Schmitz | Die spinnen, die Finnen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

Schmitz Die spinnen, die Finnen

Mein Leben im hohen Norden
11001. Auflage 2011
ISBN: 978-3-548-92041-2
Verlag: Ullstein-Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Mein Leben im hohen Norden

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

ISBN: 978-3-548-92041-2
Verlag: Ullstein-Taschenbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Niemand kann so gut schweigen wie die Finnen. Niemand kann mehr trinken. Niemand hat schrägere Metal-Bands. Und niemand sonst erträgt so viel Kälte und Dunkelheit. Ausgerechnet nach Finnland hat es die rheinische Frohnatur Hermann verschlagen. Selbst nach vielen Jahren ist er dort noch immer nicht richtig angekommen, obwohl er inzwischen eine finnische Frau und zwei Kinder hat. Doch nun macht er Nägel mit Köpfen: In einem Sieben-Punkte-Programm will er endlich zum echten Finnen werden.

Dieter Hermann Schmitz, Jahrgang 1963, ist verheiratet und zweifacher Vater. Seit vielen Jahren lebt er mit seiner finnischen Frau und den Kindern bei Tampere in Südfinnland. Dort unterrichtet er Übersetzungswissenschaft an der Universität.
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Das Zwitterwesen

Es ist, als wäre nichts geschehen. Ein ganz normaler Alltag. Wir sitzen beim Frühstück. Die Kinder müssen bald zur Schule, meine Frau und ich zur Arbeit. Ich bin also kein Elch, ich habe nur schlecht geträumt.

Meine Frau Eila ist der lebende Grund, warum ich in Finnland bin. Ihretwegen genieße ich subpolare Winter und helle Sommernächte. Obwohl sie selbst hervorragend Deutsch spricht, habe ich nur ihretwegen vor vielen Jahren damit begonnen, Finnisch zu lernen. Ihretwegen trage ich im Herbst ein Paar Gummistiefel von Nokia, esse Roggenbrot statt weißer Brötchen und trinke am 1. Mai zwei Glas Sima, was in etwa schmeckt wie ein Kölsch vom Vorjahr, mit Zucker gesüßt und mit Kohlensäure versetzt. Meine Frau ist humorvoll, offenherzig und wunderschön. Selbst morgens beim Aufwachen! Sie und ich streiten nur selten. Und wenn, gehen mir oft schnell die Argumente aus. Zum Glück kann ich dann meine Geheimwaffen hervorzaubern: zwei Bemerkungen, mit denen ich sie in null Komma nichts in Wut versetzen kann. Die eine ist die lapidare Aussage: »Du wirst wie deine Mutter!« Jede finnische Frau gerät bei diesem Satz in Rage. Es kommt unweigerlich zu einem Gau, der nach einer Phase der Überhitzung in tiefe Zerknirschung übergeht und zum Überdenken der eigenen Position führt. Warum die Androhung, wie die eigene Mutter zu werden, bei finnischen Frauen Angst und Schrecken auslöst, ist mir unerklärlich. Ich für mein Teil schätze meine Schwiegermutter. Sie kann tollen Schokoladenkuchen backen.

Die zweite Bemerkung verwende ich nur, wenn wir uns auf Finnisch streiten und mir die Worte ausgehen. Dann sage ich: »Warum kannst du keine Schwedin sein? Dann hätte ich deine Sprache schon nach sechs Monaten gelernt.« In der Tat ist das Schwedische – böse ausgedrückt – nur ein Deutsch zweiter Klasse. Und wenn man wie ich auch noch rheinisches Platt spricht und über Englischkenntnisse verfügt, lässt sich Schwedisch wahrscheinlich im Spaziergang lernen. Finnisch dagegen ist eine echte Herausforderung. Eine Lebensaufgabe. Das kann jeder Finnland-Tourist beim Gang in den Supermarkt leicht feststellen. Die meisten werden schon überfordert sein, wenn sie vor einem Kühlregal stehen und eine Getränketüte in der Hand halten mit der Aufschrift rasvaton maito. Aber sobald ihr Blick auf das Kleingedruckte fällt – und das ist hier immer das Schwedische –, naht die Rettung, denn fettfri mjölk lässt sich ohne Fremdsprachenkenntnisse leicht in »fettfreie Milch« übersetzen. Oder greifen wir nach einer Flasche mit bläulichem Reinigungsmittel. Welcher nicht Finnisch sprechende Deutsche kann schon mit der Aufschrift lasin- ja ikkunanpuhdistusaine etwas anfangen? Auf Schwedisch schlicht: glas- och fönsterspray. Alles klar! Ein kleines Döschen mit dem Etikett leivinjauhe bereitet Verständnisprobleme? Auf Schwedisch: bakpulver. Nichts ist einfacher!

