128-2
Verlag: Folio
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein ungleiches Liebespaar in einem Land vor dem Zerfall: ein Roman um Wahrheit, Lüge und Selbstbehauptung.
Adam ist ein Literaturprofessor an der Universität Ljubljana, der sich nach einem ersten literarischen Misserfolg vor zwanzig Jahren erneut an einem Roman versucht. Ana ist eine junge ambitionierte Verlagsredakteurin und zugleich Informantin des nationalen Sicherheitsdienstes. Sie erhält Adams Manuskript Das Meisterwerk zur Begutachtung. Im Laufe der gemeinsamen Arbeit am Text stürzen sich die Protagonisten, beide verheiratet, in eine intensive Liebesbeziehung. Während Adam sich in Dissidentenkreisen bewegt und für die Unabhängigkeit Sloweniens brennt, ist Ana hin- und Hergerissen zwischen ihren persönlichen Lebensentwürfen und dem Pakt mit der dunklen Seite des Systems. Schnabls eindringliches Psychogramm spielt vor dem Hintergrund der Katastrophe, auf die Jugoslawien nach Titos Tod zusteuert.
Ana Schnabl, 1985 in Slowenien geboren, ist Schriftstellerin, Journalistin und Literaturkritikerin. Sie beschäftigt sich mit der Frau in der Psychoanalyse. 2014 gewann sie den wichtigsten slowenischen Kurzgeschichtenwettbewerb.
Bei Folio ist 2020 ihr viel beachteter Erzählband Grün wie ich dich liebe grün erschienen.
Weitere Infos & Material
18. September 1985
19. September 1985
11. Oktober 1985
18. Oktober 1985
25. Oktober 1985
15. November 1985
16. November 1985
6. Dezember 1985
2. April 1986
21. April 1986
23. April 1986
25. April 1986
14. Mai 1986
Epilog – 9. Dezember 1996
Anmerkungen
19. September 1985
Sie erwachte vor dem Hellwerden. Wenn sie getrunken hatte, konnte sie wegen des Adrenalinschubs nicht gut schlafen. Sie drehte sich auf die Seite, um die Übelkeit leichter in den Griff zu kriegen. Sie roch Boris’ Erkältung. Wie immer schlief er mit offenem Mund und atmete laut. Wie gewöhnlich hatte er sich mitten in der Nacht unhörbar in ihr Bett geschlichen und sich weich wie eine kleine Schlange an sie geschmiegt. Nie schmiegte er sich an Sergei, immer nur an sie. Obwohl Vater und Sohn im wachen Zustand gut miteinander harmonierten, vermied Boris die Berührung mit seinem Vater. Vielleicht war es das übliche Unbehagen eines Jungen, eine Art Verlegenheit neben dem größeren, breiteren und ausgeprägt männlichen Körper, aber oft dachte sie, dass Boris, ebenso wie sie, vor ihrer Ähnlichkeit erschrocken sein könnte. In der Regel sind Kinder das Echo der kindlichen Versionen ihrer Eltern, aber Boris war schon mit sieben Jahren eine kleine Ausgabe des erwachsenen Sergei: dunkles struppiges Haar, das sich weder kämmen noch formen ließ, hellblaue, für Momente erschreckend kalte Augen, eine scharfe Kurve zwischen Nase und Oberlippe, eckige Schultern, die den ansonsten durchschnittlich großen, aber kräftigen Körper größer erscheinen ließen. Boris hatte sogar Sergeis Gang geerbt, zusammen mit allen schrulligen Details. Mit dem komischen Schaukeln, wenn er es eilig hatte, und dem ungelenken Schlurfen, wenn er Sandalen tragen musste. Vermutlich, dachte sie, weckt übergroße Nähe bei Boris kein Vertrauen. Obwohl noch ein Kind, wollte er doch ein Original sein. Sie war überzeugt davon, dass Sergei solche Zweifel nicht hegte, dass er nicht darüber nachdachte, aber wenn es ihn doch einmal überkam, konnte seine Interpretation eigentlich nicht so düster ausfallen. Auch sie selbst überließ sich ihnen nur deshalb, um die wahren Ursachen ihrer Angst zurückzudrängen. Es war nicht nur der Geburtstagsalkohol, der in ihrem Magen revoltierte und hinter den Augen an ihr nagte. Sie lehnte sich an das Kopfende ihres Betts. Die kleine Schlange, noch immer im Schlaf, rührte sich und legte den Kopf in ihren Schoß. Der Kontrast zwischen der Wärme, die in ihren Körper strahlte, und der Berechenbarkeit, die ihren Tag ausmachen würde, machte sie, die morgendlich Verwundbare, betroffen. „Ana, was ist los?