Immer wenn ich bei einer Auseinandersetzung die Schwedinnen-Karte ziehe, treibt das meine Frau regelmäßig zur Weißglut. Denn keine finnische Frau will eine Schwedin sein. Selbst dann nicht, wenn sie ABBA hört oder sich für das schwedische Königshaus interessiert. Man hat ja seinen Stolz! Aber wie gesagt: Glücklicherweise streiten Eila und ich höchst selten.

Unsere Kinder, ein gemischtes Doppel, Mädchen/Junge, streiten jedenfalls öfter, sowohl miteinander als auch mit uns, aber alles andere wäre wahrscheinlich besorgniserregend. Die Ältere ist Senja Anna Marlene und stolze dreizehn Jahre alt. Wie in Finnland üblich, hat sie bei ihrer Taufe mehr als einen Vornamen abbekommen. Wäre ich ein Müller im Märchen, würde ich von ihr behaupten, dass sie Stroh zu Gold spinnen kann. Oder wäre ich ein Hahn, würde ich bei ihrem Erscheinen krähen: »Kikeriki, unsere goldene Jungfrau ist wieder hie’!« Leider ist sie mittlerweile längst über das Alter hinaus, dass sie an den Osterhasen glaubt. Und um bei Märchen zu bleiben: Demnächst werde ich ihr, wie die gute Fee bei Aschenputtel, sagen müssen: »Bis zwölf Uhr musst du zu Hause sein!« Sonst ist der Zauber vorbei.

Märchen der Brüder Grimm haben übrigens in der Erziehung unserer Kinder eine große Rolle gespielt. Als Auslandsdeutscher empfinde ich die Wahrung des eigenen Kulturguts als wichtige Aufgabe. Deshalb wollte ich, dass unsere Kinder die verschiedensten Märchen, Mythen und Legenden aus deutschen Landen kennenlernen. So sind sie groß geworden mit Till Eulenspiegel, dem Froschkönig, Winnetou und Räuber Hotzenplotz. Und unser Sohn kann Gags von Helge Schneider passagenweise rezitieren (»Mein Herz weitete sich zu einem saftigen Steak.«). Er heißt Benni und ist der Jüngste der Familie. Sein vollständiger Vorname lautet Benni Antti Wolfgang. »Antti« hat im finnischen Zweig unserer Familie eine lange Tradition. Großvater, Urgroßvater, Onkel, Vettern und viele andere Verwandte tragen ihn als Ruf- oder Zweitnamen, und er geht zurück auf Isontalon Antti, einem Raufbold und Raubein aus Österbotten, der es als Messerstecher mit rebellischem Blut im vorletzten Jahrhundert zu zweifelhaftem Ruhm brachte. Er wird bis heute in Volksliedern besungen und ist zu einer Art finnischem Robin Hood verklärt worden. Sein Leben hat man sogar verfilmt, und in einigen Gemeinden Österbottens wird er für touristische Werbezwecke benutzt.

Vom Rebellenblut hat unser Sohnemann auch einiges geerbt. Vor allem, wenn er sich über seine Mathe-Hausaufgaben ärgert und seine Schulhefte in die Ecke pfeffert. Er kann tolle Comics und Bildergeschichten zeichnen und ist begeistert von Haien, Dinosauriern und sonstigem Ungetier. Aber Mathematik ist ihm ein Greuel. Er hat zwei Schuljahre damit verbracht, zu lernen, dass man auf Deutsch sieben-und-sechzig sagt, während es auf Finnisch wörtlich sechzig-und-sieben heißt.

Seit er laufen und sprechen kann, haben schon die verschiedensten Phänomene phasenweise sein Leben dominiert. Vor Zeiten war er etwa fasziniert von Piraten. In der Zeit mussten wir stets damit rechnen, dass er mit Schlapphut, Augenklappe und Säbel bewaffnet in die Küche kam und Essen verlangte – im Tonfall eines Kapitäns, der uns bei Nichtbefolgung über die Planke schickt.