“ Sergeis Stimme war verschlafen kratzig, aber er setzte sich im Bett auf wie zum Appell. „Oh, du bist schon auf. Das ist aber nicht deine Art.“ Sie bemühte sich, geistreich zu sein. Sie bemühte sich immer, geistreich zu sein; je schlimmer es war, desto überdrehter wurden ihre Scherze. Mit Humor, ob laut oder flüchtig, mauerte sie die Räume zwischen sich und den anderen mit so vielen Schichten zu, dass man ihr nicht nahekommen konnte. Aber Sergei, der schon eine Reihe von Jahren zu ihr durchdrang, ließ sich nicht täuschen. „Ana, du weinst ja gleich. Was ist?“ Vorsichtig reckte er sich über Boris hinweg und streichelte ihren Oberschenkel. Sein Arm spannte sich wie ein Bogen. Die flüchtige Berührung genügte, um die erste Träne ihre Wange benetzen zu lassen. „Ich möchte da raus.“ Die leisen Worte sagte sie in ihre Hände, die neue Tränen zurückzudrängen versuchten. „Ich habe mich ganz schrecklich in etwas verstrickt, und das will ich nicht mehr. Es ist nicht recht. Es war nie recht.“ Das Schluchzen der Mutter hatte Boris geweckt, der sich jetzt zwischen seinen Eltern aufrichtete und seine Augen rieb. Ihre Anspannung spürte er nicht. Fremde Belastungen spürte er nie, seine Konzentration galt nicht anderen Menschen. Er wird zu einem kapriziösen und herrschsüchtigen Menschen heranwachsen, dachte sie oft. „Muss ich schon in die Schule, Mama?“ „Ja, du Siebenschläfer, das musst du.“ Sie streifte die Uhr auf dem Nachttisch mit einem Blick, um dem ihres Sohnes auszuweichen. Sie wollte nicht, dass er schon so früh ihr von Sorgen gequältes Gesicht sah, obwohl es ihn vielleicht nicht beunruhigt hätte. „Geh dich waschen und pack deine Tasche, ich komme gleich nach und mache dir das Frühstück.“ Der Junge schälte sich gelenkig aus der Decke, nicht mehr als Schlange, sondern wie ein Fuchs. Er rannte ins Badezimmer, und sofort, als er die Tür unbekümmert hinter sich zuknallte, wurde die Luft scharf und schwer. „Dissoziation des Subjekts“, sie lächelte. Damit hatte sie angekündigt, dass sich ein paar Augenblicke später Sergei mit seinem gesunden Menschenverstand zu Wort melden würde, der die Verantwortung für das eigene Handeln über alle für ihn leeren und vergänglichen Gefühle stellte. Sergei, der, mit Schwäche konfrontiert, zu Stein werden konnte, mitunter ein harter Verfechter des Rechts des Stärkeren, Sergei, eine Explosion aus Ehrgeiz und Kraft. Einen solchen Sergei wollte sie niederzwingen, bevor er sich auswuchs, damit er endlich verstand, dass sein Theoretisieren darüber, was zu tun sei, keinerlei Trost verschafft. Sie setzte zu einem neuen schwarzhumorigen Kommentar an, aber – „Komm zu mir.“ Sie glitt auf seine Brust. Zwischen den Haaren roch es vor abgestandenem Schweiß nach Petroleum. Sie fragte sich, warum er gerade an diesem wolkenverhangenen Morgen von seiner Art abgewichen war: Hatte er das Ausmaß ihrer Verzweiflung gespürt? Hatte ihn ihr Geburtstag sentimental gemacht? Fühlte er sich ebenso? Selbst wenn es so wäre, würde er es nie zugeben. „Schau, wir wissen beide, dass der Staat schwächelt. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann er zerfällt. Es wird nicht mehr lange dauern, das verspreche ich dir.“ Mit einer ungewohnten Geste glitt er mit den Fingerkuppen über ihr Gesicht, von der Stirn über die Augenlider zu den Lippen und zum Kinn. Das war seine besondere Zärtlichkeit, ungeschickt, aber ehrlich, die er ihr gewöhnlich in freudiger Stimmung erwies. Es störte sie, mit dem Kopf rutschte sie etwas tiefer, auf seinen Bauch, sodass er sie mit der Hand nicht mehr erreichte. „Aber was wird dann mit uns? Sie werden uns ja nicht einfach vergessen. Wir sind doch –“, sie brach in Tränen aus und verschluckte das Wort, das sie vor Jahren in ihren Zangengriff genommen hatte und sie seitdem stetig, zuerst leise, dann immer lauter, zermalmte. Mochte sie es auch noch so grob hinunterschlucken, das Wort blieb unwiderruflich. Sergei kam bei jedem heftigen Aufbäumen auch selbst ins Schwanken. Mann und Frau warteten, eng umfangen, symbiotisch darauf, dass der Keil des Sich-bewusst-Werdens nachgab. Ungeheuer war dieses Wort. Wir sind doch, ich bin doch ein Ungeheuer, hatte sie sagen wollen. In ihrer Verbitterung stand sie auf und trat ans Fenster, um die Vorhänge aufzuziehen. Draußen spross ein ebensolcher Morgen heran, wie es der vor acht Jahren gewesen war. Der Himmel war azurblau, die Folge des lang anhaltenden Regens, nirgends auch nur die Andeutung einer Wolke, kein Anzeichen von Verdunkelung, nur die Herrlichkeit der Hoffnung. Was für eine scheißperfekte Ironie. Oder auch nicht, dachte sie, denn damals hatte sie sich ein genau solch klares, herrliches Leben versprochen. Damals war Sonntag gewesen, und ihre Eltern hatten ihr zu Hause, wie jedes Jahr, ein Geburtstagsessen ausgerichtet. Die Tradition hatte mit den Jahren neue Züge angenommen, die mit Kerzen geschmückte Geburtstagstorte war vom Champagner abgelöst worden, das strenge Rauchverbot war gelockert und zu einem geduckten und unbequemen Paffen unter dem Dunstabzug geworden, seit den Teenagerpartys galt die Einladung auch für Anas augenblickliche Freunde, wie Papa und Mama sie diskret nannten. Zum Mittagessen luden sie gelegentlich auch diese oder jene Persönlichkeit aus dem Bund der Kommunisten Sloweniens ein, in dem sie Mitglieder waren; nicht, weil sie ihre Tochter zum Eintritt in die Partei bewegen wollten, an die zu glauben der Jugend schwerfiel, sondern weil sie schamlos pragmatisch dachten – wie es, das konnte man bedauern oder nicht, alle wirklich erwachsenen Menschen taten. Auch soziales Kapital kann zu einer höheren Lebensqualität beitragen, mehr noch, zu Beginn eines Berufswegs ist es unabdingbar, meinten sie. Und natürlich irrten sie sich nicht. Vielleicht hätte ihr fünfundzwanzigster Geburtstag, der vor acht Jahren, einen anderen Epilog bekommen – oder wäre, wie die meisten Menschentage, ohne einen solchen geblieben –, wenn Sergei dabei gewesen wäre, überlegte sie, an den Fensterrahmen gelehnt. Aber ihr Freund war krank geworden und hatte sie klarerweise allein gelassen: sie, die Naive, Heftige, Gierige und Ungeduldige. Wütend sah sie zu ihrem Mann, der hinter ihrem Rücken in den Schlaf zurückgeglitten war. Sie hätte die Schuld wenigstens für einen Moment gern auf ihn abgewälzt, wenigstens für einen Moment geglaubt, dass auch ein anderer dich vor dir selbst schützen kann. Diese wohltuende Illusion wollte ihr nicht gelingen, und das Gefühl isolierter...