Momentan ist Benni im Grusel-Rausch: Er hat sich in der Stadtbücherei ein paar Bücher über unerklärliche Phänomene ausgeliehen, über Fabelwesen und Fantasy. Er kennt von Sphinx bis Greif, Elf und Vampir alles, was die menschliche Phantasie und der Aberglaube an Ausgeburten hervorgebracht haben.

Während meine Frau und ich beim Frühstücken einen Blick in die Tageszeitung werfen und Senja durch ein Modemagazin sieht, blättert Benni in einem Buch über Feen, Trolle und Poltergeister.

»Ich hatte letzte Nacht einen seltsamen Traum«, setze ich an und beiße von meinem kernig-gesunden Roggenbrot ab. »Lass hören!«, sagt Senja und schiebt ihr Mode-und-Beauty-Magazin zur Seite. »Na erzähl«, sagt auch meine Frau aufmunternd, obwohl ich bemerke, dass sie kaum aufschaut und in einem Artikel weiterliest, der davon berichtet, wie eine alte Oma sich aus ihrer brennenden Holzhütte befreien konnte. Sie mag solche Artikel über menschliche Schicksale. Artikel wie »Treuer Hund rettet alte Oma«, »Opa im Eis eingebrochen und seither spurlos verschwunden«, »Schamane in Lappland verkauft Schamhaare an Esoterik-Touristen«. In Finnland ist was los, die Zeitungen sind voll davon.

Auch unser Benni spitzt bei meiner Bemerkung mit dem Traum die Ohren und grinst. Das ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass er zuhört, obwohl er ungeniert weiter in seinem Buch über norwegische Trolle schmökert. Ich nehm’s ihm nicht übel, denn er ist der Einzige in unserer Familie, der zugleich lesen und zuhören kann.

»Also ich hab geträumt, ich säße in der Sauna …«

Meine Frau legt die Zeitung beiseite. Sie ist Finnin. Ein Traum über die Sauna ist ernst zu nehmen.

»Und?«, fragt sie.

»Na ja, anfangs war alles wunderbar: schön warm, es war ruhig, ich war ganz entspannt. Dann habe ich einen Aufguss gemacht, und plötzlich sind mir überall Haare gewachsen.« Meine Frau und meine Tochter werfen sich einen kumpelhaften, geradezu geheimbündlerischen Blick zu und grinsen sich an. »Und dann?«, fragen sie amüsiert.

»Dann ist mir auch ein Geweih gewachsen, und es war irgendwie – grauenhaft. Ich bin zum Elch geworden.«

Das habe ich kaum ausgesprochen, da gibt es schon allseits kein Halten mehr: Meine Frau lacht und schüttelt ihre langen blonden Haare, meine Tochter lacht und sieht aus wie ein Teenager, der sich fragt: Wie doof ist das denn?!, und ich selber lache auch, denn einen schwachsinnigeren Traum habe ich nie gehabt. Nur Benni lacht nicht. Seine Augen blitzen hellwach. Und gespannt fragt er mich: »Bist du dann hinausgerannt und hast den Mond angeheult?«

»Nein, nicht den Mond, aber das Polarlicht!«

Aufgeregt beginnt er, in seinem Buch zu blättern. »Hier!«, ruft er, springt auf und kommt mit dem Buch zu mir herüber. Er hat die Seite mit den Werwölfen aufgeschlagen. »Du bist ein Zwitterwesen, halb Mensch, halb Tier. Nur bist du kein Werwolf, sondern ein Wer-Elch!«

Ich wusste es: Benni ist ein...


Schmitz, Dieter Hermann
Dieter Hermann Schmitz, Jahrgang 1963, ist verheiratet und zweifacher Vater. Seit vielen Jahren lebt er mit seiner finnischen Frau und den Kindern bei Tampere in Südfinnland. Dort unterrichtet er Übersetzungswissenschaft an der Universität.

Dieter Hermann Schmitz, Jahrgang 1963, ist verheiratet und zweifacher Vater. Seit vielen Jahren lebt er mit seiner finnischen Frau und den Kindern bei Tampere in Südfinnland. Dort unterrichtet er Übersetzungswissenschaft an der Universität.



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